Politisches Kino auf der Berlinale

    "Schnarchiger, abgegriffener Begriff von Politik"

    Berlinale-Direktor Dieter Kosslick (r.) steht mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem damaligen Kulturstaatsminister Bernd Neumann am 13. Februar 2011 vor der Premiere des Films "Pina" auf dem Roten Teppich der 61. Berlinale.
    Berlinale-Direktor Dieter Kosslick (r.) mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem damaligen Kulturstaatsminister Bernd Neumann am 13. Februar 2011 vor der Premiere des Films "Pina" auf dem Roten Teppich der 61. Berlinale © picture alliance / dpa / Arno Burgi
    Nino Klingler im Gespräch mit Annette Bräunlein |
    Was bei der Berlinale als politisches Kino gilt, sieht Filmkritiker Nino Klingler oft als problematisch. Er ist Mitorganisator des Filmkritik-Festivals "Woche der Kritik", das parallel zur Berlinale läuft – und sich in diesem Jahr politischen Filmen widmet.
    Deutschlandradio Kultur: Herr Klingler, Sie haben die "Woche der Kritik" mit organisiert - ein Filmfestival mit zahlreichen Diskussionsveranstaltungen, das parallel zur Berlinale ebenfalls in Berlin stattfindet. In diesem Jahr widmet es sich dem Thema "politisches Kino". Die Berlinale gilt ja als das politischste große Filmfestival. Wie steht es um den politischen Film dort?
    Nino Klingler: Von der Berlinale insgesamt zu sprechen, ist natürlich bei rund 400 Filmen eine große Verknappung. Grob gesagt, habe ich auf der Berlinale sicherlich wesentlich weniger bereichernde politische Erfahrungen gehabt als auf den Filmfestivals in Rotterdam, Locarno und Cannes. Weil ich das Gefühl habe, dass die Berlinale einen relativ schnarchigen, abgegriffenen, thematischen Begriff von Politik ins Zentrum stellt; einen Begriff, der sich nicht vom Kino herleitet, sondern von den Themen, die in der öffentlichen Sphäre gerade präsent sind.
    Das heißt nicht, dass es zum Beispiel in den Sektionen "Forum" oder "Generation" ganz tolle Filme gibt, die mich bewegt haben. Aber die Filme, die im Wettbewerb für diese Signatur "politisches Filmfestival" verantwortlich gemacht werden, die haben mich politisch oft eher auf eine unproduktive Art wütend gemacht. Da waren andere Festivals interessanter.
    Wenn man über "politisches Kino" spricht, ist es wichtig zu unterscheiden zwischen Thema und Inhalt. Also mit Thema ist beispielsweise gemeint, wenn ein Film sich mit der Geflüchtetensituation beschäftigt oder den Auswirkungen neoliberaler Wirtschaftsformen. Und Inhalt meint, wie ein Film sich diesem Thema widmet – also mit welcher Geschichte er sich dieses Themas annimmt, welche Schwerpunkte er setzt.
    Deutschlandradio Kultur: Warum stellen Sie bei der "Woche der Kritik" in diesem Jahr das Thema "politisches Kino" ins Zentrum?

