Politische Prozesse und das "Warum?"

Von René Weiland · 26.08.2010
Ein demokratisch-republikanisches Gemeinwesen lebt davon, dass wir uns in seinen Institutionen wiederfinden können. Diese beruhen idealerweise auf unser aller Akzeptanz. Jede tiefer gehende Veränderung innerhalb unseres Gemeinwesens stellt deren Zustimmungsfähigkeit immer neu auf die Probe. Nur auf dieser Grundlage werden Veränderungen verstanden und mitgetragen.
Auf der anderen Seite haben demokratische Willensbildungsprozesse selten selbst demokratischen Charakter. Eher schon sind sie oligarchischen Typs. Demokratische Willensbildung ist - obwohl alle betroffen sind - nicht Sache aller, sondern einiger weniger: politischer Parteien, gesellschaftlicher Interessensverbände usw. Es ist dieses oligarchische Moment, das ein Gemeinwesen erst handlungsfähig macht, bis ins parlamentarische Leben hinein in Gestalt des Fraktionszwanges.

Politisches Handeln steht unter Zeitdruck. Entscheidungen müssen jetzt und hier getroffen werden. Die extremste Form politischen Handlungswillens stellt der sogenannte Dezisionismus, das Führerprinzip, dar. Abgemildert firmiert es heute als "Basta-Politik". Aber es bedarf nicht unbedingt des offen autoritären Gestus’; es reicht, was politisch beschlossen werden soll, nach außen hin als alternativlos darzustellen.

Kein Wunder, dass dies Frustration, wenn nicht ein zunehmendes Ohnmachtgefühl entstehen lässt. Unser eigener Wille ist, von Wahlzeiten vielleicht abgesehen, überhaupt nicht von Belang. Dass politische Willensbildung anders nicht funktionieren kann, sehen wir ja ein. Schließlich haben wir weder Zeit noch Lust noch Mut, selber politische Ämter zu bekleiden. Je ungeschminkter uns jedoch, etwa in Form offenen Lobbyismus’, das oligarchische Prinzip entgegentritt, beginnt der eine oder die andere schon einmal den Kopf zu heben.

Es bedarf dann nur noch weniger Anlässe, dass sich einige ganz zu erheben beginnen. Einen solchen Anlass – wenn auch nur von symbolischer Bedeutung - stellt "Stuttgart 21" dar. Er ist von symbolischer Bedeutung insofern, als wir an ihm unser eigenes Nichtverstehen vor Augen gestellt bekommen: den Input von so und so vielen Milliarden Euro im Verhältnis zum Output von so und so vielen Stunden oder Minuten Zeitersparnis. Und natürlich drängt die Zeit und ist das Projekt alternativlos.

Die Philosophen Robert Spaemann und Reinhart Löw hatten Anfang der 80er-Jahre die Frage gestellt, warum wir "warum?" fragen. Ihre Antwort: um Neues, Unverstandenes in unser vertrautes Leben integrieren zu können. Wir fragen solange "warum?", bis die Antwort gefunden, die Anpassung vollzogen ist. Die Frage "warum?" hat so sehr aufschließenden Charakter wie aufschiebende Kraft. Sie erschließt uns Zeit und Handlungsspielraum in einer ansonsten schier undurchdringlich abrollenden Wirklichkeit.

Das "Zu spät!", das Christoph Ingenhoven, der verantwortliche Architekt von Stuttgarts umzubauendem Hauptbahnhof, den Demonstrierenden und Blockierern zuruft, trifft auf spiegelverkehrte Weise den Nerv politischer Willensbildung. Politisch gibt es kein "Zu spät". Politik ist aktuelle Willensbildung. Sie dient immer nur dem Heute, welche Zukunft sie sich auch ausmalen mag. – Demonstrationen wie die gegen "Stuttgart 21" arbeiten unserer Selbstvergewisserung insofern zu, als ein demokratisch-republikanisches Gemeinwesen sein Verhältnis zu seinen eigenen oligarchischen Entscheidungsstrukturen öffentlich reflektiert.

Die "Warum?"-Frage mag als penetrant und kindisch empfunden werden. Veränderungen einfach hinzunehmen, ohne sie verstehen wollen zu dürfen, hindern uns indessen nur daran, sie zu unserer eigenen Sache zu machen – und guter Dinge in den Zug zu steigen.

René Weiland, geboren 1957 in Berlin, war langjähriger Mitarbeiter der RIAS-Funkuniversität. Jüngste Buchveröffentlichungen: "Das Äußerste, was ein Mensch sein kann. Betrachtung und Gespräch über Thomas von Aquin", sowie (zusammen mit Matthias Eckoldt): "Wozu Tugend? Über den Gebrauch eines missbrauchten Begriffs".
René Weiland
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