Tödlicher Polizeieinsatz

Ist die Polizei auf Ausnahmesituationen vorbereitet?

07:39 Minuten
Im Beisein von Dortmunds Oberbürgermeister Thomas Westphal findet in der Abu-Bakr-Moschee ein Trauergottesdienst statt. Die dortige Gemeinde feiert mit dem Gedenkgottesdienst Abschied von dem bei einem Polizeieinsatz getöteten Jugendlichen.
Ein Trauergottesdienst bei dem der Imam vor dem Sarg redet und das Publikum zuhört. © picture alliance / dpa / Roberto Pfeil
Von Vivien Leue · 29.08.2022
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In Dortmund-Nordstadt hat die Polizei vor drei Wochen einen minderjährigen, unbegleiteten 16-jährigen Flüchtling aus dem Senegal erschossen. Seitdem hofft nicht nur die Nordstadt auf Aufklärung. Auch die Polizei fragt sich: Wie konnte das passieren?
„Bei uns in der Behörde, bei den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen hat dieser Vorfall mit diesem Ausgang, mit dem tragischen Tod eines Jugendlichen für absolute Bestürzung und Betroffenheit gesorgt“, sagt der Dortmunder Polizeipräsident Gregor Lange. Er ergänzt, dass tödlicher Schusswaffengebrauch eine absolute Ausnahme sei.
Statistisch gesehen ist das so, aber trotzdem häuften sich die Fälle zuletzt: Wenige Tage vor dem Dortmunder Einsatz stirbt ein Man bei einer Zwangsräumung in Köln. Er soll mit einem Messer auf die Beamten losgegangen sein, die deshalb auf ihn schossen. Kurz davor ein ähnlicher Vorfall in Frankfurt – auch hier trafen Polizeischüsse einen Mann tödlich.

Wie geht es weiter?

Ist die Polizei ausreichend auf Angreifer mit Messern trainiert, kann sie auch mit psychisch kranken Menschen umgehen? Diesen Fragen widmet sich mittlerweile auch der Landtag in Nordrhein-Westfalen. Der SPD-Abgeordnete Sven Wolf sagt:
„Ich glaube, die Anzahl der Menschen, die psychische Auffälligkeiten haben, nimmt zu. Und deswegen ist für uns eine zentrale Frage: Sind alle Polizistinnen und Polizisten Nordrhein-Westfalens dafür ausgebildet, oder muss man dann nachsteuern, damit jeder in so einer Situation damit umgehen kann?“
Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul verweist auf die laufenden Ermittlungen der Staatsanwaltschaft. Für Veränderungen bei der Polizei sei es noch zu früh:
"Man muss die Fakten kennen, dann muss man nachdenken und bewerten, dann werden Folgerungen gezogen, und das wird zwingend so sein. Aber ich kann doch nicht handeln, bevor ich weiß, was passiert ist.“

Ist Rassismus im Spiel?

