Europa am Scheideweg
In den letzten zwölf Monaten sind den Europäern einige Erschütterungen erspart geblieben. Das könnte sich nächstes Jahr ändern, kommentiert Stephan Detjen. Das Scheitern der griechischen Präsidentschaftswahl war der erste Paukenschlag.
Das Scheitern der griechischen Präsidentschaftswahl war ein vorgezogener Silvesterböller, der in Europa noch mächtig nachhallen könnte. In jedem Fall sollte er all jene wecken, die das vergangene Jahr als europapolitischen Heilschlaf erlebt haben. Immer wieder war die Hoffnung laut geworden, das Jahr 2014 könne die Übergangsphase gewesen sein, in der Europa nach den vorangegangenen Krisenzeiten einer Zukunft ökonomischer Gesundung und politischer Stabilisierung entgegen gehe.
In der Tat sind uns in den letzten zwölf Monaten manche Erschütterungen erspart geblieben. Die Schotten haben sich mit am Ende klarer Mehrheit für den Verbleib in der EU ausgesprochen. Die Griechen haben messbare Fortschritte bei Haushaltskonsolidierung gemacht. In Frankreich hat sich Präsident Hollande immer wieder aufgerafft und verloren geglaubten Reformwillen beteuert.
Zugleich hat die Eskalation anderer Krisen politische Energien und Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit absorbiert. Wo es so elementar wie in der Ukraine und im Nordirak um Krieg oder Frieden, Leben oder Tod geht, drohen die wirtschaftlichen, politischen und verfassungsrechtlichen Voraussetzungen der europäischen Friedensordnung als nachrangige Selbstverständlichkeiten in den Hintergrund zu rücken. Auf der großen Bühne der Weltpolitik war auch die Bundesregierung im letzten Jahr durch exekutives Krisenmanagement gefordert. In der Innenpolitik hat die Große Koalition ihre Gestaltungsmacht genutzt, um mit sozialpolitischen Leistungsgesetzen für biedermeierliche Behaglichkeit in den nationalen vier Wänden zu sorgen.
Die EU steht vor schicksalhaften Entscheidungskrisen
Doch die Jahreswende öffnet jetzt auch wieder den Blick auf die offene, europäische Perspektive – und der griechische Paukenschlag könnte sich als Ouvertüre für eine Reihe von schicksalhaften Entscheidungskrisen in der EU erweisen.
Der linke Alexi Tsipras, den die Demoskopen im Augenblick als künftigen Regierungschef in Athen sehen, würde mit seinen Forderungen nach einem Ende des Sparkurses und einem Schuldenschnitt Geduld und Solidarität der europäischen Partner auf die Probe stellen. Auf dem Prüfstand stünde dann auch wieder die europapolitische Geschlossenheit der Berliner Koalitionsfraktionen, die in früheren Jahren nur durch harten Druck in den eigenen Reihen erzwungen werden konnte.
Im Frühjahr müssen sich die Blicke dann nach Großbritannien richten: Premierminister Cameron tritt dort mit dem Versprechen zu den Parlamentswahlen an, die Briten anschließend über den Verbleib in der EU abstimmen zu lassen. Kurz vor Weihnachten sagte die jüngste Meinungsumfrage eine Mehrheit für den Austritt des Vereinigten Königreichs voraus. Zugleich öffnet sich nach den Wahlen in Großbritannien ein Zeitfenster bis in das Jahr 2017, in dem in Deutschland und Frankreich keine nationalen Wahlen anstehen – ein Fenster historischer Gestaltungsmöglichkeiten für die traditionellen Leitmächte der EU. In Berlin und Paris muss sich dann erweisen, ob Wille, Kraft und Inspiration noch ausreichen, um Europa in einer Zeit neuer Herausforderungen zusammenzuhalten und zu gestalten.