Die Entmenschlichung des Gegners
Angriffe gegen Flüchtlinge, Attacken gegen Polizisten: Für den Politologen Albrecht von Lucke folgt die Gewalt von Rechts- und Linksextremisten einem bestimmten Muster, nämlich "den Gegner zu entmenschlichen, zum Feind zu machen" - mit fataler Konsequenz.
Das Operieren mit dem Feindbegriff sieht Albrecht von Lucke als eine "dramatische Konsequenz, die aus einem nicht mehr demokratischen Denken" erwachse: Wenn es einen "Feind" gebe, sei aus Sicht Links- wie auch Rechtsradikaler eine Kommunikation nicht mehr möglich: "Es geht eigentlich nur noch um den Kampf auf die Frage hin, wer der Stärkere der beiden ist."
Kommunikation mit dem "Feind" ist unmöglich
Dass man sich nicht mehr der "intellektuellen Auseinandersetzung" stelle, sei gerade auch in Berlin ein Problem der linksautonomen Szene. Diese hatte am vergangenen Wochenende bei Protesten gegen die Räumung eines besetzten Hauses massiv Polizisten angegriffen.
Auch hier entdeckt von Lucke Ähnlichkeiten mit der rechten Szene:
"Was auf der Rechten das 'reine deutsche Volk' ist, ist auf der Linken zum Teil das 'gute Volk' gegen die 'bösen Eliten', die ganze Bezirke vermeintlich überrollen und im Namen des Kapitals (besetzen)."
Das "gute Volk" müsse sich also gegen das "böse System" verteidigen, so der Redakteur der "Bätter für deutsche und internationale Politik". Da seien rechts- wie linksradikale Argumentationsmuster "ziemlich gleich."
Der Politologe sieht in den Berliner Gewaltexzessen eine alarmierende Entwicklung: Es werde nunmehr "sehr offen auch im Netz" damit hantiert, dass gegebenenfalls Menschen auf der Strecke bleiben könnten:
"'Klassenfeinde', 'Systemgegner', 'Bullenschweine' - das sind alles Begriffe der Entmenschlichung, die mitschwingen, die aber letztlich gar nicht immer ernst genommen werden, bis dann eines Tages die Umsetzung erfolgt - nämlich der Tod eines der Klassenfeinde in Kauf genommen wird."
Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Nicht, dass man diese Bilder aus Berlin und auch von Teilen der linksextremen Szene in ganz Deutschland nicht kennen würde – brennende Autos, Flaschen gegen "Bullenschweine" und Aufrufe "Stürzt Berlin ins Chaos". Über 120 Polizisten wurden bei der Demonstration rund um die Rigaer Straße in Berlin-Friedrichshain letztes Wochenende ja verletzt. Kenner der Szene sprechen von den gewalttätigsten Auseinandersetzungen seit Langem, und die Drohungen der sogenannten linken Aktivisten legen nahe, dass sie auch Menschenleben für ihren Kampf gefährden würden. Eine Konsequenz, wie man sie so in letzter Zeit nur von rechten Gewalttätern gegenüber Flüchtlingsheimen kennt.
Aber kann man, darf man das vergleichen? Albrecht von Lucke, Politikwissenschaftler und Redakteur der "Blätter für deutsche und internationale Politik", ist jetzt bei uns. Ich grüße Sie, schönen guten Morgen!
Albrecht von Lucke: Guten Morgen, Frau Brink!
Brink: Wie unterscheidet sich das, wenn wir erst mal bei den Linken bleiben, was wir da in Berlin erleben oder auch zum Teil in Hamburg – Auseinandersetzungen erinnere ich um das autonome Zentrum Rote Flora – von der autonomen Szene der früheren Jahre?
von Lucke: Das ist eine gute Frage. Es wurde ja sofort in Berlin mit der Überlegung hantiert, dass es sich um eine neue Qualität der Gewalt handele, die jetzt zum Ausdruck gekommen ist, und man muss ja schon sagen, dass die Tatsache, dass über 100 Polizisten verletzt wurden beim letzten Einsatz, wirklich eine gewaltige Dimension darstellt.
Ich glaube aber, dass die Kontinuitäten eigentlich eher überwiegen. Das ist die Tendenz – und das ist das große Problem – einer lang anhaltenden Tradition innerhalb der extremistischen, der radikalen Linken, den Unterschied zwischen Menschen und einem vermeintlichen System, was es anzugreifen gelte, nicht zu machen. Das heißt, man kann fast auf Ulrike Meinhof zurückgehen, wo ja dieser fatale Satz herkommt, Bullen sind Schweine, sinngemäß, und natürlich darf geschossen werden.
