Von der Straße auf die Bühne
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Die Proteste in Chile gegen die Regierung werden von den Theatermachern des Landes aufgegriffen. Die Bühne wird zum Treffpunkt und Diskussionsraum - wie nun beim Festival "Santiago a Mil".
Kann man feiern, wenn die Gesellschaft in einer tiefen Krise steckt? Das fragten sich viele der Künstlerinnen und Künstler, die zu einem der wichtigsten internationalen Theaterfestivals Lateinamerikas im Januar kommen sollten. Die Antwort war klar: nein. Und ja. Also beschloss Festivalleiterin Carmen Romera Quero, nach 27 Jahren das Festival Santiago a Mil erstmals umzubenennen:
"Wir nennen ‚Santiago a Mil‘ nicht mehr Festival", erkläutert Romera Quero. "Wir haben entschieden, das zu verändern. Die Künstler sagten: Wir können nicht feiern, wir sind in einer Krise. Aber das Theater ist Teil der Gesellschaft und damit auch der Krise. Also findet das Treffen statt. Nur: Wir nennen es nicht Festival."
Ein Stadtteil als Null-Zone
Nur zwei Tage, nachdem Romera Quero im Oktober ihr fertiges Programm vorgestellt hatte, begannen am 18. Oktober die Proteste in Santiago de Chile, ganz in der Nähe von Hotels und Spielorten. Die U-Bahn-Station am Plaza da Dignidad, dem Zentrum der Demonstrationen, wurde für ein Jahr geschlossen, das Hotel Crowne Plaza als Unterkunft für die Gäste zu riskant.
"Das ist eine hundertprozentige Null-Zone. Wir nennen das Zero-Zone; es ist krass dort – dieser Stadtteil ist wie eine Art Symbol", so Romera Quero.
Das Ganze ist eine Herausforderung für das Team. Kurzerhand wurden wegen der abendlichen Ausgangssperren Veranstaltungen in den Nachmittag gelegt und mehr Produktionen bei freiem Eintritt angeboten – nicht nur in den Theatern, sondern in Wohnvierteln und Nachbarschaftszentren.
Wut auf die Politik des Präsidenten
"Es geht auch darum, die Zugänge zur Kunst zu demokratisieren", sagt Romera Quero. "Das ist gerade sehr wichtig in Chile, denn wir fordern eine neue Gesellschaft – und wir sind froh, dass die Künste daran mitwirken. Als wir das Programm vorstellten, fand hier nichts statt – alles war geschlossen."
Noch immer sieht das Viertel um den Plaza de la Dignidad, den inoffiziell so genannten Platz der Würde, so aus, als wäre es seit Jahren nicht mehr bewohnt: Geschäfte sind geschlossen, Häuser von Graffitis übersät.
Die Wut auf Präsident Sebastián Piñera und die brutale Gewalt von Militär und Polizei ist überall spür- und lesbar: ACAB – die Abkürzung für "All cops are Bastards" - steht an jeder zweiten Häuserwand. Unvorstellbar, dass dieses Viertel noch vor vier Monaten lebendig und modern war. Doch die Krise der Gesellschaft ist auch eine Chance für das Theater:
"Egal zu welcher Performance du bei diesem Festival gehst, jeder spricht über die Demonstrationen. Alles bekommt einen neuen Sinn: Shakespeare, griechische Antike, aber auch die zeitgenössischen chilenischen Arbeiten. Unser Leben ist in all diesen Performances. Die Leute lesen es aus den Arbeiten heraus. Plötzlich wird alles anders gesehen", erläutert Romera Quero.
Gewaltsamer Kampf - ja oder nein?
Eine Vorstellung von Mapuche - ein indigenes südamerikanisches Volk - in dem verhandelt wird, ob ein gewaltsamer Kampf sinnvoll sei oder nicht und ob ein eigener Nationalstaat erstrebenswert sei, löst unweigerlich Gedanken an aktuelle Ereignisse aus. Chilenische Zuschauer werden die neue Arbeit des jungen Theaterregisseur Antú Romero Nunes, die an diesem Freitag uraufgeführt wird, sicher anders sehen, als später die Besucher im koproduzierenden Theater Heidelberg.
Ein internationales Gemeinschaftswerk wird diese Neuinterpretation der "Zauberflöte". Nur, sagt der in Deutschland aufgewachsene Nunes, dessen Mutter Chilenin ist, "es gibt kein Mozart und kein Schikaneder".
Das Libretto für "seine" Zauberflöte stammt von Guillermo Calderon, einem der interessantesten chilenischen Theaterautoren; die Songs von Julieta Venegas, einem Popstar in Lateinamerika. Da die Texte parallel zu den Proben entstehen, fließen die Proteste ganz natürlich mit ein:
"Während das hier alles los war, hat er geschrieben", erläutert Romero Nunes. "Da musste das einfließen. Letztlich geht es um die Phantasien eines siebenjährigen Mädchens. Wem das hier nicht passiert ist, der wird eine ganz andere Geschichte sehen. Hier wird keiner belehrt, dafür ist Theater auch nicht da."
Hoffnung auf Veränderung
Theater als Trost, als Ort der Selbstvergewisserung oder Flucht, als Diskussionsraum und Treffpunkt. All das findet sich beim Santiago a Mil. Und wie ist der Blick in die Zukunft? Romero Nunes sieht "schwarz für dieses Land. Ich glaube es wird sich nichts ändern."
Dies liege auch daran, dass "Menschen so arm sind, dass sie für einen Hungerlohn auf ihr eigenes Volk schießen. Man merkt es nicht, weil sie alle Iphones haben. Ich weiß nicht, ob sich das ändern lässt, weil die Hälfte der Leute nicht merkt, was passiert", so der Regisseur.
Festivalleiterin Carmen Romera Quero dagegen bleibt hoffnungsvoll:
"Das alles erinnert uns an unser Trauma der Diktatur. Ich konnte meine Kinder nicht abhalten, zu den Demonstrationen zu gehen, nur weil das gefährlich ist. Es geht nicht, Angst zu haben. Das ist ein Thema gerade. Wir müssen uns ändern, weil wir eine Demokratie sind. Das geschieht eben auf der Straße – viele starben dafür. Die jungen Leute fürchten die Polizei nicht, sie sind da und werden da bleiben. Ich weiß nicht, wie es enden wird. Aber ich muss optimistisch sein, was die Zukunft anbelangt. Im Parlament gibt es eine neue Generation, auf die ich Hoffnung setze; eine Gruppe mit frischen Ideen und fähig, einen Dialog zu beginnen."
Susanne Burkhardt reiste auf Einladung des Theaters Heidelberg nach Chile.