Wolfgang Kraushaar studierte Politikwissenschaft, Philosophie und Germanistik an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt/Main, wo er 1982 auch promovierte. Er gilt als einer der profiliertesten Chronisten der 68er-Bewegung. Bereits 1977 publizierte er seine erste Abhandlung über die Studentenbewegung. Ab 1987 war er am Aufbau des drei Jahre zuvor von Jan Philipp Reemtsma gegründeten Hamburger Instituts für Sozialforschung (HIS) beteiligt. Dort widmet er sich seitdem der Erforschung von Protestbewegungen.
"Bewegungen sind im Grunde wie das kapitalistische System"
29:19 Minuten
Protestbewegungen müssten immer weiter wachsen, um erfolgreich zu sein, sagt der Politologe Wolfgang Kraushaar. Die "Fridays for Future"-Demos hätten bisher aber immerhin den Diskurs über die Klimapolitik verändert. Das sei ein Anfangserfolg.
Demonstrationen sind in unserer Demokratie nicht nur durch das Grundgesetz geschützt - sie sind ein nicht wegzudenkender Teil der politischen Meinungsfindung. Protestbewegungen, glaubt der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar, seien auch deshalb immer interessant, weil sie etwas über die Spannungen, über die Defizite und Verwerfungen in einer Gesellschaft verraten.
Damit sich Proteste nicht totlaufen und zu einer wirklichen Bewegung werden können, bräuchten sie aber nicht nur Gallionsfiguren. Sie müssten auch wachsen und sich professionaliseren.
Angesichts der aktuellen Friday-For-Future-Proteste ist Kraushaar überzeugt, dass man die Klimapolitik nicht grundlegend verändern könne, ohne die System-Frage zu stellen, also unsere Form des - kapitalistischen - Wirtschaftens zu hinterfragen.
Als ungewöhnlich und widersprüchlich empfindet der Politologe, dass ausgerechnet die "Generation Selfie" jetzt weltweit bereit sei, sich zu Tausenden für den Klimaschutz mobilisieren zu lassen. Denn sie sei eine Generation, der man gemeinhin eine noch stärkere Neigung zu Narzismus und zum Ausleben des eigenen Egos unterstelle als der Alterskohorte zuvor.
Das Interview im Wortlaut:
Deutschlandfunk Kultur: Herr Kraushaar, wir erleben gerade, dass in Deutschland die Zahl von Protesten zunimmt und auch die Teilnehmerzahlen. Mal ganz unabhängig erstmal davon, wer für oder gegen etwas demonstriert, sind Proteste grundsätzlich gut für die Demokratie?
Wolfgang Kraushaar: Ich würde als erstes in dem Zusammenhang denken wollen an Konrad Adenauer, also den ersten Bundeskanzler unserer Republik. Denn er sprach einmal im Zusammenhang mit Demonstrationen diskreditierend von einer "Politik der Straße" und meinte damit, dass diese in irgendeiner Weise etwas mit Schmutz zu tun habe. Politik in einer Demokratie hätte weder etwas mit Protesten auf der Straße oder auf Plätzen zu tun, sie sollte, so war jedenfalls seine Überzeugung, in geschlossenen Räumen ausgetragen werden – Parlament, im Rathaus oder auf Parteiversammlungen und mehr.
Deutschlandfunk Kultur: Das ist aber nicht Ihre Überzeugung?
Kraushaar: Das ist nicht meine Überzeugung. Ich will es nur deshalb kurz erwähnt haben und natürlich auch in gewisser Weise durch die Autorität von Konrad Adenauer beglaubigt sehen wollen, dass es da einmal ganz andere Zeiten gegeben hat. Inzwischen haben wir ja einen enormen Mentalitäts- und Legitimitätswandel zu verzeichnen. Und Proteste und Demonstrationen sind nicht nur vom Grundgesetz geschützt, sondern sie gehören auch eigentlich dazu. Zum großen Politikmachen gehören sie mit dazu.
Deutschlandfunk Kultur: Man sagt ja sogar, dass man in einer Demokratie - nicht nach dem Stile von Konrad Adenauer vielleicht aber ansonsten - nicht gegen die Macht der Straße regieren kann.
Kraushaar: Das halte ich doch für etwas überzogen. Denn es hat sich immer wieder gezeigt - und ich würde es sogar als prominentestes Beispiel nennen wollen, die Proteste gegen den Nato-Nachrüstungsbeschluss vom Beginn der 80er Jahre - wenn Sie da erst eine Volksabstimmung durchgeführt hätten, hätten Sie garantiert eine Mehrheit dagegen bekommen. Und zweitens haben sich Hunderttausende damals auf die Straßen begeben. An einem Tag waren das mehr als anderthalb Millionen Bundesbürgerinnen und -bürger. Und dennoch hat es dann eine Mehrheit im Bundestag dafür gegeben. Und Helmut Kohl, der damalige Kanzler, hat es umgesetzt.
