Politische Rhetorik

Abscheu ist keine Lösung

Abscheu ist etwas Körperliches: Diese Frau ist angewidert von ihrem Getränk.
Abscheu ist etwas Körperliches: Diese Frau ist angewidert von ihrem Getränk. © imago/Westend61
Von Alexander Kissler |
Abscheu ist eine körperliche Reaktion auf etwas Widerwärtiges, ähnlich dem Ekel, und liegt damit im vorpolitischen Raum. Wer politische Positionen und Gegner verabscheut, verlässt den Raum der deliberativen Demokratie, meint der Journalist Alexander Kissler.
Nach dem islamistischen Attentat von Brüssel schrieb Münchens Oberbürgermeister in das Kondolenzbuch des belgischen Generalkonsulats: "Mit Abscheu, Wut und Trauer stehen wir alle den verbrecherischen Anschlägen in Brüssel gegenüber." Damit hatte er die richtigen Worte gewählt. Wie anders denn mit Abscheu soll der friedliebende Mensch auf eine solch monströse Tat reagieren? 32 unschuldige Menschen fielen den Brüsseler Selbstmordattentätern am 22. März zum Opfer. Abscheu ist da die erste, die natürliche Reaktion.

Abscheu ist ein körperlicher, kein gedanklicher Akt

Abscheu ereignet sich unwillkürlich. Er ist ein körperlicher, kein gedanklicher Akt, vergleichbar dem Ekel, mit dem er oft in einem Atemzug genannt wird. Abscheu und Ekel markieren ein unkontrollierbares Verhalten und beglaubigen gerade so die Absonderlichkeit des auslösenden Moments. Wer Abscheu empfindet, der wendet sich ab, dem bleibt die Spucke weg, der kriegt das kalte Grausen, dem wird es ganz schlecht: Hier wie meistens bringt die Sprache die Wahrheit an den Tag. Abscheu ist die Rede des Körpers – und damit bewegt der Abscheu sich im vorpolitischen Raum. "Begehren und Abscheu", wusste schon Thomas Hobbes, "sind das erste Streben der animalischen Bewegung."

Deshalb befremdet der Siegeszug des Abscheus in der politischen Debatte. Eine Partei fordert drastische Maßnahmen, mit denen sie den Rest der Parteien gegen sich aufbringt? Das sei abscheulich. Der Präsident eines fremden Landes hat sich zu dieser oder jener undemokratischen Maßnahme hinreißen lassen? Abscheu verdiene er. Im Wahlkampf zieht die Kandidatin über die Wählerschaft ihres Mitbewerbers her? Sie sei eine abscheuliche Person. Als vor vier Jahren in Frankreich die beiden Konkurrenten im Kampf um die Präsidentschaft im Fernsehen aufeindertrafen, hieß es danach: "Sarkozy konnte die tiefe Verachtung, die er für Hollande hegt, ebenso wenig verbergen wie Hollande seine Abscheu vor Sarkozy."

Ein inflationärer Gebrauch

So mag es gewesen sein. So war es dann aber traurig und falsch. Der inflationäre Gebrauch, den Politiker und politische Beobachter von der drastischen Vokabel machen, deutet auf eine argumentative Notlage. Natürlich werden in Wahlkampfzeiten allerhand populistische Forderungen gestellt, links wie rechts, gegen die aufzubegehren das Recht und manchmal die Pflicht leidenschaftlicher Demokraten ist. Natürlich ist die Welt voll von Regenten und Potentaten mit bestenfalls rudimentärer Grundgesetztauglichkeit. Diese dürfen und sollen hören, dass es komplett unvereinbare Wege gibt und alle Toleranz ihre Grenze hat. Und natürlich gab und gibt es brachiale Attentate, verkehrte Weltanschauungen und sinnlose Gewaltakte zuhauf. Immer aber ist der Abscheu mitsamt seinem Bruder, dem Ekel, eine körperliche Reaktion und nie eine gedankliche Leistung. In der politischen Auseinandersetzung hat der Abscheu nichts zu suchen.
Wer andere Meinungen nicht ablehnt, sondern Andersmeinende verabscheut, hat sich aus der Debatte verabschiedet. Er ersetzt Argumente durch Erregung. Er schützt den Körper vor, um das Gehirn zu schonen. Noch einmal der Philosoph und Staatstheoretiker Thomas Hobbes: "Übel, die wir weder überwinden noch vermeiden können, verabscheuen wir." Politik ist aber genau das: die Suche nach Wegen, um allgemeine Übel zu überwinden oder sie wenigstens zu vermeiden.
Gestritten werden darf und soll, gerne hart, manchmal polemisch, doch ohne jene falsche Zutat, die Brücken einreißt und Wege zuschüttet, Gespräche beendet und Lösungen erschwert, ohne Abscheu.
Alexander Kissler, geboren 1969, ist Kulturjournalist und Sachbuchautor. Er schrieb regelmäßig für die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung", war Redakteur der "Süddeutschen Zeitung" und anschließend beim "Focus Magazin". Seit Januar 2013 leitet er das Kulturressort "Salon" des Monatsmagazins "Cicero". Jüngstes Buch: "Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss." (Gütersloher Verlagshaus 2015)
Alexander Kissler
Alexander Kissler© picture alliance / dpa / Erwin Elsner
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