    Wichtige Filmpreise für politische Themen

    Nino Klingler: In den beiden letzten Jahren haben Filme, die sich politischen Themen widmen, wichtige Filmpreise bekommen. Zum Beispiel 2016 "Seefeuer - Fuocoammare" und 2015 "Taxi Teheran" bei der Berlinale. In Cannes waren es zuletzt "I, Daniel Blake" und "Dheepan". Damit hat auf zwei großen Festivals zweimal in Folge eine Art von Filmen gewonnen, die wir als politisch-thematisch bezeichnen würden. Diese Bezeichnung ist aber kein Urteil über die Qualität der Filme selbst. "Taxi Teheran" zum Beispiel ist ein Film, den ich persönlich sehr spannend finde, auch ästhetisch innovativ – auch wenn ich ihn nicht grandios finde.
    Dass politisch-thematische Filme derzeit große Aufmerksamkeit auf sich ziehen und Erfolg haben, könnte man als Trend bezeichnen. Wir wollten uns dem widmen, denn wir Filmkritiker und Filmkritikerinnen haben bei vielen dieser Filme ästhetische Vorbehalte: Ob das Filme sind, die im Endeffekt das Richtige auslösen. Einer der Panelgäste bei unserer Auftaktveranstaltung am Mittwoch hat gesagt, diese Form von politischen Filmen depolitisiere eher. Weil sie sich in die Raster einordnet, die wir hatten, bevor wir ins Kino gegangen sind – und sie bestätigt.
    Deutschlandradio Kultur: Was macht Ihrer Meinung nach einen Film zu einem politischen?
    Nino Klingler: Wenn sich Filme an politischen Debatten ausrichten, heißt das nicht zwangsläufig, dass das keine Filme sind, die politisieren, die eine politische Veränderung bewegen. Umgekehrt gilt das genauso: Bei Filmen, die politische Debatten oder Themen auf eine Art und Weise behandeln, wie sie auch in den Medien behandelt werden, sind nicht automatisch politische Filme.
    Nino Klingler, Filmkritiker und Filmemacher
    Nino Klingler, Filmkritiker und Filmemacher© Deutschlandradio / Annette Bräunlein
    Nehmen wir ein Beispiel. Mit "I, Daniel Blake", der 2016 in Cannes gewonnen hat, habe ich große Probleme. Er widmet sich dem Thema der Verarmung des ehemaligen Industrieproletariats in Großbritannien. Aber er macht das auf eine Art und Weise, die viele Dinge bestätigen, die man davor schon so hatte: Es läuft schlecht im britischen Staat, die Leute haben ein Recht darauf, wütend zu sein, sie kommen nicht aus ihren sozialen Räumen raus. Und ich komme vielleicht wütend aus dem Kino , aber nicht mit neuen Erkenntnissen.
    "1001 Nacht" aus der Trilogie von Miguel Gomes ist dagegen ein Film, der sich durchaus einem politischen Thema widmet – aber das wirklich politisch macht im Sinne von Veränderung, Transformation, neuer Gedanken, neuer Sinnlichkeiten, neue Arten und Weise, die Welt wahrzunehmen. Der Film behandelt als Thema die aktuelle Wirtschaftskrise in Portugal. Er ist 2016 in Deutschland und in Cannes gelaufen. Er besteht aus ganz vielen Einzelgeschichten, die von Nacherzählungen aus 1001 Nacht bis hin zu Interviews mit arbeitslos gewordenen Menschen reichen. Der Film macht einen riesigen Fragenkatalog auf und einen riesigen Katalog an ästhetischen Umgangsformen mit dem Thema Verarmung einer Gesellschaft. Er macht das auf eine Art und Weise, die man nicht anders als mit einem Film machen könnte.
    Deutschlandradio Kultur: Der Trend zu politischem Kino: Seit wann gibt es den?
    Nino Klingler: Wir haben uns für die "Woche der Kritik" die letzten zehn Jahre Berlinale und Cannes angeschaut. Da sieht man diesen Trend in den letzten beiden Jahren ganz konkret. Ich glaube, dass das zusammenfällt damit, dass außenpolitische, global politische Themen wichtiger geworden sind. Etwa mit der Migrationsthematik, der Eurokrise, mit Syrien, der Ukraine geht auch eine stärkere Orientierung auf politisch-thematische Filme einher. Ich glaube, dass es ein sehr großes Bedürfnis danach gibt, dass sich nicht nur das Kino, sondern alle Bereiche des öffentlichen Lebens zu diesen drängenden politischen Themen verhalten.
    Aber natürlich gab es auch vorher schon bei Filmpreisen extrem politische Entscheidungen. Zum Beispiel gewann 2003 in Cannes Michael Moores "Fahrenheit 9/11". Das sind Konjunkturen, die kommen und gehen.