Proteste als Frühwarnsystem für eine Gesellschaft
Deutschlandfunk Kultur: Kann man Konrad Adenauer insofern Recht geben, als dass natürlich zum einen Proteste immer lästig sind für die Regierungen, wenn sie eine andere Haltung haben, zum anderen aber natürlich auch, wenn die Regierenden sich einfangen lassen, dazu führen kann, dass sie verleitet werden, symbolische oder, schlimmer noch, populistische Handlungen zu vollziehen?
Kraushaar: Ja, das ist durchaus möglich, dass sie sich einfangen lassen. Aber ich glaube, das ist eher ein Grenzfall. Denn zunächst mal muss man davon ausgehen, dass Proteste sozusagen konträr zur jeweiligen Macht der Regierung oder zu anderen Mächten stehen. Es kann ja auch von der Macht von großen Wirtschaftsorganisationen, Industriekonzernen, Pressekonzernen usw. die Rede sein. Damit haben wir es zunächst mal zu tun.
Insofern ist immer mit Protesten eine gewisse Spannung vollzogen. Ich würde an der Stelle auch gerne auf jemanden verweisen, nämlich einen – wenn Sie so wollen – Vordenker der Republik, auf Jürgen Habermas, der in diesem Jahr ja neunzig Jahre alt werden wird. Der hat einmal festgestellt, dass Bewegungen eigentlich immer interessant seien. Denn sie verrieten uns - also der Gesellschaft - etwas über die Spannungen, über die Defizite, Verwerfungen. Und vielleicht sogar würden sie so etwas wie tektonische Verschiebungen im Sozialen andeuten. Insofern haben wir es bei Protesten mit Signalen zu tun. Manche würden sogar sagen, sie haben die Funktion eines Frühwarnsystems – das natürlich eher aus der Perspektive der Politik gesprochen.
Deutschlandfunk Kultur: Nun ist es im Moment so, dass gerade sehr viele junge Leute, teilweise zum ersten Mal überhaupt, zu einer Demo gehen. Urheberrecht, Klimaproteste sind die Stichworte. Ist das auch eine Reaktion, anknüpfend an das, was Sie gerade gesagt haben, auf einen Vertrauensverlust in die Gestaltungsfähigkeit und vielleicht auch den Gestaltungswillen der handelnden Politik?
Kraushaar: Diesen Vorbehalt hat es eigentlich immer gegeben. Da können Sie die ganzen Jahrzehnte durch deklinieren. Da hat es immer bis zu einem gewissen Grad so etwas wie ein Misstrauen gegeben gegenüber dem Handeln der Politiker oder der jeweiligen Regierung. Aber ich glaube, dass wir es zu tun haben mit etwas, was schwer wieder konsensual aufzulösen ist. Denn wir haben ja eine erhebliche Dynamik im politischen Geschehen. Wenn wir jetzt an die Gegenwart denken, dann sehen wir, dass es große erodierende Prozesse gibt, die die Europäische Union infrage stellen und es gibt enorme Spannungen weltweit durch eine isolationalistische und nationalistische Politik, etwa seitens der USA einerseits und andererseits Chinas meinetwegen oder auch Russland und anderer Staaten mehr. Und das bildet sich dann zum Teil auch, wenn man will, im bundesdeutschen Mikrokosmos ab und mit Folgerungen. Wir sind ja Teil einer großen Globalisierung.
Deutschlandfunk Kultur: Sie haben schon die Nachrüstungsdiskussion Anfang der 80er Jahre genannt. Wir hatten in den letzten Jahren auch Bewegungen – Occupy Wall Street, Pearls of Europe, Pegida, Antirassismus, Demonstrationen gegen die Agenda 2010 des damaligen Regierungschefs Schröder. Seit mehr als zwanzig Wochen gehen die Schüler auf die Straße. Unter welchen Bedingungen, Herr Kraushaar, wird aus wiederholten Protesten eine echte Protestbewegung?
Kraushaar: Das ist eine nicht ganz unumstrittene Frage. Denn es hat nicht einfach etwas mit der bloßen Addition von Zahlen, Teilnehmerzahlen zu tun, sondern es hat etwas vor allen Dingen mit einer Dynamik zu tun, mit einem Prozess, der dahin führt, dass es sozusagen kohärente Merkmale gibt und vor allen Dingen auch Kommunikations und – zumindest von der Tendenz her – Organisationsformen, die in der Lage sind, so etwas zu organisieren.
