Politologe warnt vor neuer Gewalt in Ägypten
Der neue Präsident Ägyptens werde nach der Machtausweitung des Militärrates nur eine repräsentative Funktion haben, kritisiert der Politologe Hamed Abdel-Samad. Dagegen könnten mehr Menschen als zuvor auf die Straße gehen - "und dann wird's blutig".
Jan-Christoph Kitzler: Ägypten ist ein gutes Beispiel dafür, dass gesellschaftlicher Wandel nicht von heute auf morgen passiert. Im Februar 2011, also etwas vor über einem Jahr, jagten die Ägypter Hosni Mubarak vom Hof, den langjährigen Machthaber, und seitdem ist das Land auf dem Weg – aber führt dieser Weg auch in Richtung Demokratie? Immerhin haben die Ägypter ja inzwischen ein Parlament gewählt und auch einen Präsidenten. Spätestens übermorgen soll bekannt gegeben werden, wer denn die Präsidentenwahl gewonnen hat, der Kandidat der Muslimbrüder, Mohammed Mursi, oder Ahmed Schafiq, der Vertreter des alten Regimes.
Doch auch in den letzten Tagen hat es wieder heftige Rückschläge gegeben, die den Weg Ägyptens infrage stellen, und über die spreche ich nun mit dem deutsch-ägyptischen Politologen und Publizisten Hamed Abdel-Samad, den ich hier im Studio begrüße. Schönen guten Morgen!
Hamed Abdel-Samad: Guten Morgen!
Kitzler: Seit Beginn des Arabischen Frühlings waren Sie immer wieder in Ägypten, haben sich auch stark gemacht für die Sache der Freiheitsbewegung. Nun muss das Parlament neu gewählt werden, gleichzeitig gibt es noch keine neue Verfassung und die Militärs sichern sich die Macht, sodass inzwischen sogar schon vom Militärputsch die Rede ist. Stimmt dieses Wort, Militärputsch?
Abdel-Samad: Auf jeden Fall ist es ein sanfter Militärputsch, ohne dass die Panzer rollen müssen. Es ist ein Verfassungsputsch, der Militärrat hat die Macht über die Legislative im Land und lässt Gesetze verabschieden, die die Zukunft Ägyptens auch langfristig beeinflussen werden, zum Beispiel über seine eigene Macht. Der neue Präsident – laut dieser neuen Verfassungserklärung, die eigentlich nur ein Dekret ist – wird eine repräsentative Funktion haben, so wie der Bundespräsident in Deutschland, und das ist natürlich ein Rückschlag für die Demokratie. Wenn ein Präsident vom Volk gewählt wird und trotzdem nicht regieren darf, dafür regieren aber die 19 Männer im Militärrat, die Mubarak damals gesetzt hat, um seine Macht zu sichern, das hat mit Demokratie überhaupt nichts zu tun.
Kitzler: Aufgrund dieser Fakten, die Sie da ansprechen, der Macht des Militärs, gilt nicht eigentlich die Regel, – beide erklären sich jetzt erst mal als Sieger, noch ist nicht klar, wer gewonnen hat, vermutlich Mursi, nimmt man an –, aber muss man nicht am Ende sagen, beide sind die Verlierer dieser Entwicklung?
Abdel-Samad: Beide sind die Verlierer, und natürlich die Demokratiebewegung insgesamt in Ägypten ist Verlierer. Aber das kommt davon, wenn man nicht die richtigen Schritte hintereinander macht. Und der Militärrat hat das entweder aus Unvermögen oder aus purem Kalkül von Anfang an abgelehnt, dass zuerst die Verfassung kommt, dann die Wahlen, dann die Präsidentschaftswahlen, weil er eben vermutlich dieses Verfassungsvakuum haben wollte, um Spielraum zu haben, neue Gesetze zu verabschieden, immer die Fäden in der Hand zu behalten, aus einem einfachen Grund, weil der Militärrat viele Leichen im Keller hat und er mit dem alten Regime von Mubarak in vielen Geschäften, Geldgeschäften Land verkauft, Waffengeschäfte, illegal, verwickelt war und Angst hat, dass diese Akten nun in einem demokratischen Ägypten aufgemacht werden, dass die Zeit der Diktatur auch umfassend aufgearbeitet wird, dann müssen eigentlich diese 19 Männer auch im Gefängnis landen, und das will man mit aller Macht vermeiden.
