Junge Frauen stehen auf
22:54 Minuten
Nachdem nigerianische Sicherheitskräfte in Lagos Ende Oktober mehrere Menschen getötet haben, brach ein Proteststurm los. Angeführt von jungen, gut ausgebildeten Frauen, die das korrupte, männerdominierte System Nigerias aufbrechen wollen.
Demonstrierende an einer Mautstation in Lagos Ende Oktober. Eigentlich herrschte Ausgangssperre. Nigerias Regierung versuchte die Proteste in den Straßen abflauen zu lassen, doch viele friedliche Demonstrierende blieben. Dann kamen vermummte und bewaffnete Männer – Augenzeugen sprachen von Militär – und feuerten in die Menge. Ein Video davon kursierte danach in den sozialen Medien. Demonstrantin Nike Owomow war dabei:
"Sie haben uns gesagt, besorgt euch Fahnen. Sobald das Militär kommt, schwingen wir friedlich die Fahnen, dann schießen sie nicht. Wir hatten alle Flaggen! Und trotzdem haben sie auf uns geschossen, und Leute sind gestorben!"
Auch Thomas war in der Nacht da, erzählte er der französischen Nachrichtenagentur AFP. Augenzeugen wie er berichteten, dass die Bewaffneten im Dunkeln gekommen seien. Lichter und Kameras an der Mautstation sollen zuvor ausgeschaltet worden sein.
"Es war brutal. Es ist unvergleichlich, ich habe so etwas nie vorher in Nigeria erlebt. Aber so wie es ist, kann niemand sagen, dass die Regierung nichts davon weiß. Warum haben sie das Licht ausgeschaltet und Menschen getötet?"
Laut der Menschenrechtsorganisation Amnesty International wurden so mehrere Menschen Ende Oktober in Lagos von Sicherheitskräften getötet. Die Szenen, die sich wie ein Lauffeuer in sozialen Netzwerken verbreiteten, haben auch international Proteste ausgelöst. Nigerianische Demonstrierende protestierten vor den Botschaften – vom südafrikanischen Pretoria bis nach London.
Laut der Menschenrechtsorganisation Amnesty International wurden so mehrere Menschen Ende Oktober in Lagos von Sicherheitskräften getötet. Die Szenen, die sich wie ein Lauffeuer in sozialen Netzwerken verbreiteten, haben auch international Proteste ausgelöst. Nigerianische Demonstrierende protestierten vor den Botschaften – vom südafrikanischen Pretoria bis nach London.
Joe Biden, Rihanna und Beyoncé meldeten sich zu Wort
EU- und UN-Vertreter verurteilten die Polizeigewalt im Land. Auch der zu dem Zeitpunkt noch kandidierende US-Präsident Joe Biden und die ehemalige US-Außenministerin Hillary Clinton meldeten sich zu Wort, ebenso US-Popstars wie Rihanna, Beyoncé und der südafrikanische Host der US-Late-Night-"Daily Show" Trevor Noah und bekannte nigerianische Stars aus Musik und Sport.
Erst einige Tagen nach den Schüssen auf Demonstranten ergriff dann auch Nigerias Präsident, der 77-jährige Muhammadu Buhari, das Wort: "Ich fordere unsere Jugend auf, die Straßenproteste einzustellen und die Regierung konstruktiv dazu zu bewegen, Lösungen zu finden. Eure Stimme wurden laut und deutlich gehört und wir antworten."
Die Antwort der Regierung geht vielen Demonstrierenden nicht weit genug. Nigerias Regierung hat wegen der Proteste schon länger eine Aufklärungsmission angekündigt, sowie ein Fonds, der Opfer von Polizeigewalt entschädigen soll. Spät – ihrer Meinung nach zu spät nach den Schüssen in Lagos – gab Präsident Buhari nämlich bekannt, dass es bei Demonstrationen gegen Polizeigewalt 69 Tote gegeben hat: Zivilisten, Polizisten, Soldaten. Er ließ im Unklaren, ob die Zahlen auch die Demonstrierenden beinhalten, auf die in Lagos geschossen wurde.
Polizei-Spezialeinheit SARS tötete jungen Mann
Im Fokus der Kritik steht die Polizei-Spezialeinheit SARS. Seitdem ein Video im Netz kursierte, das zeigt, wie ein SARS-Beamten einen jungen Mann tötet, sind vor allem junge Menschen in Nigeria auf den Straßen. Die Vorwürfe seit Jahren: Korruption und Willkür, exzessive Gewalt, Vergewaltigungen und sogar Hinrichtungen – das alles jahrelang sogar dokumentiert von Menschenrechtsorganisationen.
Allein seit 2017 soll die Spezialeinheit für mehr als 80 Fälle von Folter, Misshandlung und willkürlichen Tötungen verantwortlich gewesen sein, sagt Isa Sanusi, ein Sprecher der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, in der Hauptstadt Abuja.