Deutschlandfunk Kultur: … eine Professionalisierung stattfindet.
Kraushaar: In gewisser Weise eine Professionalisierung. Wir erleben das ja gerade bei Fridays for Future. Die sind bereits dazu in der Lage, auch Ziele zu formulieren. Das deutet an, dass es dort im Hintergrund bestimmte Gruppierungen gibt, die in der Lage sind, das zu organisieren.
"Fridays for Future" setzt auf Autorität der Wissenschaft
Deutschlandfunk Kultur: Was heißt "im Hintergrund"?
Kraushaar: Im Hintergrund, weil sozusagen in der Presse hauptsächlich von Greta Thunberg die Rede ist, aber es gibt bereits Quasi-Gremien, die überregional dafür sorgen, bestimmte Ziele einer nachhaltigen Klimapolitik zu formulieren und die auch politisch umzusetzen.
Deutschlandfunk Kultur: Inwieweit bedarf es auch Verbündeter – von Prominenten, von der Wissenschaft, aber auch letztendlich von gesellschaftlichen Mehrheiten?
Kraushaar: Ja. Zunächst mal ist es sehr auffällig, wie stark sich diese Schülerinnen- und Schülerbewegung bezieht auf die Wissenschaft. Das ist sozusagen eine Autorität, die völlig uneingeschränkt ins Feld geführt wird. Es gibt ja die "Scientists pro Future", 25.000 an der Zahl, die sich hinter diese "Fridays-for-Future"-Bewegung gestellt haben. Und darin wird das Bestreben deutlich, sozusagen eine Autorität mit in Anspruch nehmen zu wollen, um den Legitimationsdruck in der Öffentlichkeit zu potenzieren.
Deutschlandfunk Kultur: Interessant ja auch - Sie haben den Namen Greta Thunberg schon genannt - eine echte Bewegung braucht wahrscheinlich immer ein Gesicht.
Kraushaar: Greta Thunberg ist die alles überragende Galionsfigur. Sie hat das ja initiiert. Ich kann mich nicht entsinnen, etwas Vergleichbares schon mal erlebt zu haben.
Bewegungen, die nicht wachsen, implodieren irgendwann
Deutschlandfunk Kultur: Damit das wirklich eine Bewegung geworden ist, aber auch bleibt, ist es eigentlich für diejenigen, die sich da so einsetzen, ein Vollzeitberuf. Einmal die Woche eine Demonstration zu organisieren, das braucht Zeit. Sich zu vernetzen, das braucht Zeit. Konkrete Forderungen aufzustellen, das braucht Zeit. Jede Bewegung, die das nicht leisten kann, kann die sich nur totlaufen – einfach aus Erschöpfung?
Kraushaar: Ja. Sie sprechen ein großes Problem an, und zwar das Permanenz-Problem von Bewegungen. "Fridays for Future" hatte sozusagen zum Ziel erklärt, nicht vorher davon abzulassen, demonstrieren, protestieren zu wollen, solange ihre Forderungen nicht erfüllt seien. Das kann, ehrlich gesagt, nicht gut gehen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir in einem halben Jahr oder einem Jahr noch in der gleichen Weise von "Fridays for Future" sprechen.
Ich würde mich freuen, wenn ich sozusagen dementiert werden würde durch einen realen Prozess. Aber ich will damit zumindest andeuten, dass es enorm schwierig ist, Bewegungen auf Dauer zu stellen, die vor allen Dingen sozusagen expandieren lassen zu wollen. Denn Bewegungen sind im Grunde genommen wie das kapitalistische System auf Wachstum angelegt. Und wenn sie es nicht erreichen, ständig anzuwachsen, dann implodieren sie irgendwann.
Deutschlandfunk Kultur: Stichwort Erfolg: Es kam aus der Bewegung "Fridays for Future" schon die Ansage: Wir bekommen viel Unterstützung, mediale Öffentlichkeit. Wir bekommen viel Lob. Aber tatsächlich ändert sich nichts. Also, wann hat eine Protestbewegung ganz allgemein Erfolg – jenseits von der Herstellung von Medienöffentlichkeit?
Kraushaar: Das ist immer so eine Art von Keulen-Argument, nach dem Erfolg von Protestbewegungen zu fragen, aber sie ist auch sehr berechtigt.
Natürlich müssen sich Bewegungen daran messen lassen, was sie letzten Endes erzielen, nämlich eine Umsetzung von Dingen, die sie postuliert haben, womit sie die Politik unter Druck gesetzt haben. Aber wie das zu realisieren ist, ist enorm schwierig. Aber ich möchte dafür votieren, den Begriff Erfolg nicht ganz so hart zu machen oder zumindest zwischen verschiedenen Formen des Erfolgs zu unterscheiden.