Kitzler: Das große Argument für die Militärs ist ja: Wir, die Militärs, wir sorgen dafür, dass das Land stabil bleibt, dass die Verhältnisse stabil bleiben, dass nicht wieder Gewalt ausbricht. Ist das nicht ein Argument, was viele Ägypter auch überzeugt?
Abdel-Samad: Das ist ein Argument, mit dem Mubarak 30 Jahre lang seine Diktatur rechtfertigen konnte. Und sollte es eine Lehre geben aus der Revolution, aus der Zeit von Mubarak, dann ist diese Lehre oder lautet diese Lehre: Niemand darf über dem Gesetz stehen, kein Mensch und keine Institution. Für Stabilität kann in Ägypten nur eine stabile Verfassung, eine demokratische Verfassung, die die Gewalten teilt, die eine klare Linie zwischen Legislative und Exekutive zieht. Im Moment behält der Militärrat nach den Wahlen sowohl die Legislative als auch die Exekutive, das ist gefährlich, das hat mit Stabilität nichts zu tun, sondern mit Stagnation und mit Rückkehr zu den alten Zeiten, zu der Militärdiktatur.
Kitzler: Der Militärrat hat die Macht, bis ein neues Parlament gewählt wird, gleichzeitig bestimmt der Militärrat auch, wie die Verfassung geschrieben wird letztendlich, hat sich da große Mitspracherechte gesichert und, das haben wir angesprochen, der Präsident, der gewählt ist, ist eine schwache Gestalt. Was macht Sie denn überhaupt zuversichtlich, dass Ägypten trotzdem in die richtige Richtung gehen kann?
Abdel-Samad: Weil die Ägypter sich selbst ermächtigt haben, weil die Mauer der Angst gefallen ist. Der Militärrat taktiert sehr gut, weiß ganz genau, wie man die Muslimbrüder ein bisschen unterhält, dann die Macht ihnen auch, oder den Wind aus den Segeln nimmt, wie die demokratische Opposition aufgesplittert wird, das weiß der Militärrat ganz gut. Womit der Militärrat nie rechnen konnte, ist die Wut der Menschen, die jetzt sich selbst ermächtigt haben, die keine Herrschaftstreue mehr haben, die keine Angst mehr haben, und wenn sie nicht merken, dass die Ziele, wofür sie gekämpft haben vor 15 Monaten, nicht erzielt werden, dann werden sie wieder auf die Straße gehen, dann werden sie auch den Militärrat umzingeln, und dann wird's blutig. Die zweite Welle der Revolution wird viel gewalttätiger werden als die erste Welle.
Kitzler: Wie wahrscheinlich ist das, dass es dazu kommt?
Abdel-Samad: Es ist sehr wahrscheinlich, weil wenn das Land immer ins Ungewisse rutscht, wenn keine politische und wirtschaftliche Stabilität einkehrt, dann werden nicht nur die gebildeten jungen Menschen mit Laptops und Handys auf den Tahrir-Platz gehen, sondern die Hungrigen, die Arbeitslosen, die Jungs aus den Slums, und sie werden eine ganz andere Dimension in diese Revolution bringen, nämlich eine gewaltsame.
Kitzler: Die Proteste auf der Straße haben eine große Macht, das ist klar. Aber am Ende, wenn es wirkliche Reformen geben soll, dann muss es Institutionen geben, die das umsetzen. Die sind ja jetzt zurzeit bei weitem nicht in Sicht, oder?