"Es gab keine ernsthafte Untersuchung zu den Vorfällen über all die Jahre. Und wenn es eine gab, dann gab es keine gerichtliche Ahndung."
Die umstrittene Spezialeinheit SARS existiert zwar nicht mehr und wurde durch eine neue mit Namen SWAT ersetzt - doch die Protestbewegung blieb auf den Straßen. Das Problem: SWAT besteht aus denselben Mitgliedern wie SARS, also wurde lediglich der Name geändert, kritisiert Aktivistin Maryam Laushi.
Die umstrittene Spezialeinheit SARS existiert zwar nicht mehr und wurde durch eine neue mit Namen SWAT ersetzt - doch die Protestbewegung blieb auf den Straßen. Das Problem: SWAT besteht aus denselben Mitgliedern wie SARS, also wurde lediglich der Name geändert, kritisiert Aktivistin Maryam Laushi.
"Die Regierung hat SARS schon einmal aufgelöst, sie haben das schon drei oder vier Mal angekündigt. Und auch nach den früheren Ankündigungen haben wir gesehen, dass SARS-Polizisten weiter junge Nigerianerinnen und Nigerianer misshandeln. Junge Nigerianer können den Worten der Regierung keinen Glauben schenken. Nigerianer wollen erst Handlungen sehen, bevor wir mit den Protesten aufhören."
Polizeigewalt in Nigeria ist schon lange ein Problem. Immer wieder stand dabei die Polizei-Spezialeinheit SARS im Mittelpunkt der Kritik.
Hat Polizei Nigerias Tech-Industrie im Visier?
Vor gut einem Jahr diskutierte Nigerias Tech-Industrie über Polizeigewalt. Ausgelöst durch den Tweet eines jungen Software-Entwicklers, der seinem Ärger auf Twitter Luft machte. Er sei von der Polizei in der Küstenstadt Lagos festgenommen und in Haft misshandelt worden. Die Polizei soll ihn gezwungen haben, über 1000 Euro Schmiergeld zu zahlen, im Gegenzug für seine Freiheit, berichtete er. Was dem Software-Entwickler passiert ist, empfinden Vertreterinnen und Vertreter von Nigerias Tech-Industrie als zunehmendes Problem.
Ihr Vorwurf: Vertreterinnen und Vertreter der Tech-Industrie, sogenannte "Techies" – also IT-Mitarbeiter und freischaffende Entwickler – würden absichtlich ins Visier genommen. Weil sogenannte "Internet Scammer" in Nigeria dafür bekannt sind, extrem viel Geld zu machen, suchten korrupte Polizisten nach einer Möglichkeit von diesen potenziell Kriminellen Geld abzuzwacken.
Tatsächlich hat Nigeria ein großes Problem mit Internetbetrug. Das auszunutzen, sei eine beunruhigende Polizeitaktik, findet Yunusa Zakari Yau. Er ist der Direktor des Zentrums für Informationstechnologie und Entwicklung (CITAD). Yau befürchtet schwerwiegende Folgen für Nigerias Digitalwirtschaft.
"Erstens gefährdet man so das Wachstum an Innovation in der Informations- und Kommunikationstechnologie. Zweitens: Das verursacht Probleme für junge Leute, die Arbeitsplätze online suchen und außerhalb des Landes. Und Drittens: So werden gerade junge Leute, die auf dem Gebiet Fähigkeiten und Kompetenzen haben, aus dem Land getrieben, weil sie sich woanders eine Anstellung suchen. Und das bedeutet: Du verlierst so die Besten, und so bleiben wir bei der technischen Entwicklung immer hinten dran, denn du vergraulst die, die die technische Entwicklung anführen."
Bereits in der Vergangenheit versuchten Mitarbeiter der Digital-Industrie auf Stigmatisierung durch die Polizei aufmerksam zu machen.
Feministen und "Techies" an vorderster Front
Jetzt stehen die "Techies" erneut an vorderster Front – mit feministischen Gruppen. Zu denen zählt sich Maryam Laushi. Sie gehört zur Feminist Coalition, einer Nichtregierungsorganisation für die Rechte von Frauen, die maßgeblich die Proteste unterstützt haben.
"Die Feminist Coalition half bei der Verwaltung der Geldmittel. Leute haben gespendet, und die Coalition half, die Bewegung zu unterstützen – entweder mit Arztkosten, Essen für die Demonstrierenden, im ganzen Land. Und das zeigt, dass Frauen zu so etwas in der Lage sind und der Schlüssel für ein besseres Nigeria sind."