Bei "Fridays for Future" können wir momentan sehr gut beobachten, wie es einen tendenziellen Erfolg bereits zu verzeichnen gegeben hat, nämlich dass die öffentliche Diskussion, und zwar bis tief in die Politik, bis in die Parteien, in die Regierung hinein, verändert worden ist. Das heißt, der öffentliche Diskurs über Klimapolitik hat sich verändert. Und das ist schon mal ein Anfangserfolg.
Es ist eine ganz andere Frage hingegen, ob sich dann auch von den Zielsetzungen her tatsächlich etwas verändern lässt und damit Erfolge einzuholen sind. Da bin ich sehr, sehr skeptisch.
Einzug in Parlamente nicht uneingeschränkt erstrebenswert
Deutschlandfunk Kultur: Ist es auch dann ein Erfolg, wenn sich beispielsweise aus Bewegungen Parteien entwickeln? Stichwort: Aus der Pegida-Bewegung ist sicherlich die AfD hervorgegangen, wie wir sie heute kennen. Aus der Anti-AKW-Bewegung sind ganz bestimmt die Grünen hervorgegangen. Und damit funktioniert natürlich auch, Agenda-Setzung und bestimmte Forderungen von Protestbewegungen machen ihren Weg durch die Institutionen.
Kraushaar: Sie haben zwei gute Beispiele ausgewählt, einmal die Grünen und zum anderen die AfD. Beide sind sie sicherlich auch Ausdruck von Bewegungen. Aber bei der AfD hat es einen anderen Prozessverlauf insofern gegeben, als Pegida erst nach der Gründung der AfD aufgetreten ist, während bei den Grünen gab's die Anti-AKW schon Jahre vorher, bevor dann die Grünen gegründet worden sind. Das ist wirklich nicht ganz unwichtig, das zu sehen.
Das ist ein sehr ambivalentes Argument mit der Parlamentarisierung von solchen Strömungen, insofern nämlich, weil man auf der einen Seite zu Recht sagen kann: Seht mal zu. Die sind so stark, dass sie in der Lage sind, zu Wahlen, ob zunächst auf kommunaler oder Landtagsebene zu kandidieren, nachher sogar im Bundestag einzuziehen. Und andererseits verändern sich natürlich diese Strömungen enorm.
Das heißt, ihre Radikalität wird ein Stück weit reduziert. Wir erinnern uns vielleicht noch an jemanden wie Petra Kelly, die ja im Hinblick auf die Grünen von einer "Anti-Parteien-Partei" gesprochen hat. Und diesen Anspruch konnte sie nicht durchhalten. Das heißt, Versuche, eine Art von gegenläufiger - jedenfalls, was das übliche Prozedere im Parlamentarismus anbetrifft - Organisation in eine Partei einzubringen - diese Überlegungen sind in der Regel nicht sonderlich fruchtbar. Und irgendwann vollzieht sich ein Anpassungsprozess.
Damit muss man dann natürlich die zweite Frage aufwerfen: Wie sieht es eigentlich aus mit dem angeblichen Erfolg, in die Parlamente eingezogen zu sein? Was ist übrig geblieben von den Zielen? Und hat nicht im Grunde genommen das politische System eigentlich eine solche radikale Bewegung der Straße, der Demonstranten usw. okkupiert?
Deutschlandfunk Kultur: Nun hat sich seit den Zeiten von Petra Kelly einiges verändert. Proteste werden meist nicht mehr über Organisationen oder über Parteien organisiert. Das Institut für Protest- und Bewegungsforschung hat herausgefunden, dass über dreißig Prozent der jungen Leute, die jetzt auf die Straße gehen, aus den sozialen Medien über Demonstrationen erfahren und sich darüber informieren. Und nur noch über knapp über fünf Prozent erfahren davon aus den Zeitungen, inklusive Online-Medien, 3,5 Prozent aus Funk und Fernsehen. Hat das Internet nicht nur die Art der Mobilisierung für Proteste verändert, sondern mehr als das?
Kraushaar: Ja, zweifelsohne. Das haben wir seit einem oder anderthalb Jahrzehnten bereits vor Augen. Weil, Sie müssen sich zum Beispiel erinnern nur an die Arabellion. Die Arabellion wäre ohne die Social Media niemals im Jahre 2010, 2011 in Gang gekommen.
Deutschlandfunk Kultur: Oder die grüne Revolution von 2009 im Iran.
Kraushaar: Genau, oder im Iran oder auch die Occupy-Bewegung. Das sind alles Dinge, die sehr, sehr stark über Social Media organisiert worden sind.
