Politische Morde auf der Bühne
Seit rund zehn Jahren gibt es in Russland die Bewegung Neues Drama: Junge Regisseure inszenieren Stücke, bei denen es um aktuelle Probleme wie Drogen, politische Morde und verlogene Ideale geht. Nun bangen Vertreter der kleinen alternativen Theater um ihre Zukunft.
Die Bewegung Neues Drama ist von Michail Ugarow mit dem privaten Teatr.doc gegründet worden. Das Teatr.doc ist für den 54-jährigen Ugarow eine ganz besondere Bühne:
"Wir verwenden sehr viel Dokumentationsmaterial. Dazu gehören Interviews - auf der Straße, mit unterschiedlichen Personen, sowie Protokolle und überhaupt alles Dokumentarische. Die andere Hälfte des Repertoires besteht aus modernen, vorwiegend sozial ausgerichteten Stücken, die von den Staatstheatern meistens nicht inszeniert werden."
Das Teatr.doc spielt in einem winziger Keller im Moskauer Zentrum. Die erfolgreichste Aufführung ist gegenwärtig das Dokumentarstück "Eine Stunde und 18 Minuten".
Der Titel ist eine Anspielung auf die Zeit, die der todkranke Anwalt einer westlichen Beraterfirma in Moskau, Sergej Magnitzkij, im November 2009 in einer Isolationszelle eines Moskauer Gefängnisses durchlitt, bevor er dort starb, weil man ihm lebensnotwendige medizinische Hilfe verweigerte. Magnitzkij hatte einen Bestechungsskandal aufgedeckt und wurde daraufhin wegen Korruption verhaftet.
Ugarow: "”Viele Schauspieler und Regisseure anderer Theater verurteilen dieses Stück. Nicht weil sie politisch dagegen sind, sondern, weil sie der Auffassung sind, Theater sollte sich nicht mit Politik und nicht mit aktuellen Problemen beschäftigen. Eine solche Haltung aber ist einer der Gründe, weshalb es bei uns so gut wie keine Zivilgesellschaft gibt.""
Michail Ugarow hat das Magnitzkij-Stück als fiktives Gerichtsverfahren gegen jene inszeniert, die den Tod des Anwalts zu verantworten haben. Er verwendet Briefe und Tagebuchaufzeichnungen des Häftlings und lässt Personen auftreten, die an Magnitzkijs Tod eine Mitschuld tragen - den Richter, die Gefängnisärztin, den Ermittler.
Im Anschluss an jede Aufführung diskutieren die überwiegend jungen, intellektuellen Zuschauer über das Stück. Der kleine Keller ist stets überfüllt und schon für Monate im Voraus ausverkauft. Obwohl keine Reklame gemacht wird, wollen in Moskau viele Menschen Stücke wie dieses sehen. Der Dramaturg und Regisseur Michail Kaluschkij nennt einen wichtigen Grund dafür.
"In Russland gibt es ja kein Radio und kein Fernsehen und nur sehr wenige Zeitungen, wo man diskutieren kann. In diesem Sinne erfüllen Bühnen wie das Teatr.doc und das Beuys-Theater die Funktion von Massenmedien."
Das von Kaluschkij erwähnte Beuys-Theater wird vom 34-jährigen Georg Genoux aus Hamburg geleitet. Genoux kam vor zehn Jahren nach Moskau, studierte Regie und arbeitet seither mit Theaterleuten wie Michail Ugarow eng zusammen.
Georg Genoux: "Das Joseph-Beuys-Theater beschäftigt sich mit drei Sachen: Es ist interaktives Theater, es ist visuelle Kunst und natürlich in erster Linie mit Theaterprojekten, die verschiedene Sparten von Kunst oder auch gesellschaftlicher Tätigkeit überschreiten. Das Teatr.doc ist in erster Linie ein Theater des Wortes, das macht schon der kleine Raum, da kannst du nichts anderes machen außer sprechen.