Die Feminist Coalition soll per Crowdfunding Spenden von umgerechnet mehr als 100.000 Euro gesammelt haben. Laut eigenen Angaben für Masken, Essen, Wasser, Krankenhausrechnungen für verletzte oder verhaftete Demonstrierende. Das Umfeld um Maryam Laushi und die Organisatorinnen der EndSARS-Proteste haben es schon einmal geschafft, junge Leute auf die Straße zu bringen.
Schon einmal war Maryam Laushi Teil einer erfolgreichen jungen Massenprotestbewegung. #NotTooYoungToRun setzte sich 2018 erfolgreich für die Senkung des passiven Wahlalters ein.
Der nigerianische politische Analyst Abubakar Umar Kari hält die EndSARS-Bewegung für bemerkenswert. Sie sei das Gegenteil der alten, politischen Elite im Land – nämlich techaffin, jung und weiblich.
"Sie sind ziemlich gut organisiert, haben Ressourcen. Woher, kann man nicht so genau sagen. Und sie behaupten, ihre größte Stärke ist, dass sie kein Gesicht, keine Führung haben. Es verwundert nicht, dass die Bewegung größtenteils von Frauen angeführt wird. Sie kommen größtenteils aus den Städten, mehr und mehr Frauen studieren an Universitäten. Sie sind in den sozialen Medien unterwegs. E-Protest, wenn wir es so nennen wollen: Instagram, Twitter, Facebook, WhatsApp und so weiter. Aber sie nutzen auch Influencer, von denen viele Frauen sind, DJanes, Musikerinnen, Bloggerinnen."
Nur eine südliche, christliche Bewegung?
Massenproteste in Nigeria sind selten. Das Land, in dem rund 200 Millionen Menschen leben, ist gesellschaftlich zersplittert, in Muslime und Christen und unterschiedliche Volksgruppen. Das macht es oft schwer, einen gemeinsamen Nenner für eine breite Protestbewegung zu finden. Die EndSARS-Proteste scheinen ihn gefunden zu haben. Analyst Abubakar Umar Kari findet aber, die Bewegung repräsentiere nicht das ganze Land.
"Es ist fast eine vollständig südliche, christliche Bewegung. Es gibt mehr Frauen im muslimischen Norden des Landes, die in dieser #EndSARS-Bewegung gar nicht dabei sind. Die wenigen davon stammen aus einer Elite und stehen nicht an vorderster Front. Die Bewegung ist nicht pannigerianisch genug."
Aktivistinnen wie Maryam Laushi widersprechen dem Analysten. Die Bewegung spreche sich für eine breite Reform der Sicherheitskräfte aus, und das betreffe Nigerianerinnen und Nigerianer landesweit. Nicht nur der Polizei-Spezialeinheit SARS, sondern auch dem nigerianischen Militär werden Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen – gerade auch im Norden des Landes, wo die Terrormiliz Boko Haram Anschläge verübt.
Eine Polizeireform, so mutmaßt das renommierte südafrikanische Institut für Sicherheitsstudien (ISS), könne mithelfen, den Terror zu beenden. Denn nur ein Sicherheitsapparat, dem die Menschen vertrauten, sei in der Lage, auch die Gewalt im Norden Nigerias zu beenden. Dazu aber müssten verdächtige Polizisten auch wirklich vor Gericht gebracht werden, sagt Isa Sanusi, ein Sprecher der Menschenrechtsorganisation Amnesty International in der Hauptstadt Abuja.
"Nehmt die Dinge in die Hand! Ich bin sicher, wenn sie das tun, werden die Nigerianer zu ihrem Leben zurückkehren. Niemand will den ganzen Tag damit verbringen, auf der Straße zu demonstrieren."
Regierung will Bankkonten blockieren
Eine weitere Herausforderung: Sowohl Polizei als auch die Justiz in Nigeria sind als korrupt verschrien. Die Korruption grassiert im Land. Im internationalen Vergleich gehört Nigeria zu den Ländern, die am stärksten von Korruption betroffen sind. Aktivistin Maryam Laushi glaubt, dass die Bewegung Erfolg haben wird – gerade dadurch, dass Frauen sie weiter antreiben, sagt sie.
"Der Einfluss wird davon abhängen, wie nigerianische Männer dazu bereit sind, zusammen mit Frauen Dinge voranzubringen. Ich denke, für eine sehr lange Zeit haben wir in einem Land gelebt, wo zu wenig Frauen im Parlament waren. In Führungspositionen und auch in Unternehmen wurde Frauen kein Raum gewährt. Uns ist wichtig, erfolgreich zu sein, und zwar in allen Bereichen – im städtischen oder ländlichen Bereich, egal wo."
Seit den heftigen Unruhen in Lagos im Oktober herrscht derzeit Ruhe auf den Straßen. Nachdem die Regierung aber angekündigt hat, die Bankkonten der Feminist Coalition zu blockieren und so der Bewegung den Geldhahn zuzudrehen, sind neue Proteste angekündigt.