Auch in den 60er Jahren gab es eine große Schüler-Revolte
Deutschlandfunk Kultur: Aber wie weit ändert das auch die Substanz? Man kann ja sagen, die Menschen sind einerseits informierter und gleichzeitig uniformierter. Stichwort ist Fake News, Verschwörungstheorien, aber eben auch - auf der positiven Seite - der sehr leichte Zugang für jeden, der es wissen will, etwas wissen zu können.
Kraushaar: Wie sehr das etwas verändern kann, kann man am unglückseligen Schicksal der Piratenpartei sehen. Die Piratenpartei hatte ja die Vorstellung von einer Liquid Democracy, dass möglichst eine Demokratie durch ihren Impuls umgebaut wird auf eine sehr verflüssigte Form der Demokratie, die sozusagen technologisch Social Media voraussetzt, und ist damit eigentlich gescheitert.
Ich glaube, dass man sehen kann, dass es auch sehr viele Selbsttäuschungsprozesse gibt. Also, auf der einen Seite ist ja nicht ohne Grund vom Narzissmus vieler Social-Media-Aktivisten oder Usern die Rede. Und andererseits wissen wir, dass es so etwas gibt wie den Klicktivismus, das man meint: In dem Augenblick, wo man irgendeine Liste von Protesten oder sonst irgendwas unterzeichnet hat, damit hätte es bereits sein Bewenden. Es ist etwas völlig anderes, diese Dinge dann auf auch der Straße einzuklagen.
Das, was ich jetzt bei "Fridays for Future" besonders interessant finde, ist, dass die nicht mehr mit ihren Smartphones auf diesen Demonstrationen rumgelaufen sind, sondern die haben das dann auch wirklich sozusagen als ein anderes Angebot wahrgenommen, obwohl sie zuvor von der Kommunikation und der Vororganisation her absolut definiert worden waren über Social Media.
Deutschlandfunk Kultur: Wir reden über Erfolge und Misserfolge und Organisationsformen von Protestbewegungen. "Friday for Future" drängt sich dabei logischerweise immer wieder in unser Gespräch. – Inwieweit fällt diese Bewegung aus dem Rahmen? Ein paar Aspekte haben Sie schon genannt. Aber bemerkenswert ist natürlich auch das Alter derjenigen, die da auf die Straße gehen, und dass es eine globale Bewegung ist. Gab es so etwas überhaupt schon mal?
Kraushaar: Ja, gab es durchaus. Ich bin immer skeptisch, wenn in der Presse Kommentare auftauchen, in denen gesagt wird, "das ist aber das erste Mal, dass…". Ich will nur zum Beispiel auf eine Sache verweisen: Es hat bereits zum Ende der 60er Jahre eine große Schülerbewegung gegeben. Das ist oft in Vergessenheit geraten deshalb, weil das dominiert war durch eine Studentenbewegung. Aber das ging so weit, dass in dieser Schülerrevolte, die es in diesen Jahren 1967/68 gegeben hatte, auch von einem Kinder-Kreuzzug die Rede war.
Es gibt zwei Dinge, bei denen ich als erstes ansetzen würde: Erstens, die Aktivistinnen, Aktivisten sind sehr, sehr jung, noch einen Tick jünger als das bereits am Ende der 60er Jahre mit dieser Schülerbewegung der Fall gewesen ist. Ich habe das selber erlebt, als in Hamburg am 1. März Greta Thunberg mit einer Demonstration dabei war. Da gab es enorm viele Zehn- bis Vierzehnjährige, die dort die Straßen gefüllt haben.
Und das zweite ist, dass die Teilnehmer vorwiegend weiblich sind. Nach Umfragen hat man das Ergebnis bekommen, dass etwa sechzig Prozent weiblich und vierzig Prozent männlich sind. Und das ist sehr ungewöhnlich.
Deutschlandfunk Kultur: Interessanterweise ist es diese, von manchen "Generation Z" genannte Alterskohorte - manche nennen Sie auch "Generation Selfie" - die diese globale Protestbewegung im Kern ausmacht. Warum sind die das? Warum nicht die Millennials oder die "Generation Y", auch "Generation Party" genannt, also die 1980er bis in die späten 1990er Geborenen, die ja gemeinhin und wahrscheinlich auch mit einigem Recht als sehr unpolitisch galten und auch wirklich selten auf den Straßen zu sehen waren?
Kraushaar: Also, zunächst mal eines von meiner Seite vorweg: Ich bin sehr misstrauisch gegenüber diesen Generationszuschreibungen. Wir haben im Laufe der letzten zwanzig Jahre geradezu eine Inflation von Versuchen erlebt, Generationen zuschreiben zu wollen. Es ist ganz schwierig, Distinktionen zu formulieren und Kriterien, um bestimmte Merkmale dann auf eine bestimmte Strömung oder Generationskohorte auch anwenden zu wollen.