Das heißt, diese Gleichsetzung von Systemen mit einem Menschen, der dann auch im Namen einer – und das ist das zweite Problem – einer überlegitimen Gewalt angegriffen werden darf, diese Tradition gibt es fatalerweise schon lange. Und mittlerweile wird aber – und das macht vielleicht schon das Neue aus – sehr offen auch im Netz damit hantiert, dass gegebenenfalls Menschen auf der Strecke bleiben können, wenn sie sich, wie die sogenannten Bullenschweine, zum Büttel des Systems machen und dieses verteidigen, dann kann die Gewalt auch dazu führen, dass das Menschenleben aufs Spiel gesetzt wird.
Brink: Weil Sie gerade die RAF erwähnen und Ulrike Meinhof, da gab es ja einen ideologischen Überbau, aber wenn man sich das jetzt in der Rigaer Straße zum Beispiel anguckt, könnte man ja zynisch sagen, es geht ja gegen Flüchtlinge, denn Teile dieses Hauses würden ja geräumt, um Wohnungen für Flüchtlinge zu bauen. Was ist da für ein Zynismus zu beobachten?
"Alles Begriffe der Entmenschlichung"
von Lucke: Ja, das ist eine ironische Seite dieser Fragestellung tatsächlich. Es geht hier um die Räumung einer Kneipe, autonomen Kneipe im ersten Stock oder im Erdgeschoss, die letztlich Flüchtlingen zur Verfügung gestellt werden soll beziehungsweise dieser Raum. Das ist aber eine Argumentation, die in der Begründungslogik der radikalen Linken gar keine Rolle mehr spielt. Da geht es dann darum, die eigenen Freiräume zu verteidigen gegen die Investoren, denn sofort wird natürlich erklärt, dass diejenigen, die dort investieren, natürlich auch Teile eines anderen Systems sind, nämlich des kapitalistischen, und dann auch gleich der Klassenfeind, das muss man auch sehen.
Es findet so etwas statt wie eine Kategorisierung unter dem Begriff des Feindes, der damit gleichermaßen auch mit ziemlich allen Mitteln bekämpft werden kann. Das ist eine Leichtfertigkeit, mit der mit großen Begriffen auch übrigens hantiert wird, und das macht die zweite dramatische Seite aus neben der Verfeindung, dass letztlich heute immer dieser spielerische Umgang – und das ist ja das Fatale der Berliner, ich nenne es einmal "Gewaltfolklore" – auch der letzten Jahrzehnte, dass das Spielerische des Umgangs immer mitschwingt, dass man die Dramatik der Begrifflichkeiten gar nicht ernst nimmt.
Denn Klassenfeinde, Systemgegner, Bullenschweine, das sind alles Begriffe der Entmenschlichung, die mitschwingen, die aber letztlich gar nicht immer ernst genommen werden, bis dann eines Tages – und ich befürchte, es wird eines Tages möglicherweise wirklich passieren – dann die Umsetzung erfolgt, nämlich der Tod eines der Klassenfeinde, in dem Falle eher wahrscheinlich der beteiligten Polizisten in Kauf genommen wird, und das ist die Dramatik in dieser Hinsicht.
Brink: Sie haben das Stichwort gegeben: Entmenschlichung des Gegners. Das ist eine These, die Sie auch in einem Aufsatz kürzlich geschrieben haben, aber in diesem Aufsatz ging es um rechten Rassismus, um rechte Gewalt. Aber wenn ich Sie jetzt richtig verstehe, trifft das auch auf die angeblichen linken Täter zu.
"Abbruch demokratischen Denkens"
von Lucke: Ja, das Dramatische ist, wenn man mit dem Begriff des Feindes operiert, und das wird ja gleichermaßen auf der radikalen Rechten gemacht wie auf der radikalen Linken. Was in der alten Diktion der Rechten der Rassenfeind ist, in der rassistischen Überlegung "Der Jude ist unser Unglück", also gewissermaßen der Gefährder des Volkskörpers, des reinen, biologisch deutschen Volkskörpers, das ist in der radikal linken Tradition der Klassenfeind gewesen.
Und wir müssen uns schon bewusst machen, dass überhaupt das Operieren mit dem Feindbegriff die eigentliche dramatische Konsequenz ist, die aus einem nicht mehr demokratischen Denken erwächst. Und dieser Abbruch demokratischen Denkens, der ja den Gegner immer nur wahrnimmt, einen Gegner, mit dem man reden können muss, mit dem man auch Kompromisse schließen muss, der wird in der Radikalisierung des Denkens sowohl auf der radikalen Rechten wie auf der radikalen Linken in den Feind übersetzt.
