Deniz Yücel: Taksim ist überall. Die Gezi-Bewegung und die Zukunft der Türkei
Edition Nautilus, Hamburg 2014
220 Seiten, 12,80 Euro
Das Phänomen Gezi
In "Taksim ist überall" rollt der Journalist Deniz Yücel die Geschichte der Proteste in der türkischen Metropole Istanbul ab dem Sommer 2013 auf. Seine dichten Reportagen vermitteln die vielfältige Bewegung in all ihren Widersprüchen.
Das verschwommene Foto eines bärtigen Mannes mit grimmiger Miene – für Deniz Yücel zeigte das Bild in einem Vitrinenschrank seiner Eltern im hessischen Flörsheim immer nur Urgroßvater Alim. Bis er eines Tages herausfand, dass der Mann aus Mazedonien zu den Jungtürken gehörte, die im Frühjahr 1909 den Aufstand islamischer Soldaten der Topçu-Kaserne gegen das konstitutionelle System niederschlugen – just jenem Gebäude also, das der türkische Ministerpräsident Erdogan auf dem Gelände des Istanbuler Gezi-Parks wieder errichten wollte.
Der "taz"-Journalist, Jahrgang 1973, hatte also auch einen biografischen Antrieb, als er sich entschied, über die Ereignisse auf Istanbuls zentralem Taksim-Platz ab dem Sommer 2013 zu berichten. Doch wie viele andere Journalisten aus aller Welt ließ er sich zunächst einfach von der Wucht der Revolte mitreißen. Später hat er seine Erfahrungen verdichtet. "Taksim ist überall", das Buch über die Gezi-Bewegung, das dabei herausgekommen ist, ist keine soziologische Strukturanalyse, sondern ein Bündel anschauungsgesättigter Reportagen in Buchform.
Exemplarisch statt chronologisch
Yücel schreibt keine chronologische Geschichte der "Republik Gezi", sondern stellt Orte, Personen und politische Gruppen jener Zeit vor, die zugleich paradigmatisch für die Konflikte der türkischen Gesellschaft sind. Er rollt die Geschichte des Taksim-Platzes auf, porträtiert den Schauspieler und Parlamentsabgeordneten Sırrı Süreyya Önder von der prokurdischen BD-Partei, der sich im Gezi-Park vor die Bagger der Bautrupps stellte, und trifft die "Antikapitalistischen Muslime" im erzkonservativen Istanbuler Stadtteil Fatih. Wer sich nicht mit den tausendfach reproduzierten, Medienbildern zufrieden gibt, kommt in diesem Buch auf seine Kosten. Bei Yücel gewinnt die vielfältige Bewegung in all ihren Widersprüchen lebendige Gestalt.
Yücel, sonst eher ein polemisches Talent, verzichtet in seinem Buch auf Pauschalaussagen. Stattdessen fördert er in Gesprächen mit über einhundert Menschen die strukturellen Gründe für das "Phänomen Gezi" zu Tage. Die Journalistin Karin Karakaşlı hält die Beerdigung des 2007 ermordeten armenischen Journalisten Hrant Dink für den Vorläufer der Bewegung. Der motorisierte Kebab-Bote Welad aus Istanbuls Armenviertel Tarlabaşı erklärt ihm, warum die Kurden mit dem türkischen Staat "eine Rechnung offen haben". Für den Ankararer Soziologe Necmi Erdoğan hat die "Prekarisierung der Mittelschicht" bei dem Protest eine wichtige Rolle gespielt. Die "Zukunft der Türkei", auf die der Buchtitel anspielt, bleibt offen. Yücel ist zwar der Meinung, dass Gezi "erst der Anfang" gewesen sei. Doch der junge VWL-Student Özgun aus Ankara sagt ihm: "Dieser besondere Moment von Gezi, der wird nicht wiederkommen".
Spannendes und aufschlussreiches Dokument
Yücels Buch ist mehr als nur ein spannendes politisches Sachbuch. Es ist auch ein aufschlussreiches, sozialpsychologisches Dokument. Denn für den Deutschtürken hat Gezi seine "emotionale Bindung zur Türkei politisiert". Er bezieht Partei für die Gezi-Bewegung, die ihm das Gefühl gegeben habe, sich zum demokratischen Teil der Türkei bekennen zu können, verliert dabei aber nie die Distanz zu seinem Gegenstand. Auf diese republikanischen Tugenden wäre vermutlich auch sein Urgroßvater Alim stolz gewesen.