Offiziell bekannt ist bisher: Der Getötete in Dortmund hatte ein Messer, das er im Laufe des Einsatzes auch gegen die Polizei gerichtet haben soll. Elf Beamte waren vor Ort, setzten zuerst Reizgas ein, dann den Elektroschocker, den sogenannten Taser, und schließlich eine Maschinenpistole. Sechs Schüsse wurden abgefeuert. Fünf davon trafen den 16-Jährigen.
Die Grünen-Abgeordnete Verena Schäffer zeigt sich besorgt darüber, was ihr viele Menschen seit der Tat berichten:
„Wenn uns Menschen mit Migrationsgeschichte, wenn uns schwarze Deutsche berichten, dass sie im Umgang mit Behörden immer wieder auch Diskriminierungserfahrungen machen. Dass sie zum Beispiel an Bahnhöfen stärker kontrolliert werden und sich daraus ergibt, dass es auch einen gewissen Vertrauensverlust in die Arbeit der Polizei, in die Arbeit anderer staatlicher Behörden gibt. Dann finde ich, dann müssen wir das als Politikerinnen und Politiker sehr ernst nehmen.“
Rassismus – der Verdacht trifft Polizeipräsident Gregor Lange hart.
„Wir kümmern uns schon seit einigen Jahren um die Themen interkulturelle Kompetenz, Werteorientierung, Antirassismusarbeit – was gerade, und das ist für mich auch noch einmal das Tragische, was gerade in den letzten Wochen und Monaten für uns ein Schwerpunktthema gewesen ist.“
Die Polizei sucht den Kontakt mit der Gesellschaft
Die Nordstadt ist geprägt von Armut und Zuwanderung, dabei aber auch bunt und lebendig. Zugleich kommt es immer wieder zu Straftaten: Raub, Straßenkriminalität, Körperverletzung, so Lange.
„Wir haben natürlich auch mit Repression zu tun. Das dürfen wir auch nicht wegwischen. Das ist auch ein wichtiger Bestandteil in einem Stadtteil, der vor fünf, sechs, sieben Jahren als – ich finde auch damals schon unberechtigt – von vielen als No-go-Area bezeichnet worden ist.“
Damit die tägliche Arbeit mit Intensivtätern und Kleinkriminellen nicht zu Vorurteilen führt, lege die Nordwache besonderen Wert auf Fluktuation innerhalb des Kollegenkreises. Und: Durch unzählige Netzwerke mit zivilgesellschaftlichen Gruppen würden Kontakte in das Viertel gepflegt.
„Gerade wenn wir an bestimmten Stellen durchaus auch mit polizeilicher Konsequenz vorgehen müssen, um bestimmte kriminelle Strukturen, um mit Intensivtäterstrukturen, um bandenmäßige Strukturen tatsächlich auch angehen zu können, muss man auch die andere Seite bedienen.“

Die Kriminalitätsrate sinkt

Also mit den Menschen ins Gespräch kommen, im wahrsten Sinne des Wortes „Freund“ und Helfer sein. Blickt man in die Statistik, scheint das gut zu laufen: Zwischen 2014 und 2021 ging die Zahl der Straftaten in der Dortmunder Nordstadt von insgesamt mehr als 17.000 auf etwa 10.800 zurück. Die Straßenkriminalität, die für das Sicherheitsgefühl der Menschen besonders wichtig ist, sank um mehr als die Hälfte auf gut 2.000 Taten pro Jahr.
„Das haben wir nicht alleine geschafft", so Lange: "Wenn man von 17.000 Straftaten auf 10.000 Straftaten runterkommt, dann geht das nur mit einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit der Bevölkerung.“
Der Polizeieinsatz vor drei Wochen, der mit dem Tod des 16-jährigen Flüchtlings endete, überschattet diese positive Bilanz aktuell und bringt stattdessen Wut und Frustrationen ans Licht.

Schafft mehr Diversität Abhilfe?

Veye Tatah lebt seit gut 30 Jahren in Deutschland, hat hier studiert, als Informatikerin gearbeitet und mittlerweile ihre eigene Firma. Zudem engagiert sie sich für Integration und Chancengerechtigkeit.
„Ich bin eine schwarze Frau. Wenn man nicht weiß ist, man spürt alltäglich, dass die Polizei anders mit Menschen, die nicht blond sind, spricht. Man wird sofort geduzt, man wird sofort unfreundlich.“
Sie plädiert für mehr Diversität innerhalb der Sicherheitsbehörden:
„Wenn die Polizei bunter wird, dann haben die biodeutschen Polizisten auch Kollegen aus anderen Ländern. Und wenn man miteinander arbeitet, Freundschaften schließt, sieht man die Sachen anders. Die Polizei steht jetzt im Mittelpunkt, aber das gilt auch für andere Institutionen in diesem Land.“
In Nordrhein-Westfalen und insbesondere auch in Dortmund wird versucht, mehr Menschen mit Migrationsgeschichte in die Behörden – auch die Polizei – zu holen. Zum Beispiel über mehrsprachige Job-Anzeigen. Aber solche strukturellen Veränderungen brauchen Zeit.
Die schwarz-grüne Landesregierung hat zudem vereinbart, im Landtag einen unabhängigen Polizeibeauftragten zu installieren, der Beschwerden nachgehen und Aufklärung vorantreiben soll.
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