Generation Selfie unerwartet politisch offensiv
Deutschlandfunk Kultur: Aber wie immer wir sie auch nennen - Fakt ist, das sind die in den Nuller-Jahren Geborenen, die jetzt auf der Straße sind und nicht die davor.
Kraushaar: Ja. Das ist zweifelsohne so. Aber die Frage ist: Was impliziert das?
Wir haben natürlich eine ganze Reihe von Dingen, die jetzt sich sehr, sehr verstärkt haben. Von einem haben wir ja schon gesprochen - nämlich der Tatsache, dass diese – jetzt sage ich auch – Generation sozialisiert worden ist durch die Social Media, durch die Möglichkeit, sich im Internet wie selbstverständlich zu bewegen und eine starke Abschwächung von Print-Media, von den klassischen Öffentlichkeitsformen und anderem mehr.
Deutschlandfunk Kultur: Aber Sie gilt auch als noch individualistischer als ihre Vorgänger, noch ablenkbarer, noch klick- und likes-fixierter als ihre Vorgänger. Und trotzdem sind sie zu Hunderttausenden auf der Straße.
Kraushaar: Ja, das ist scheinbar ein Zeichen für eine eher widersprüchliche Phänomenologie. Beides ist zutreffend meines Erachtens. Dass mit dieser Art von narzisstischen Komponente, wo es nur noch darauf ankommt, dass junge Leute sozusagen ihr eigenes Ego ausleben wollen und dieses jetzt mit modernen technologischen Mitteln dann auch tun können, das ist nicht ganz neu. Aber das hat sich nochmal verstärkt. Und das, was Sie mit "Generation Selfie" jetzt so ein bisschen ironisch auch angemerkt haben, das zeigt das ja im Grunde genommen auch, diese Art von Selbstbespiegelung.
Dagegen ist das, was sich jetzt gerade abspielt, dass nämlich Zehntausende von jungen Leuten in großen Teilen Europas oder weltweit bereit sind, sich für Klimaziele mobilisieren zu lassen, ja doch erheblich ungewöhnlich. Ich glaube, das verweist darauf, dass es eine Wahrnehmungsform geben muss, bei der die Emotionalisierung eine große Rolle spielt, ohne die – jedenfalls meines Erachtens – nicht denkbar wäre, dass diejenigen, die als "Selfie-Generation" verschrien sind, den Schritt an die Öffentlichkeit machen und sich auf die Straßen und Plätze begeben.
Deutschlandfunk Kultur: Vielleicht hat es auch was mit einem neuen Generationskonflikt zu tun. Denn die Vorgängergeneration - wie auch immer wir sie jetzt nennen - die in den 80er und 90er Jahren Geborenen kannten keinen Ost-West-Konflikt. Die verstanden sich mit ihren Eltern bestens, vielleicht zu gut. Und hier kommt eine Generation, die sogenannten, wie DIE ZEIT sie nennt, "Klimakinder" auf die Straße und sagt: "Ihr, unsere Eltern unsere Großeltern, die Babyboomer also, ihr verzockt unsere Zukunft!" – Zeichnet sich da tatsächlich ein neuer Generationskonflikt ab?
Kraushaar: Ja, das hat alles Anzeichen von einem Generationskonflikt, den man nur sehr schwer von der Weiterentwicklung her einschätzen kann. Aber auch da würde ich sagen: Das hat es alles schon mal gegeben.
Zu Beginn der 80er Jahre, parallel zu der Zeit, als die Proteste gegen Nato-Nachrüstungsbeschlüsse in Gang waren, gab's eine neue Jugendbewegung, die "No-Future-Bewegung", die auch die Eltern verklagt hat und die auch versucht hat, die frühere Studentenbewegung abgrenzend als die "alten Säcke" usw. zu bezeichnen. Das waren für sie die 68er. Die haben schon vieles an der Generationskonflikt-Dimension erlebt, wie das die heutige Generation erlebt.
Kapitalismus und Konsum heute keine Feindbilder
Deutschlandfunk Kultur: Die 68er, das ist eine Bewegung gewesen, die sozusagen an den Grundfesten der Nachkriegsgesellschaft gerüttelt hat. – Lassen die sich mit "Friday for Future" dahingehend vergleichen, dass das jetzt wieder passiert, dass es darum geht, eine andere Lebenskultur, einen weniger CO2-fressenden Lebensstil, wie die Eltern und Großeltern es praktiziert haben, zu etablieren?