    Trend zu politisch-thematischen Filmen

    Deutschlandradio Kultur: Hängt dieser Trend zu politisch-thematischen Filmen, wie Sie sie nennen, auch mit der größeren Aussicht auf ökonomischen Erfolg zusammen? Haben nicht Filme, die ihr Thema auf konventionellere Art und Weise behandeln, einfach einen größeren Publikumserfolg als Filme, die ihr Publikum eher irritieren und mit vielen Fragen zurücklassen?
    Nino Klingler: Man kann schon lange nicht mehr von Festivalerfolg auf ökonomischen Erfolg schließen. Zum Beispiel ist "Fuocoammare", der 2016 die Berlinale gewonnen hat, nicht gut im Kino gelaufen. Das kann auch damit zu tun haben, dass zu dem Zeitpunkt, als er im Kino anlief, im Sommer 2016, öffentlich schon ganz anders über die sogenannte Flüchtlingskrise gesprochen wurde, als zur Berlinale im Februar 2016. Das heißt, Filme, die so thematisch ausgerichtet sind, sind Konjunkturzyklen unterworfen.
    Bei unserer gestrigen Diskussionsveranstaltung hat ein Filmkritiker gesagt, dass vielleicht die Komödie momentan das politischste aller Genres sei. Obwohl ich nicht genau weiß, wie erfolgreich "Toni Erdmann" gelaufen ist, würde ich sagen, dass da mehr Leute reingegangen sind, als in "Fuocoammare". "Toni Erdmann" hat zwar politische Themen: Unternehmensberatung und neoliberale Jobpolitik und ein Altlinker, der in diese Welt geworfen wird. Vor allem ist er aber politisch, weil er total verwirrend wird und nicht sagt, was richtig und falsch ist. Er stellt die Frage, ob dieser Altgrüne nicht vielleicht ein bisschen peinlich ist. Er fordert mich dazu auf, mir Gedanken zu machen, wie ich das eigentlich finde, in Rumänien für große Konzerne Entlassungen vorzubereiten.
    Ich würde nicht sagen, dass das Politisch-Thematische zwangsläufig zu größeren Zuschauerzahlen aufgrund größerer Aufmerksamkeit führt.

    "Gibt es überhaupt unpolitisches Kino?"

    Deutschlandradio Kultur: Wie wichtig ist es, dass Kino politisch ist?
    Nino Klingler: Da könnte man die Gegenfrage stellen: Gibt es überhaupt unpolitisches Kino? Ich gehöre zu den Leuten, die sagen: Nein. Weil ich einen relativ weiten Begriff von Politik habe.
    Wenn man aber von einer gewissen Art und Weise von Kino ausgeht, die im engeren Sinne politisch ist, weil das als solches erkannt wird: Natürlich ist es total wichtig – auch, dass Filme gemacht werden, die wir als Kritiker nicht gut finden.
    Nur glaube ich, dass dieses Thematisch-Politische eine Strategie ist, sich gegen Kritik zu immunisieren. Denn: Wer kann denn dagegen sein, sich für die Armen und Entrechteten einzusetzen und den moralisch richtigen Standpunkt einzunehmen? Das ist unglaublich schwer, sich als Kritiker dazu zu positionieren. Oft wird die Debatte dann nicht mehr am Film geführt, sondern am Thema – und das ist gefährlich. Denn die Debatte muss über das Ästhetische geführt werden.

    Wichtiges Thema nicht gleich wichtiger Film

    Deutschlandradio Kultur: Was heißt das für Filmkritiker? Wie können sie dazu beitragen, dass politisches Kino in die Gesellschaft hineinwirken kann?
    Nino Klingler: Durch eine ganz große Ausweitung dessen, was man als politisch versteht. Die Filmkritik sollte sich nicht von der Bedeutung irreführen lassen, dass ein Film, der sich einem wichtigen Thema widmet, zwangsläufig ein wichtiger Film fürs Kino ist. Mit Ausweitung meine ich: Man kann auch Hollywood-Filme, man kann alle Filme politisch lesen. Ich würde die Forderung aufstellen, dass man an jeden Film politisch herangeht. Dass man das Politische nicht auf die Filme beschränkt, die sich als politisch verkaufen. Sondern, dass man die vielleicht auch mal ignoriert, um das Politische anderswo zu suchen.
    Deutschlandradio Kultur: Was kann politisches Kino bewirken?
    Nino Klingler: Das ist die Achillesferse meiner Argumentation. Wenn ein Film, mit dem ich ästhetisch große Probleme habe – zum Beispiel "Fuocoammare" – jemanden dazu bringt, bei freiwilligen Helfern auf dem Mittelmehr mitzumachen: Will ich das dem Film zum Vorwurf machen? Die Wirkungsfrage ist eine sehr wichtige Frage und eine, die ich als Filmkritiker schwer beantworten kann. Nichtsdestotrotz kann ich sagen: Was politisiert mich? Was fordert mich dazu auf, neu darüber nachzudenken, wie unsere Welt funktioniert, wie mit Menschen umgegangen wird, wie ausgeschlossen wird, wie Ungerechtigkeit empfunden wird? Wenn ich bei einem Film wie "Toni Erdmann" aus dem Kino herauskomme und einen neuen Blick auf Menschen habe, zum Beispiel auf Unternehmensberaterinnen, dann haben sie mich politisiert und etwas bewirkt.
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