Politischer Aktivismus und Philosophie

"Soziale Bewegungen stellen die Systemfrage"

42:40 Minuten
Polizisten stehen im Hambacher Forst am Fuße eines Baumes, in dem Klima-Aktivisten ein Baumhaus gebaut haben, 2020.
Raus aus der Kohle, raus aus dem System: Die Baumhäuser von Umweltaktivisten im Hambacher Forst wurden zum Symbol des Widerstands. © picture allinace / dpa / David Young
Robin Celikates im Gespräch mit Wolfram Eilenberger |
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Klimaschutz, Frauenrechte, Respekt für Minderheiten – soziale Bewegungen kämpfen für eine bessere Welt, in zunehmend hitzigen Debatten. Kann die Philosophie dabei noch sinnvoll mitreden? - Ja, mit Gewinn, meint der Sozialphilosoph Robin Celikates.
Philosophinnen und Philosophen würden die Welt nur verschieden interpretieren, dabei käme es darauf an, sie zu verändern. So lautet, im Anschluss an Karl Marx, eine oft gehörte Klage. Der darin mitschwingende Vorwurf der Untätigkeit mag umso schwerer wiegen in einer Zeit, da soziale Bewegungen an vielen unterschiedlichen Fronten auf Veränderung drängen. Den Klimaaktivistinnen und -aktivisten von "Fridays for Future" haben sich "Scientists for Future" und "Architects for Future" angeschlossen. Doch "Philosophers for Future" haben bisher nicht von sich reden gemacht.

Kühler Kopf und impulsives Handeln

Wie steht es also um das Verhältnis von Philosophie und politischem Aktivismus, zwischen Handeln und Denken? Ist die Philosophie, die sich viel auf Rationalität, Besonnenheit und kühle Präzision zugutehält, vielleicht ein notwendiger Antipode zu Strömungen, denen die Tat näher ist als das sorgfältig abgewogene Wort? Ja und nein, sagt Robin Celikates, Professor für Sozialphilosophie und Anthropologie an der FU Berlin, der sich viel mit Aktivismus und politischen Protestformen beschäftigt:
"In der Philosophie gibt es immer noch das Selbstbild einer Disziplin, die der Vernünftigkeit, der Objektivität, der Wissenschaftlichkeit, der Unparteilichkeit verpflichtet ist. Aktivismus wirkt aus dieser Perspektive häufig überhitzt, parteilich, unreflektiert, interventionistisch. Und diese Dichotomie steht, glaube ich, vielen Philosophinnen und Philosophen auch im Weg, um von der sozialen Realität zu lernen, vom Aktivismus zu lernen."
Dabei könnten Philosophie und Aktivismus voneinander eine Menge lernen, davon ist Celikates überzeugt. Und das sei grundsätzlich auch nichts Neues. Schließlich seien zahlreiche philosophische Strömungen immer schon in sozialen Bewegungen verankert gewesen wie der Feminismus, post- und antikoloniale Denkrichtungen und im Übrigen auch der Marxismus.

Ein Werkzeugkasten zum Verständnis der Krise

Celikates selbst sieht sich in der Tradition der Kritischen Theorie, die in einem engen Zusammenhang mit der Studentenbewegung der 1960er- und 70er-Jahre stand. Philosophen wie Theodor W. Adorno, Max Horkheimer oder Herbert Marcuse galten zeitweise als Vordenker der Bewegung. Adorno zum Beispiel hätte eine solche Zuschreibung jedoch zurückgewiesen, so Celikates, dem "Selbstmissverständnis" oder der "Versuchung, dass eine philosophische Einsicht zu einer politisch herausgehobenen Rolle berechtigen würde", wäre er nicht erlegen.
Dennoch stehe die Kritische Theorie in einem besonderen Verhältnis zu ihrem Gegenstand, das gelte auch für seine eigene Arbeit, sagt Celikates: "Es zeichnet Kritische Theorien aus, dass sie eine emanzipatorische Absicht verfolgen. Sie wollen also Krisen nicht nur diagnostizieren, sondern zu ihrer Überwindung zumindest beitragen." Indem die Philosophie einen "begrifflichen Werkzeugkasten" zum besseren Verständnis der jeweiligen Krisen bereitstelle, könne sie sozialen Bewegungen Orientierung bieten.
Der Berliner Sozialphilosoph Robin Celikates, in offenem Hemd und dunkler Strickjacke, schaut entspannt in die Kamera.
Aktivismus und Philosophie können viel voneinander lernen, meint Robin Celikates.© Rainer Christian Kurzeder
Dabei handle es sich tatsächlich um ein wechselseitiges Lernen, so Celikates. Zum Beispiel sei es für Aktivistinnen und Aktivisten der Klimaschutzbewegung höchst relevant zu hinterfragen, wo etwa die Grenzen von zivilem Ungehorsam liegen oder in welchen Fällen Gewalt gegen Sachen als legitim gelten könnte. Umgekehrt sei die Philosophie darauf angewiesen, anhand aktueller gesellschaftlicher Konflikte neue Perspektiven und Begriffe zu entwickeln. Soziale Bewegungen erwiesen sich dabei als ein "Inkubator für theoretische Innovationen", so Celikates.