Und wenn ein Feind da ist, dann kann man letztlich mit diesem keine Kommunikation mehr tätigen, sondern es geht eigentlich nur noch um den Kampf auf die Frage hin, wer der Stärkere der beiden ist – und da gibt es Parallelen.
Brink: Also wenn ich Sie richtig verstehe, dann würden Sie sagen, die Argumentationsmuster auf beiden Seiten, rechts wie links, die ähneln sich oder sind sogar gleich und münden dann in Gewalt.
Tradition totalitären Denkens
von Lucke: Es ist jedenfalls in der Feindbegrifflichkeit gleich, und das ist ein großes Problem. Und das ist eine Tradition, die man sich ja bewusst machen muss, in der Tradition auch des totalitären Denkens. Es gibt natürlich klassischerweise die alte Kritik an der Totalitarismus-Tradition von links, das ist die Überlegung, man dürfe die Extreme nicht gleichsetzen des letzten Jahrhunderts, darum geht es hier auch nicht.
Aber es geht schon darum, sich bewusst zu machen, dass in der Tradition sowohl des radikalen linken Denkens wie des radikal rechten Denkens es eine Tendenz dazu gab, den Gegner zu entmenschlichen, zum Feind zu machen, der eben nicht mehr kommunikationsfähig ist.
Und da gibt es natürlich klare Parallelen: Les extrêmes se touchent – das ist ein alter Begriff, die Extreme haben sich im letzten Jahrhundert extrem berührt. Man sieht das übrigens auch an den traditionellen Wechseln von Intellektuellen, von links nach rechts beziehungsweise andersrum von rechts nach links, in beiden Fällen, wenn wir nur an Figuren wie Horst Mahler beispielsweise denken, der von einem radikalen Linken in der RAF-Tradition zu einem – in der Konstanz übrigens auch – antisemitischen Rechten geworden ist. Also wir haben immer das Problem, dass eine derartige Feinddiktion dazu führt, dass man nicht mehr miteinander kommuniziert.
Das hat übrigens auch einen Grund: Die Feindüberlegung führt natürlich dazu, dass ich mich der intellektuellen Auseinandersetzung nicht mehr stellen muss. Und wir dürfen natürlich eines nicht vergessen: Gerade in Berlin haben wir es – und das ist ein großes Problem – in diesen Bereichen der besetzten Häuser oder der autonomen Szene auch mit Bereichen der Abschließung zu tun, die sich der Auseinandersetzung, der Erreichbarkeit mit linken Diskursen gar nicht mehr stellen.
Das ist auch eine ganz fatale Tradition, die man in viel radikaleren Phänomenen – ich will das beileibe nicht gleichsetzen –, aber in der RAF auch kannte. Am Schluss waren diese klandestinen kleinen Gruppen so isoliert, dass sie sich der Diskussion nicht mehr gestellt haben.
Brink: Ist das auch ein Grund, ganz kurze abschließende Frage, warum sich viele damit schwertun, linke Gewalt genauso wie rechte zu verurteilen?
"Das gute Volk gegen die bösen Eliten"
von Lucke: Ich glaube, das eigentliche Problem dahinter ist, dass die linke Gewalt in einer Stadt wie Berlin natürlich aus einem gemeinsamen Entstehungszusammenhang der alternativen Szene immer noch so etwas wie ein gewisses Verständnis erheischen kann und dass letztlich der vermeintliche linke Überbau, es im Sinne einer großen legitimen Sache zu tätigen, immer dazu führt, dass hier ein Mehr an Verständnis mitschwingt, wenn so etwas wie Rebellion, Subversion oder Auflehnung praktiziert wird.
Aber faktisch müssen wir uns wirklich die genauen Argumentationsmuster angucken, und dort ist die Einsetzung des Feindbegriffes und der Abbruch von Kommunikation, von Diskussion und auch wirklich von Selbstkritik eigentlich ziemlich identisch. Man immunisiert sich gegen Selbstkritik immer, indem man mit einem größeren argumentativen Überbau zu Felde zieht – was auf der Rechten das reine deutsche Volk ist, ist auf der Linken zum Teil, übrigens auch interessanterweise, das gute Volk gegen die bösen Eliten, die ganze Bezirke vermeintlich überrollen und im Namen des Kapitals besetzt werden, beziehungsweise das gute Volk sich also verteidigen muss gegen das böse System. Da sind die Argumentationsmuster ziemlich gleich.
Brink: Albrecht von Lucke, Politikwissenschaftler, Redakteur der "Blätter für deutsche und internationale Politik". Herr von Lucke, ich danke Ihnen für das Gespräch!
von Lucke: Ich danke Ihnen!
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