Abdel-Samad: Ja, weil der Militärrat auch diese Prozesse torpediert und verhindert. Damit gesunde demokratische Institutionen entstehen, da müssen die alten Institutionen bereinigt werden von der Macht des alten Regimes – Verfassungsgericht, das Justizwesen insgesamt, Militär und Polizei gehören dazu –, und die riesige Bürokratie. Es gibt in Ägypten einen tiefen Staat, den Mubarak über drei Jahrzehnte lang aufgebaut hat, und dieser tiefe Staat muss gedrungen werden durch Reformen. Und damit die Reformen stattfinden, dann brauchen wir eine neue Verfassung, brauchen wir ein frei gewähltes, demokratisches Parlament, und brauchen wir natürlich Gewaltenteilung.
Ich finde, die Balance zwischen Militärrat und Muslimbrüdern im Moment in Ordnung, damit die demokratischen Kräfte vielleicht außerparlamentarisch sich neu organisieren können und neue Parteien gründen können, und das geschieht zurzeit auch: Neue demokratische Parteien haben jetzt einen Riesenzulauf, und ihnen gehört die Zukunft, wenn die politische Führung jetzt auch mitmacht.
Kitzler: Noch ganz kurz zum Schluss, was erwarten Sie nach dem Donnerstag? Was passiert, wenn das Ergebnis verkündet wird?
Abdel-Samad: Also ich glaube, dass Mursi gewinnen wird, und dann wird ein sanfter Machtkampf zwischen den Muslimbrüdern und dem Militärrat stattfinden. Die Muslimbrüder wären sehr gut beraten, zurück zum Volk zu kehren, sich auf keine Machtspielchen dann einzulassen, sondern klipp und klar zu sagen, wir haben unsere Legitimation von der Straße, und Straße bedeutet jeder in Ägypten, nicht nur die Muslimbrüder, sondern auch die Kopten, die Liberalen und die Linken, und man sollte eine Einheitsregierung bilden und den Militärrat unter Druck setzen. Das Militär ist wichtig, aber das Militär darf nicht Mubarak zwei werden.
Kitzler: Hamed Abdel-Samad, deutsch-ägyptischer Politologe und Publizist. Haben Sie vielen Dank, und schön, dass Sie hier bei uns im Studio waren!
Abdel-Samad: Danke Ihnen auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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Doch auch in den letzten Tagen hat es wieder heftige Rückschläge gegeben, die den Weg Ägyptens infrage stellen, und über die spreche ich nun mit dem deutsch-ägyptischen Politologen und Publizisten Hamed Abdel-Samad, den ich hier im Studio begrüße. Schönen guten Morgen!
Hamed Abdel-Samad: Guten Morgen!
Kitzler: Seit Beginn des Arabischen Frühlings waren Sie immer wieder in Ägypten, haben sich auch stark gemacht für die Sache der Freiheitsbewegung. Nun muss das Parlament neu gewählt werden, gleichzeitig gibt es noch keine neue Verfassung und die Militärs sichern sich die Macht, sodass inzwischen sogar schon vom Militärputsch die Rede ist. Stimmt dieses Wort, Militärputsch?
Abdel-Samad: Auf jeden Fall ist es ein sanfter Militärputsch, ohne dass die Panzer rollen müssen. Es ist ein Verfassungsputsch, der Militärrat hat die Macht über die Legislative im Land und lässt Gesetze verabschieden, die die Zukunft Ägyptens auch langfristig beeinflussen werden, zum Beispiel über seine eigene Macht. Der neue Präsident – laut dieser neuen Verfassungserklärung, die eigentlich nur ein Dekret ist – wird eine repräsentative Funktion haben, so wie der Bundespräsident in Deutschland, und das ist natürlich ein Rückschlag für die Demokratie. Wenn ein Präsident vom Volk gewählt wird und trotzdem nicht regieren darf, dafür regieren aber die 19 Männer im Militärrat, die Mubarak damals gesetzt hat, um seine Macht zu sichern, das hat mit Demokratie überhaupt nichts zu tun.
Kitzler: Aufgrund dieser Fakten, die Sie da ansprechen, der Macht des Militärs, gilt nicht eigentlich die Regel, – beide erklären sich jetzt erst mal als Sieger, noch ist nicht klar, wer gewonnen hat, vermutlich Mursi, nimmt man an –, aber muss man nicht am Ende sagen, beide sind die Verlierer dieser Entwicklung?