Kraushaar: Man muss eins vorweg sagen: Immer wieder ist in den letzten Jahrzehnten danach gefragt worden: Was bedeutet eigentlich eine gerade aktuelle Bewegung im Verhältnis zur 68er Bewegung? Und ich finde diese Frage meistens ziemlich kurzsichtig. Inzwischen haben wir je einen Abstand von über einem halben Jahrhundert. Man kann einfach nicht davon ausgehen, dass da damals schon Prägungen erzeugt worden sind, die heute noch in gewisser Weise übermächtig sind. Das halte ich, mit Verlaub, für Unsinn.
Andererseits muss man deutlich machen, dass das, was die damalige Bewegung versucht hat, die im Kern eine Studentenbewegung gewesen ist oder die man auch als außerparlamentarische Opposition bezeichnen kann, das ist ja etwas gewesen, was sich der gegenwärtigen Bewegung der jungen Leute nicht mehr abzeichnet.
Deutschlandfunk Kultur: Ist das keine APO, keine außerparlamentarische Opposition?
Kraushaar: Das ist mir noch zu kurzsichtig betrachtet. Ich will auf Folgendes hinaus: Damals ging es um den Entwurf einer sozialistischen Gesellschaft. Man wollte einen Klassenkampf propagieren.
Deutschlandfunk Kultur: Und jetzt geht es um die Etablierung einer neuen politischen Kultur der Nachhaltigkeit.
Kraushaar: Ja. Also, ich glaube, das zentrale Wort lautet "System" oder "Systemfrage" bzw. "Systemkonflikt".
Deutschlandfunk Kultur: Stellen die jungen Leute jetzt auch die Systemfrage, unser gesamter Lebensstil, unsere Art des Wirtschaftens.
Kraushaar: Darauf will ich ja hinaus, um sozusagen diese Parallele oder Analogie herzustellen und gleichzeitig deutlich machen zu können, dass es einen qualitativen Unterschied gibt. Die damalige Systemfrage bedeutete, dass es einen Konflikt gab mit dem Kapitalismus. Man wollte den Kapitalismus abschaffen. Diejenigen, die heute auf die Straße gehen, wollen nicht den Kapitalismus und schon gar nicht den Konsum abschaffen. Das waren damals alles sozusagen die Feindbilder.
Heutzutage geht’s um einen anderen Konflikt. Es geht um eine Versöhnung dieser Welt durch die Lösung der Klimaproblematik. Und ich glaube aber, dass das ein Denkfehler ist.
Deutschlandfunk Kultur: Worin liegt der Denkfehler?
Kraushaar: Der Denkfehler besteht meines Erachtens darin, dass im Herzen dieser Klimaproblematik halt die Systemfrage steckt. Diese Klimaprobleme werden erzeugt durch eine Ökonomie, die auf andauerndes Wachstum abzielt und dadurch enorme Naturressourcen verschlingt und überhaupt keine Rücksicht nimmt. Wir haben das Beispiel mit der Verklappung der Meere durch Plastik und anderes mehr vor Augen. Da kann man erkennen, wie weit das geht und wie schwer das ist, überhaupt noch aufzuhalten und neu zu steuern oder zu korrigieren.
Für Lösung der Klima-Frage kapitalistisches System verändern
Deutschlandfunk Kultur: Das heißt, "Friday for Futures" müsste im Grunde sich weiterentwickeln und nicht fordern Veganismus und Wanderurlaub statt Steak und Wochenendflugreisen, sondern müsste die Systemfrage stellen, müsste sagen: Unsere Art des Wirtschaftens auf Wachstum ausgerichtet, auf Profit ausgerichtet, kann diese Welt nur kaputt machen.
Kraushaar: Ich weiß nicht, ob ich es genau in derselben Weise formulieren würde.
Deutschlandfunk Kultur: Gut, mit anderen Worten.
Kraushaar: Das ist sehr zugespitzt natürlich, aber ich denke auch, dass Greta Thunberg, die unglaublich rational ist, diese Systemfrage längst für sich ausgemacht hat und sich dieser Dinge sehr, sehr bewusst ist. Aber ich glaube nicht, dass die Bewegung als solche sich dieser Komplexität bewusst ist und dieser Anforderungen, dieser Hürde. Ich bin der festen Überzeugung, dass es keine Lösung der Klimaproblematik geben wird, ohne die Ökonomie und vor allem die internationale Finanzaristokratie – Börsen und Banken usw. – grundlegend zu verändern.
Solange man keine politischen Hebel zu entwickeln beginnt, um das zu verändern, solange wird es auch keine zufriedenstellende Lösung der Klimaproblematik geben.
