"Es gibt keine Gerechtigkeit"
Polizeigewalt gegen Schwarze in den USA ist an der Tagesordnung. Doch oft werden die Täter von der Justiz nicht zur Rechenschaft gezogen. Dennoch zeigt sich die US-Autorin Angie Thomas optimistisch: "Man sieht, dass immer mehr Leute aufwachen und ihre Stimmen erheben."
Ute Welty: Ich hätte nicht auf diese Party gehen sollen. Dieser Satz verheißt nichts Gutes und steht am Anfang des Debütromans von Angie Thomas, "The Hate U Give" – ein Roman über Polizeigewalt gegen schwarze Jugendliche. Im Mittelpunkt steht Starr, die mit ihren 16 Jahren erleben muss, wie ihr Freund seit Kindertagen während einer Polizeikontrolle sein Leben verliert. Ihr Buch stellt die amerikanische Schriftstellerin unter anderem auf dem internationalen Literaturfestival in Berlin vor, heute im Rahmen von Workshop, Gespräch und Lesung. Vorher haben wir uns hier in "Studio 9" zum Interview getroffen, und ich habe Angie Thomas gefragt, wie viel Angie in Starr steckt, denn wie Starr musste auch Angie in ihrer Jugend Gewalt erleben, und diese Jugend ist noch gar nicht so lange her.
Angie Thomas: Erst mal fühle ich mich natürlich sehr geehrt, dass Sie glauben, meine Jugend sei noch nicht so lange her, aber ja, es stimmt, Angie und Starr sind sich auf jeden Fall sehr ähnlich. Ich habe auch in einer sehr ähnlichen Gegend, einer ähnlichen Nachbarschaft gewohnt. Die Ähnlichkeiten basieren alle auf den negativen Gründen, die da auftauchen, also in der Hood, wie wir es genannt haben – die ganzen Gangs, die es dort gab, die Gewalt, die dort Alltag war. Als ich sechs Jahre alt war, geriet ich einmal wirklich ins Kreuzfeuer von zwei Dealern, die sich gegenseitig beschossen haben. Danach hat mich meine Mutter mit in eine Bibliothek genommen, und das hat wirklich mein Leben verändert.
"Durch die Welt der Bücher habe ich ganz andere Einblicke gewonnen"
Ich hab dann durch sie gelernt, dass es mehr in der Welt gibt. Durch die Welt der Bücher hab ich ganz andere Einblicke gewonnen und habe dann tatsächlich auch wie Starr in zwei verschiedenen Welten gelebt. Das lag auch daran, dass ich eine hauptsächlich von Weißen besuchte Schule besucht habe, eine Privatschule wie sie, und das war eine ganz andere Realität als in dem Viertel, in dem ich immer noch gewohnt habe. Auch als ich dann auf die Uni ging, war das eine andere Realität. Abgesehen davon hegen wir beide Vorlieben für eine bestimmte Art von Schuhen oder auch für den "Fresh Prince of Bel-Air". Aber die 16-jährige Angie, also ich selber, war definitiv nicht so selbstsicher wie die 16-jährige Starr aus dem Roman.
Welty: Wenn Sie sagen, es gibt verschiedene Welten, es gibt verschiedene Realitäten, welche Herausforderungen ergeben sich daraus, was die Art der Kommunikation angeht, die Art des Sichbewegens in der jeweiligen Szene?
Thomas: In zwei Welten zu leben als schwarze Frau in den USA bedeutet, dass man ständig coatswitchen muss, das heißt, dass man seine Sprache anpassen muss, seine Art, sich auszudrücken, man muss aufpassen, wie man gerade spricht, um nicht in die Situation zu geraten, dass seine Intelligenz angezweifelt würde. Wenn man zum Beispiel bestimmte Ausdrücke verwendet, dann greift das Stereotyp, das ist die Sprache der Schwarzen, diese Person muss ignorant sein. Diese Stereotypen werden einem gleich schnell zugeschrieben. Und Starr muss natürlich auch aufpassen, nicht zu aggressiv zu wirken, nicht zu stark rüberzukommen, sonst wird sie als schwarze Frau nicht akzeptiert.
Mir hat neulich jemand gesagt, dass das nicht nur für schwarze Frauen gilt, sondern für Frauen allgemein, dass das ein universelles Problem ist, dass man als Frau nicht zu stark, nicht zu kräftig erscheinen darf in männlich dominierten Räumen, denn sonst wird man ganz schnell darüber definiert, und man möchte sich natürlich lieber selbst definieren. Starrs Kampf und auch mein Kampf als schwarze Frau in den USA geht genau darum, dass ich mich eben selber definieren möchte als Person und nicht andere das machen lassen möchte oder Stereotypen greifen lassen möchte.
Welty: Der Fall, der Ihnen offenbar nicht aus dem Kopf geht, der Sie motiviert hat, dieses Buch zu beginnen, der spielte sich 2009 ab – damals wurde Oscar Grant in Oakland von einem Polizisten erschossen. Was bewegt Sie besonders, wenn Sie an Oscar Grant denken?