Wenn du da ein Bühnenbild rein baust, wird das komisch aussehen. Das Beuys-Theater ist ein Theater, das sucht sich für jede Inszenierung individuell sein Bühnebild und seinen Raum. Deshalb spielen wir an vielen verschiedenen Orten in der Stadt."
Die jungen Autoren und Autorinnen knüpfen an die eigene Geschichte und damit an die Geschichte ihres Landes an. Sie setzen sich mit dem auseinander, was ihnen beigebracht wurde, wovon sie geprägt sind, was sie aber auch neu bewerten wollen. Auch hier wird nach jeder Aufführung mit den Zuschauern diskutiert.
Michail Kaluschkij: "Während dieser Diskussionen reden die Leute fast immer von der russischen Erfahrung. Sogar wenn es - wie in einem unserer Stücke - um den israelischen Psychologen geht, der mit Kindern deutscher Nazis spricht, übertragen die Zuschauer das ganz selbstverständlich auf die großen historischen oder die eigenen Erfahrungen, die jeder von uns macht.
Eines der gigantischen Probleme der russischen Gesellschaft besteht darin, dass es dem Einzelnen sehr schwerfällt, sich als Subjekt der Geschichte zu fühlen. Bis heute sagt man bei uns oft "Wir", wenn man "Ich" meint."
Regisseure wie Ugarow und Genoux sind sich darüber im Klaren, dass sie ein Risiko eingehen, wenn sie in ihren Theatern undemokratische politische Strukturen in Russland anprangern. So probt man etwa derzeit im Teatr.doc das Zwei-Personen-Stück BerlusPutin des italienischen Autors Dario Fo: Auf Berlusconi und Putin wird geschossen, Berlusconi stirbt, Putin überlebt, doch er verliert den halben Kopf und man setzt ihm eine Hälfte von Berlusconis Kopf auf. Fo wolle damit sagen, so Ugarow, dass Minus mal Minus Plus ergebe.
Mit diesem Stück, das den Noch-Ministerpräsidenten Putin aufs Korn nimmt, geht Michail Ugarow bis an die Grenze des Erlaubten. Er ist sich dessen wohl bewusst. Aber er will die Zeit bis zum kommenden Mai, wenn Putin erneut russischer Präsident sein wird, optimal nutzen. Denn er ist sich nicht sicher, dass sein kleines Theater danach noch so frei arbeiten darf wie heute.
"Wir verwenden sehr viel Dokumentationsmaterial. Dazu gehören Interviews - auf der Straße, mit unterschiedlichen Personen, sowie Protokolle und überhaupt alles Dokumentarische. Die andere Hälfte des Repertoires besteht aus modernen, vorwiegend sozial ausgerichteten Stücken, die von den Staatstheatern meistens nicht inszeniert werden."
Das Teatr.doc spielt in einem winziger Keller im Moskauer Zentrum. Die erfolgreichste Aufführung ist gegenwärtig das Dokumentarstück "Eine Stunde und 18 Minuten".
Der Titel ist eine Anspielung auf die Zeit, die der todkranke Anwalt einer westlichen Beraterfirma in Moskau, Sergej Magnitzkij, im November 2009 in einer Isolationszelle eines Moskauer Gefängnisses durchlitt, bevor er dort starb, weil man ihm lebensnotwendige medizinische Hilfe verweigerte. Magnitzkij hatte einen Bestechungsskandal aufgedeckt und wurde daraufhin wegen Korruption verhaftet.
Ugarow: "”Viele Schauspieler und Regisseure anderer Theater verurteilen dieses Stück. Nicht weil sie politisch dagegen sind, sondern, weil sie der Auffassung sind, Theater sollte sich nicht mit Politik und nicht mit aktuellen Problemen beschäftigen. Eine solche Haltung aber ist einer der Gründe, weshalb es bei uns so gut wie keine Zivilgesellschaft gibt.""
Michail Ugarow hat das Magnitzkij-Stück als fiktives Gerichtsverfahren gegen jene inszeniert, die den Tod des Anwalts zu verantworten haben. Er verwendet Briefe und Tagebuchaufzeichnungen des Häftlings und lässt Personen auftreten, die an Magnitzkijs Tod eine Mitschuld tragen - den Richter, die Gefängnisärztin, den Ermittler.
