Politische Ethik in der Trump-Ära

Wenn das Postfaktische faktisch wird

Zeitungen mit Titeln zur US-Wahl und dem Sieg von Donald Trump
Zeitungen mit Titeln zur US-Wahl und dem Sieg von Donald Trump © picture alliance / dpa / Oliver Berg
Von Arnd Pollmann |
"Ich wage zu behaupten", schreibt Machiavelli, "dass es sehr nachteilig ist, stets redlich zu sein". Die Strategie zu lügen, wenn es der eigenen Macht dient, findet sich in der derzeit viel beschworenen Diagnose der "Postfaktizität" wieder: "Gefühlte" Wahrheiten ersetzen faktenorientierte Politik.
In jener Nacht, als Trumps Wahlsieg ein weltpolitisches Erdbeben auslöste, schlug die Stunde der medialen Seismografen: Was genau war da eigentlich geschehen? Dass dies noch kaum jemand begriffen hatte, zeigte sich, als in den vermeintlichen Expertenrunden umgehend die Frage aufkam, ob der neue Präsident auch tatsächlich seine Wahlversprechen halten werde.
Just in dem Moment hätte man da gern einen frühen Spindoktor ins Spiel gebracht, der bereits im Jahre 1513 Folgendes ins Stammbuch der politischen Eliten schrieb: "Ein kluger Fürst kann und darf daher sein Wort nicht halten, wenn dessen Erfüllung sich gegen ihn selbst kehren würde. Ich wage zu behaupten", so Machiavelli, "dass es sehr nachteilig ist, stets redlich zu sein".
Dieses politische Klugheitsgebot – zu lügen, bis sich die Balken biegen, solange es dem eigenen Machterhalt dient – findet ein Echo in der derzeit viel beschworenen Diagnose der "Postfaktizität": An die Stelle faktenorientierter Politik soll das Bedürfnis nach "gefühlten" Wahrheiten getreten sein; wobei oft übersehen wird, dass diese gefühlten Wahrheiten nicht immer nur jene sind, die man glauben will. Viel wirksamer noch sind albtraumhafte Wahrheiten, vor denen wir uns fürchten. Nehmen wir an, die prekäre Lebenslage des Durchschnittsamerikaners fühle sich tatsächlich so an, als läge die Arbeitslosigkeit gesellschaftlich bei 40 Prozent: Die Nennung der echten Arbeitslosenquote von unter fünf Prozent mutet dann selbst wie eine Unwahrheit an.

Das Lügner-Paradox

Nun ist das Postfaktische auf paradoxe Weise selbst zum Faktum geworden. Und es entbehrt nicht der Ironie, dass der designierte Präsident seine Gegnerin im Wahlkampf unentwegt "Crooked Hillary" - die verlogene Hillary - nannte. Damit stellt Trump nicht zuletzt auch eine philosophische Herausforderung nach dem Vorbild des berühmten Lügner-Paradox dar: "Epimenides der Kreter sagte: Alle Kreter sind Lügner". Nun aber war es Trump, der Lügner, der unentwegt behauptete, seine Gegnerin sei eine Lügnerin. Damit müsste Hilary Clinton aus zwingend logischen Gründen eine wahrhaftige, authentische Person sein – was natürlich auch sogenannter Bullshit ist.
Aus Sicht der politischen Ethik ist jedoch eine ganz andere Frage bedeutsam: Wie kommt es eigentlich, dass der Vorwurf der Verlogenheit im Fall von Clinton tatsächlich verfing, während Trumps eigene Unwahrhaftigkeit ihm überhaupt nichts anhaben konnte? Im Gegenteil! Auf einer Kundgebung hatte Trump seinen Fans zugerufen: "Ich werde euch niemals belügen. Ich werde euch nie etwas sagen, woran ich nicht glaube." Und mit jedem Nonsens, den er verzapfte, fanden sie ihn nur umso sympathischer und jedenfalls sehr viel authentischer als seine Gegnerin.
Daraus lässt sich eine erste ethische Lehre ziehen: Eine Person kann authentisch sein, obwohl sie zugleich und unentwegt faktenwidrigen Unsinn daherredet. Sie muss nur selbst daran glauben. Der Psychiater Ronald D. Laing berichtete einst von einem Patienten, der im Rahmen einer klinischen Behandlung auf die Frage, ob er Napoleon sei, wahrheitsgemäß mit "Nein" antwortete. Doch der angeschlossene Lügendetektor zeigte an, dass er log. Derart authentische Lügner besitzen die wichtigste Gabe eines machiavellistischen Fürsten: "Ich wage zu behaupten", sagt Machiavelli, "dass es sehr nachteilig ist, stets redlich zu sein", und er fährt fort - "aber redlich zu scheinen, ist sehr nützlich".

Authentische Ambivalenz

So darf das Volk eine politische Authentizitätsvorstellung genießen, die das zunehmend verachtete Establishment regelmäßig vermissen lässt. Zugleich kommt die Performance der Überzeugung vieler Wählerinnen und Wähler entgegen, dass es so, wie bisher, einfach nicht weitergehen kann – ohne dass man jedoch ernsthaft befürchten müsste, auch das eigene Leben ändern zu müssen. Dies bringt die politisch Ethik zu einer zweiten Lehre aus Trumps Wahlsieg: Das Volk will zwar nicht vorsätzlich belogen werden, aber es will auch nicht immer die Wahrheit hören. Diese ethische Ambivalenz mit Blick auf die "harte" Realität dürfte tatsächlich wahlentscheidend gewesen sein, weil Trump die Kunst des In-der-Schwebe-Haltens meisterhaft beherrscht. Der heute medial beliebte "Faktencheck" läuft da übrigens als Gegentrend ins Leere. Denn in der politischen Arena gefühlter Fakten lässt es sich für die mal hoffende, mal bangende Masse sehr viel besser leben.
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