Politische Mehrheitsverhältnisse

Grün-Schwarz in Stuttgart, Schwarz-Grün in Berlin

Der Landesvorsitzende der baden-württembergischen CDU, Thomas Strobl (r), und der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen) geben am 24.03.2016 in Stuttgart (Baden-Württemberg) nach der Fortsetzung der Sondierungsgespräche von Grünen und CDU zur möglichen Bildung einer gemeinsamen Landesregierung eine Pk.
Setzen den neuen Koaltionstrend: Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Grüne) und der Landesvorsitzende der CDU, Thomas Strobl © picture alliance / dpa / Philip Schwarz
Von Markus Reiter · 08.04.2016
Erst kommt die Koalition von Grünen und CDU in Baden-Württemberg, dann die schwarz-grüne Regierung im Bund, meint der Stuttgarter Journalist Markus Reiter. Denn: In einer liberaler werdenden Gesellschaft ist die Zeit einfach reif für eine "Deutschland-Koalition".
Die Zeichen stehen in Baden-Württemberg auf Grün-Schwarz. Nicht nur, weil machtpolitisch keine andere Möglichkeit besteht, sondern auch, weil keine andere Konstellation besser die gegenwärtige bundesdeutsche Gesellschaft widerspiegelt.
Diese Feststellung mag auf den ersten Blick unsinnig wirken. Schließlich reden gerade alle von einem Rechtsruck.
Die AfD feiert einen Wahlerfolg nach dem anderen. Die hasserfüllten Auftritte von Pegida und ihren Ablegern lassen nicht nach. Der Widerstand gegen die Flüchtlingspolitik Merkels äußert sich lautstark im Internet. Die publizistischen Apologeten eines rechtskonservativen Kurses verspüren Oberwasser. Aber dabei handelt es sich um Rückzugsgefechte.

Die Gesellschaft ist liberaler geworden

Leicht wird in der Aufregung übersehen, dass die deutsche Gesellschaft in den letzten zwei bis drei Jahrzenten erheblich liberaler geworden ist. Unzählige Umfragen zu fast allen gesellschaftspolitischen Fragen zeigen das, sogar bei den Antworten zur Migration.
Mag die Mehrheit das politische Krisenmanagement auch kritisch beurteilen, zum Schicksal von Geflüchteten äußert sie sich mitfühlend. Sehr viele Mitglieder bürgerlicher Schichten engagieren sich ehrenamtlich.
Nirgendwo wird die Liberalisierung der Gesellschaft deutlicher als in Baden-Württemberg. Der frühere CDU-Ministerpräsident Stefan Mappus, der an der gegenwärtigen Misere seiner Landespartei nicht ganz unschuldig ist, trat gern als Verteidiger "konservativer Werte" auf. Wenn er aber konkret werden sollte, fielen ihm dazu kaum mehr als inhaltsarme Schlagworte ein.

Urkonservative Positionen sind in der Minderheit

Kein Wunder: Was früher einmal als urkonservativ galt, nimmt heute selbst unter Christdemokraten eine Minderheitenposition ein. Das gilt besonders in der Gesellschaftspolitik. Längst sind auch im Hochschwarzwald Scheidungen und Patchwork-Familien keine Besonderheit.
Das vielzitierte Bäuerchen auf der schwäbischen Alb hat womöglich einen schwulen Enkel, der mit seinem Ehemann in Berlin lebt, was seine Haltung zur Homo-Ehe beeinflusst. Und auch die schwäbischste Hausfrau im pietistischen Kernland möchte berufstätig sein, sucht einen Kita-Platz für ihre Kinder und erwartet von ihrem Ehemann, dass er mit ihr die Hausarbeit teilt.
Umweltschutz ist auch Konservativen wichtig, und nur ein Bruchteil wünscht sich sehnlichst ein Kernkraftwerk im eigenen Dorf. Diejenigen, die unverdrossen ein reaktionäres Gesellschaftsbild pflegen, sammeln sich immer öfter in der AfD – und sind eine Minderheit von derzeit kaum mehr als einem Fünftel der Bevölkerung.

Ein grün-schwarzes Milieu wächst zusammen

Umgekehrt gilt für die Anhänger der Grünen: Wer es sich in seinem Bio-Soziotop, etwa in Tübingen und Freiburg, eingerichtet hat, träumt nicht mehr von morgens bis abends von der sozio-ökologischen Revolution.
Auch ist er ganz dankbar, wenn mehr Polizei die energetisch-nachhaltige Eigentumswohnung vor Einbruch schützt und das 2000-Euro-Fahrrad nicht gestohlen wird. Ein bisschen elitärer Leistungsdruck an den Schulen könnte zudem die Lebenschancen des eigenen Nachwuchses durchaus positiv befördern.
So wachsen die Milieus zusammen - mit einer grün-schwarzen Grundhaltung. Trotzdem wird daraus sicher kein schnell geschlossenes, harmonisches Bündnis werden. Dazu haben Bündnis90/Die Grünen und CDU ihre Feindbilder zu lange liebevoll gepflegt. Letztlich jedoch dürften beide Seiten daran interessiert sein, die Koalition zustande und zum Erfolg zu bringen.
Dann könnte sich auch im Bund bald eine grün-liberal-konservative Konstellation durchsetzen, vermutlich mit den Christdemokraten als stärkerem Partner. Es wäre eine Koalition, die Deutschlands geistiger Verfassung entspricht. Eine "Deutschland-Koalition" eben.

Markus Reiter arbeitet als Schreibtrainer, Journalist und Publizist. Er studierte Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Geschichte an den Universitäten Bamberg, Edinburgh und FU Berlin. Unter anderem war er Feuilletonredakteur der FAZ und schreibt Bücher über Kultur, Sprache und Kommunikation. Mehr unter www.klardeutsch.de

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