Deutschlandfunk Kultur: Um das verändern zu können, muss man im Grunde den Marsch durch die Institutionen antreten - genau das tun, was viele dieser jungen Leute, die jetzt auf der Straße sind, gerade nicht wollen. Wenn man zum Beispiel mit Luisa Neubauer - eines der Gesichter hier auf dem deutschen Seite der Bewegung - redet, dann sagt sie, dass sie weniger als vor Beginn der Bewegung ein Interesse daran hätte, eine politische Laufbahn einzuschlagen.
Kraushaar: Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Sie besonders viele mit einem solchen Schlagwort, das ja damals von Rudi Dutschke aufgebracht worden war, werden locken können.
Keine Ochsentour durch die Institutionen
Deutschlandfunk Kultur: Nein, nicht mit dem Schlagwort. Aber ist es nicht Fakt, dass ich, wenn ich das System verändern will, das dann nur aus dem politischen System heraus machen kann und nicht von der Straße aus?
Kraushaar: Das muss nicht unbedingt so sein. Dafür ist natürlich die Bundesrepublik ein ganz schlechtes Beispiel. Wir haben es hier dankenswerterweise mit einer sehr stabilen Demokratie zu tun. Aber es hat sich gezeigt beispielsweise in Ägypten, als das Mubarak-Regime beiseite gefegt worden ist, dass man durch eine bestimmte Potenzierung des Straßenprotestes in der Lage ist, ein Regime auch wirklich zu verdrängen und zu ersetzen durch andere politische Lösungen.
Das ist nicht - jedenfalls in einer abstrakten Weise - Gesetz, dass wir unmittelbar angewiesen sind auf den langen Marsch durch die Institutionen und Einfluss auf Parlamentarismus, Parteien usw., also in gewisser Weise diese Ochsentour, die sich von diesen ganz jungen Leuten ohnehin – ich finde, auch dankenswerterweise – noch keiner so richtig vorstellen kann oder will. Wahrscheinlich wird ihnen letztlich nichts anderes übrig bleiben. Das kann schon so sein. Aber zunächst einmal ist es ja denkbar, dass durch eine besonders kluge Überlegung und zwar in taktischer Hinsicht, wo nämlich diese Demonstrationen ansetzen sollen, an welchen Orten, an welchen Fragen – ich nenne zum Beispiel das Bundesverkehrsministerium oder ich nenne das Bundeslandwirtschaftsministerium - wenn man da spezifiziert, wird man sehr viel mehr Druck erzeugen können.
Und ich setze nach wie vor auf Fragen der Legitimität und der öffentlichen Mobilisierung und nicht gleich auf die Frage mit den Parlamenten. Denn bis diejenigen, die heutzutage dieses Bewusstsein haben von der Notwendigkeit der Änderungen in der Umweltpolitik, bis die dann so weit sind… Das wissen wir alles nicht, was mit denen selber geschehen ist, was mit den großen Koordinaten geschehen ist. Das halte ich für ganz offen.
Gefahr von Radikalisierung der Klima-Proteste gering
Deutschlandfunk Kultur: Sehen Sie die Gefahr der Radikalisierung?
Kraushaar: Die ist relativ gering in der Fridays for Future-Bewegung. Wenn man das beispielsweise mit der Gelbwesten-Bewegung in Frankreich vergleicht, da haben wir es ja vor Augen, dass Wochenende für Wochenende eine enorme Militanz und Zerstörungswut dort ausgelebt wird. Aber ich glaube, dass auch die Versuche, von autonomen Gruppierungen, da anzudocken, die sind bisher nicht sonderlich weit gediehen. Ich glaube, dass man momentan nicht von einer Art dieser Gefährdung sprechen kann.
Deutschlandfunk Kultur: Vielleicht auch deshalb, weil es meistens eben doch Angehörige der bunten Mittelschicht sind, die da auf die Straßen gehen, die vielleicht mit weniger Gewaltbereitschaft an das Thema von vornherein herangehen.
Kraushaar: Das kann sein. Allerdings wäre ich auch in dieser Hinsicht vorsichtig. Ich habe sehr viele sozusagen Repräsentanten der Mittelschicht über fünfzig Jahre erlebt, die überhaupt keine Probleme hatten, jetzt auf eine bestimmte Militanz umzuschalten. Das ist nicht unbedingt eine Schichten-Frage.
Deutschlandfunk Kultur: Bei Erfolglosigkeit folgt Militanz?
Kraushaar: Oder Frustration und das Fallenlassen von Dingen - also, da gibt es ganz viele unterschiedliche Reaktionsformen. Ich würde das nicht auf einen solchen Reaktionsmechanismus versuchen herunterzurechnen.