Daniel Loick ist Associate Professor für politische Philosophie und Sozialphilosophie an der Universität Amsterdam. Von ihm erschien 2017 das Buch "Juridismus. Konturen einer kritischen Theorie des Rechts" im Reclam Verlag.
Demokratie für die anderen 1460 Tage
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Am Wahlsonntag übt das Volk seine demokratischen Rechte aus. Aber politisches Handeln sei auch an allen anderen Tagen wichtig, kommentiert Daniel Loick. Es beweise sich erst im Alltag - im Betrieb, in der Bürgerinitiative oder im Bett.
Die französische politische Philosophie geht von einer begrifflichen Differenz aus, die in der deutschen Diskussion oft unterbelichtet bleibt: dem Unterschied von "la politique" und "le politique". "La politique" ist "die Politik": alles, was in den Parlamenten, Ministerien und Parteizentralen stattfindet, also diejenigen politischen Handlungen, die direkt oder indirekt auf die Institutionen des Staates bezogen sind.
"Le Politique" kann man als "das Politische" übersetzen. Das Politische ist nicht eine Sphäre der Gesellschaft oder ein Bereich des Lebens, sondern ein Modus von Handlungen. Eine Handlung, die am Arbeitsplatz, in der Schule, am Küchentisch oder im Bett stattfindet, kann demnach ebenso politisch sein wie das Wählengehen oder das Gesetze-Erlassen.
Auch das Private ist politisch …
Das bekannteste Beispiel für diesen weiten Begriff des Politischen ist der Feminismus mit dem Slogan "Das Private ist politisch". Als sich in den 1960er-Jahren Frauen trafen, um darüber zu sprechen, dass sie beim Sex keinen Orgasmus haben, war dies höchst intim – und zugleich sehr politisch. Indem die Frauen die Gewalt thematisierten, die viele von ihnen durch ihre Ehemänner erfahren hatten, entwickelten sie zum einen eine elementare Form von Handlungsfähigkeit. Zum anderen entdeckten sie, dass ihre höchst persönliche Erfahrung eine mit anderen geteilte ist. Was im Reden über den Orgasmus also passiert, ist ein kollektives Herausarbeiten aus einer routinemäßigen, alltäglichen und bis in den Körper reichenden Unterdrückung.
Als im Jahr 2015 Zehntausende von Menschen gezwungen waren, ihre Heimat verlassen, wurden viele von ihnen an den hiesigen Bahnhöfen und Flughäfen willkommen geheißen. Bürgerinnen und Bürger überreichten den Neuankömmlingen Essen, Kleidung, Decken und Spielzeug. Die so genannte "Willkommenskultur" – von der einige der heute zur Wahl stehenden Politiker meinen, sie dürfe sich "nicht wiederholen" – dauert zum Teil bis heute an: Ehrenamtliche begleiten Geflüchtete bei Behördengängen, organisieren Sprachkurse oder schaffen interkulturelle Begegnungsmöglichkeiten.
… und die Wirtschaft sowieso
Auch diese Aktivitäten sind politisch. Denn in dem einfachen Akt des Willkommenheißens liegt nicht nur ein Protest gegen den erstarkenden Rassismus und eine grassierende Menschenfeindlichkeit. Er impliziert auch eine grundlegende Infragestellung der Ausgrenzung und Diskriminierung durch die Institutionen des Nationalstaats: seine Grenzen und Lager.
Auch die Wirtschaft gilt häufig als ein Bereich, der von der Politik getrennt ist. Dabei geht es doch gerade in der Ökonomie um grundlegende Fragen der Produktion und Reproduktion unseres gemeinsamen Lebens. Darum gibt es auch in dieser Sphäre Handlungen, die unmittelbar politisch sind. Die bekannteste ist der Streik.
Als zum Beispiel im Sommer die Fahrerinnen und Fahrer des Lieferdienstes Gorillas in Berlin die Arbeit niederlegten, um gegen die Entlassung eines Kollegen zu protestieren, ging es um mehr als um Arbeitsplatzsicherheit und Tarifverhandlungen. Es ging darum, dass diejenigen, die unser Essen bringen, mit gleicher Würde ausgestattet sind – und nicht länger, wie die Sklaven und die Frauen in der griechischen Antike, von der Polis ausgeschlossen werden.
Demokratisch handeln im Nahbereich
Im Privaten, im Sozialen und in der Ökonomie gibt es also politische Handlungen. Sie sind politisch, weil in ihnen eine Welt der Unterdrückung, Ausgrenzung oder Ausbeutung mit einem Anspruch auf Gleichheit konfrontiert wird. In ihnen steht nicht nur ein spezifisches Anliegen auf dem Spiel, sondern auch, wer überhaupt eine Stimme hat, die von der Gemeinschaft gehört werden kann.
Die eigentliche Demokratie wird also nicht am Wahlsonntag in der Wahlkabine praktiziert, sondern an den unzähligen anderen Orten und Zeiten, die in der "Tagesschau" meistens nicht vorkommen. Wenn Sie also auch die 1460 Tage, die es bis zur nächsten Bundestagswahl dauert, Demokratin oder Demokrat sein wollen: Es gibt genügend Orgasmen zu erleben, Grenzen einzureißen und Betriebe zu bestreiken.