Hinterfragen hegemonialer Meinungen

So seien Rechte, die dem einzelnen Menschen in einer Demokratie zukommen, bis vor Kurzem ausschließlich auf Nationalstaaten bezogen worden. "Es wurde so getan, als gäbe es keine koloniale Vergangenheit, als gäbe es keine Migration, als gäbe es keine Grenzen", sagt Celikates. Erst Proteste migrantischer Bewegungen wie der Sans-Papiers in Frankreich hätten dazu geführt, dass die politische Theorie sich dieser Themen angenommen habe.
Die Frage nach dem Verhältnis von Denken und Handeln, von Reflexion und Interaktion stand in der Geschichte der europäischen Philosophie schon früh im Raum. In der Figur des Sokrates scheinen sich zwei widersprüchliche Antworten darauf zu kreuzen. Stand er mit seinem Prinzip des stetigen Hinterfragens nicht jedem entschlossenen Handeln entgegen? Celikates hält dem eine andere Deutung entgegen: Sokrates habe schließlich nicht alles in Frage gestellt, "sondern vor allem jene konventionellen und hegemonialen in der Gesellschaft vorherrschenden Meinungen, von denen er glaubte, dass sie eigentlich nicht gut begründet sind."

Mut zum öffentlichen Widerspruch

Dieser Mut zum öffentlichen Widerspruch verbinde Sokrates – auch wenn er sich sicher nicht als Aktivist verstanden habe – mit vielen sozialen Bewegungen von heute: "Sie versuchen, gesellschaftlich etablierte Sichtweisen zu irritieren und eine Öffnung in einer stagnierenden gesellschaftlichen Diskussion zu forcieren" Sokrates sei dafür sogar mit dem Tode bestraft worden – aus Sicht der politischen Denkerin Hannah Arendt eine besonders dunkle Stunde der Philosophie, so Celikates:
"Hannah Arendt sagt ja dann, dieses Trauma, dass er für seine philosophischen Ansichten sterben musste, das hat die Philosophie nie verkraftet. Deswegen hat sie sich von der Politik abgewendet, deswegen wollte sie die ewigen Ideen erforschen und nicht mehr hier auf dem Marktplatz die Leute irritieren, weil sie wusste: Das kann diesen Preis nach sich ziehen."

Bereitschaft zur Selbstkritik

Die wichtigste Lektion, die politische Philosophie und aktivistische Bewegungen heute voneinander lernen könnten, sieht Robin Celikates in der Bereitschaft, eigene Positionen immer wieder kritisch zu hinterfragen. Auf Seiten der Theorie wie auch der Praxis bestehe eine Gefahr der "Abdichtung gegen konträre Positionen", selbst aus den eigenen Reihen. Deshalb müssten soziale Bewegungen ständig darum bemüht sein, Formen der Selbstreflexion und Selbstkritik aufrechtzuerhalten.
"Das heißt es eigentlich doch, eine lebendige Theorie oder lebendige Begriffe zu haben", sagt Celikates, "dass man eben nicht denkt: Wir haben jetzt einmal definiert, was Gerechtigkeit heißt, und jetzt interessiert uns gar nicht mehr, wie darüber in der sozialen Realität gestritten wird."
Denn Begriffe seien revisionsbedürftig, wenn wir mit neuen Herausforderungen wie einer planetaren Klimakatastrophe konfrontiert sind und sie im Zusammenhang mit anderen Krisen der Gegenwart verstehen wollen. Die Aktivistinnen und Aktivisten heutiger Protestbewegungen haben diesen Zusammenhang im Blick, beobachtet Celikates: "Früher hätte man gesagt, sie stellen die Systemfrage." Kapitalismuskritik, Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und Klimaschutz sind für sie eng miteinander verwoben. Eine Parole des Aktionsbündnisses "Ende Gelände" lautet: "Systemwandel statt Klimawandel".
(fka)

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