Im Anschluss an jede Aufführung diskutieren die überwiegend jungen, intellektuellen Zuschauer über das Stück. Der kleine Keller ist stets überfüllt und schon für Monate im Voraus ausverkauft. Obwohl keine Reklame gemacht wird, wollen in Moskau viele Menschen Stücke wie dieses sehen. Der Dramaturg und Regisseur Michail Kaluschkij nennt einen wichtigen Grund dafür.
"In Russland gibt es ja kein Radio und kein Fernsehen und nur sehr wenige Zeitungen, wo man diskutieren kann. In diesem Sinne erfüllen Bühnen wie das Teatr.doc und das Beuys-Theater die Funktion von Massenmedien."
Das von Kaluschkij erwähnte Beuys-Theater wird vom 34-jährigen Georg Genoux aus Hamburg geleitet. Genoux kam vor zehn Jahren nach Moskau, studierte Regie und arbeitet seither mit Theaterleuten wie Michail Ugarow eng zusammen.
Georg Genoux: "Das Joseph-Beuys-Theater beschäftigt sich mit drei Sachen: Es ist interaktives Theater, es ist visuelle Kunst und natürlich in erster Linie mit Theaterprojekten, die verschiedene Sparten von Kunst oder auch gesellschaftlicher Tätigkeit überschreiten. Das Teatr.doc ist in erster Linie ein Theater des Wortes, das macht schon der kleine Raum, da kannst du nichts anderes machen außer sprechen.
Wenn du da ein Bühnenbild rein baust, wird das komisch aussehen. Das Beuys-Theater ist ein Theater, das sucht sich für jede Inszenierung individuell sein Bühnebild und seinen Raum. Deshalb spielen wir an vielen verschiedenen Orten in der Stadt."
Die jungen Autoren und Autorinnen knüpfen an die eigene Geschichte und damit an die Geschichte ihres Landes an. Sie setzen sich mit dem auseinander, was ihnen beigebracht wurde, wovon sie geprägt sind, was sie aber auch neu bewerten wollen. Auch hier wird nach jeder Aufführung mit den Zuschauern diskutiert.
Michail Kaluschkij: "Während dieser Diskussionen reden die Leute fast immer von der russischen Erfahrung. Sogar wenn es - wie in einem unserer Stücke - um den israelischen Psychologen geht, der mit Kindern deutscher Nazis spricht, übertragen die Zuschauer das ganz selbstverständlich auf die großen historischen oder die eigenen Erfahrungen, die jeder von uns macht.
Eines der gigantischen Probleme der russischen Gesellschaft besteht darin, dass es dem Einzelnen sehr schwerfällt, sich als Subjekt der Geschichte zu fühlen. Bis heute sagt man bei uns oft "Wir", wenn man "Ich" meint."
Regisseure wie Ugarow und Genoux sind sich darüber im Klaren, dass sie ein Risiko eingehen, wenn sie in ihren Theatern undemokratische politische Strukturen in Russland anprangern. So probt man etwa derzeit im Teatr.doc das Zwei-Personen-Stück BerlusPutin des italienischen Autors Dario Fo: Auf Berlusconi und Putin wird geschossen, Berlusconi stirbt, Putin überlebt, doch er verliert den halben Kopf und man setzt ihm eine Hälfte von Berlusconis Kopf auf. Fo wolle damit sagen, so Ugarow, dass Minus mal Minus Plus ergebe.
Mit diesem Stück, das den Noch-Ministerpräsidenten Putin aufs Korn nimmt, geht Michail Ugarow bis an die Grenze des Erlaubten. Er ist sich dessen wohl bewusst. Aber er will die Zeit bis zum kommenden Mai, wenn Putin erneut russischer Präsident sein wird, optimal nutzen. Denn er ist sich nicht sicher, dass sein kleines Theater danach noch so frei arbeiten darf wie heute.