Thomas: Wenn ich an Oscar Grant denke, denke ich, dass der Tod dieses jungen Mannes vielen Leuten in den USA die Augen geöffnet hat. Polizeigewalt war ja überhaupt nichts Neues. Neu waren die Smartphones oder Social Media und so weiter, aber sein Tod war zum ersten Mal gefilmt worden, man konnte ihn sehen, so wie es passiert war. Das Problem dabei war, dass sein Lebensweg dazu benutzt wurde, um diesen Mord zu rechtfertigen, dass man versucht hat, ihm sozusagen eine Mitschuld in die Schuhe zu legen. Und das ist auch wieder passiert mit Trayvon Martin. Man sah sich seine Schulnoten an, seinen Verlauf, seine Karriere in der Schule, um zu gucken, wie er denn gelebt hat, obwohl er doch das Opfer war, und das läuft genau verkehrt herum.
Genauso ist es mit Michael Brown passiert und mit einigen anderen auch. Immer, wenn junge schwarze Männer oder Frauen ermordet werden, findet jetzt eine regelrechte Hexenjagd statt, in der man versucht, irgendwelche Details in ihrem Leben zu finden, die diese Erschießung hätten rechtfertigen können. Bei Oscar war das eben zum ersten Mal so augenscheinlich, und wir sehen hier diese schreckliche Ungerechtigkeit, die in den USA so oft an der Tagesordnung ist.
Welty: Es gibt aber nicht nur diese Form von Hexenjagd, die Sie beschreiben, auf den Tod von Oscar Grant haben die Menschen mit Wut, Trauer und Anteilnahme reagiert, und das hat sich bei den vielen anderen wiederholt, deren Namen Sie ja auch genannt haben. Ihre Hauptfigur Starr sagt an einer Stelle, Leute wie wir werden in solchen Situationen zu Hashtags, aber Gerechtigkeit kriegen sie kaum einmal. Heißt das, man kann sich die Anteilnahme sparen?
"Wir brauchen definitiv mehr Anteilnahme"
Thomas: Nein, wir brauchen definitiv mehr Anteilnahme. Das Problem ist ja, dass die amerikanische Justiz nicht für die Opfer kämpft, dass sie sich nicht für diese Opfer einsetzt. Die Täter werden kaum jemals zur Rechenschaft gezogen, und wenn, dann nie für Mord. Und so kommt es, dass die Leute sagen, wir werden Hashtags, aber wir erhalten keine Gerechtigkeit. Persönlich spüren die Leute natürlich die Anteilnahme, und das tut auch gut, aber die Justiz entspricht dem nicht. In den USA sind wir einfach als Bürger wütend, dass die Polizei außerhalb der Gesetze zu stehen scheint. Wir sind der Meinung, dass sie wenigstens ebenso zur Rechenschaft gezogen werden sollten wie normale Leute, wie Bürger, die jemanden auf der Straße erschießen. Aber das ist nicht der Fall, und das ist das Problem, dass es keine Gerechtigkeit gibt. Es gibt zwar die Reaktionen der normalen Leute, aber keine Gerechtigkeit vonseiten des Systems.
Welty: Was kann eine Bewegung wie Black Lives Matter in dieser Hinsicht erreichen, mehr Gerechtigkeit zu erlangen?
Thomas: Oh ja, absolut. Black Lives Matter als Bewegung hat ja überhaupt diese Thematik sichtbar gemacht, das hat unsere Stimmen lauter werden lassen, und die ganze Bewegung hat für einen Aufschrei in der Gesellschaft gesorgt, vor allem in den schwarzen Communities. Man kann nicht mehr tun, als einfach zu hoffen, dass die Polizei und die Justiz irgendwann diesen Aufschrei erhören werden. Oft ist es aber wirklich so, dass gerade die Kämpfer für die Rechte der Schwarzen in den USA als Staatsfeinde dargestellt werden. Man muss sich nur Martin Luther King angucken: Jetzt steht seine Statue ganz oben, aber früher wurde er als Staatsfeind angesehen. Darum sind Bewegungen wie Black Lives Matter so wichtig. Es muss sich etwas ändern, das ist es, was wir damit sagen wollen. Wir wollen nicht sagen, dass andere Leben weniger zählen würden, aber Leute müssen daran erinnert werden, dass auch schwarze Leben zählen.
Welty: Wie realistisch ist denn, dass sich etwas ändert unter einem Präsidenten Trump, der ja schon mehrfach für härtere Gangarten gegenüber Frauen, gegenüber Schwarzen und gegenüber nordkoreanischen Diktatoren sich ausgesprochen hat?
"Am Ende liegt die Macht doch immer beim Volk"
Thomas: Momentan fühlt sich das unmöglich an, aber was man sieht, ist, dass jetzt wirklich immer mehr Leute sich bewegen, dass immer mehr Leute aufwachen und auch ihre Stimmen erheben. Während der Präsidentschaft von Trump ist es so, dass von oben bestimmt nichts kommen wird, aber bei den Leuten sich doch einiges ändert. Ob das nun unter ihm oder unter dem nächsten Präsidenten ist, das wird sich zeigen, aber ich denke, wir leben in einer interessanten Zeit, in einer Zeit, wo der Präsident der USA nur für ein paar Leute zu stehen scheint und nicht für alle. Aber am Ende liegt die Macht doch immer beim Volk.
Welty: Angie Thomas im "Studio 9"-Gespräch, das Mareille Amir für uns übersetzt hat. Die Originalversion, die finden Sie übrigens auf deutschlandfunkkultur.de. Angie Thomas ist heute in Berlin, übermorgen in Hamburg und am Dienstag in Frankfurt am Main. "The Hate U Give" heißt ihr Buch, aus dem Amerikanischen von Henriette Zeltner, erschienen bei cbt, und die 512 Seiten kosten knappe 16 Euro.
Das Interview im Original:
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