Abdel-Samad: Beide sind die Verlierer, und natürlich die Demokratiebewegung insgesamt in Ägypten ist Verlierer. Aber das kommt davon, wenn man nicht die richtigen Schritte hintereinander macht. Und der Militärrat hat das entweder aus Unvermögen oder aus purem Kalkül von Anfang an abgelehnt, dass zuerst die Verfassung kommt, dann die Wahlen, dann die Präsidentschaftswahlen, weil er eben vermutlich dieses Verfassungsvakuum haben wollte, um Spielraum zu haben, neue Gesetze zu verabschieden, immer die Fäden in der Hand zu behalten, aus einem einfachen Grund, weil der Militärrat viele Leichen im Keller hat und er mit dem alten Regime von Mubarak in vielen Geschäften, Geldgeschäften Land verkauft, Waffengeschäfte, illegal, verwickelt war und Angst hat, dass diese Akten nun in einem demokratischen Ägypten aufgemacht werden, dass die Zeit der Diktatur auch umfassend aufgearbeitet wird, dann müssen eigentlich diese 19 Männer auch im Gefängnis landen, und das will man mit aller Macht vermeiden.
Kitzler: Das große Argument für die Militärs ist ja: Wir, die Militärs, wir sorgen dafür, dass das Land stabil bleibt, dass die Verhältnisse stabil bleiben, dass nicht wieder Gewalt ausbricht. Ist das nicht ein Argument, was viele Ägypter auch überzeugt?
Abdel-Samad: Das ist ein Argument, mit dem Mubarak 30 Jahre lang seine Diktatur rechtfertigen konnte. Und sollte es eine Lehre geben aus der Revolution, aus der Zeit von Mubarak, dann ist diese Lehre oder lautet diese Lehre: Niemand darf über dem Gesetz stehen, kein Mensch und keine Institution. Für Stabilität kann in Ägypten nur eine stabile Verfassung, eine demokratische Verfassung, die die Gewalten teilt, die eine klare Linie zwischen Legislative und Exekutive zieht. Im Moment behält der Militärrat nach den Wahlen sowohl die Legislative als auch die Exekutive, das ist gefährlich, das hat mit Stabilität nichts zu tun, sondern mit Stagnation und mit Rückkehr zu den alten Zeiten, zu der Militärdiktatur.
Kitzler: Der Militärrat hat die Macht, bis ein neues Parlament gewählt wird, gleichzeitig bestimmt der Militärrat auch, wie die Verfassung geschrieben wird letztendlich, hat sich da große Mitspracherechte gesichert und, das haben wir angesprochen, der Präsident, der gewählt ist, ist eine schwache Gestalt. Was macht Sie denn überhaupt zuversichtlich, dass Ägypten trotzdem in die richtige Richtung gehen kann?
Abdel-Samad: Weil die Ägypter sich selbst ermächtigt haben, weil die Mauer der Angst gefallen ist. Der Militärrat taktiert sehr gut, weiß ganz genau, wie man die Muslimbrüder ein bisschen unterhält, dann die Macht ihnen auch, oder den Wind aus den Segeln nimmt, wie die demokratische Opposition aufgesplittert wird, das weiß der Militärrat ganz gut. Womit der Militärrat nie rechnen konnte, ist die Wut der Menschen, die jetzt sich selbst ermächtigt haben, die keine Herrschaftstreue mehr haben, die keine Angst mehr haben, und wenn sie nicht merken, dass die Ziele, wofür sie gekämpft haben vor 15 Monaten, nicht erzielt werden, dann werden sie wieder auf die Straße gehen, dann werden sie auch den Militärrat umzingeln, und dann wird's blutig. Die zweite Welle der Revolution wird viel gewalttätiger werden als die erste Welle.
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Kitzler: Noch ganz kurz zum Schluss, was erwarten Sie nach dem Donnerstag? Was passiert, wenn das Ergebnis verkündet wird?
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Kitzler: Hamed Abdel-Samad, deutsch-ägyptischer Politologe und Publizist. Haben Sie vielen Dank, und schön, dass Sie hier bei uns im Studio waren!
Abdel-Samad: Danke Ihnen auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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