Polnische Autorin Olga Tokarczuk

"25 Jahre Freiheit kann man nicht ausradieren"

Schriftstellerin Olga Tokarczuk im Gespräch mit Sabine Adler
Schriftstellerin Olga Tokarczuk im Gespräch mit Sabine Adler © Deutschlandradio / Sabine Adler
Von Sabine Adler |
Viele sehen die derzeitige Entwicklung in Polen kritisch, auch die Erfolgsautorin Olga Tokarczuk. Dennoch bleibt sie optimistisch. "Unsere Gesellschaft hat sich ihren Freiheitswillen bewahrt", sagt sie. Sabine Adler hat Olga Tokarczuk getroffen.
Olga Tokarczuk gönnt sich eine Atempause. Fast 1000 Seiten hat ihr neuestes Werk "Jakobs Bücher", das ihr zum zweiten Mal Polens wichtigste Literaturauszeichnung, den Nike-Preis, bescherte. Derzeit sucht die enorm produktive Autorin in aller Ruhe nach einem neuen Thema, allerdings nicht in ihrem abgeschiedenen Berghäuschen an der polnisch-tschechischen Grenze, wohin sie sich zum Schreiben zurückzieht. Im Moment hat sie sich selbst zu mehr Kontakt zur Außenwelt verpflichtet, denn sie beobachtet derzeit tiefgreifende Veränderungen, die sie mitgestalten möchte.
"Ich bin wieder aktiver, äußere mich auch politisch und engagiere mich in sozialen und politischen Bewegungen, denn diese Zeit jetzt in Polen erfordert die Bereitschaft, nicht nur zu Hause Bücher zu schreiben, sondern sich einzumischen. Ich kann mich an keine derart heftigen Diskussionen wie jetzt erinnern. Aber ich sehe das optimistisch, hier entsteht gerade etwas sehr Neues."

"Dämonisieren wir das nicht"

Weil sich Olga Tokarczuk nach der Preisverleihung für eine kritischere Befassung mit der polnischen Geschichte ausgesprochen hatte, brach ein Sturm der Entrüstung über sie herein, es gab sogar Morddrohungen.
"Aber das ist anders als zu kommunistischen Zeiten, als es nur Regierungsmedien gab. Jetzt haben wir viele private Verlage, nicht zuletzt sprechen wir gerade jetzt und hier frei und unbehelligt. Ich kann offen Interviews geben. Also dämonisieren wir das nicht. 25 Jahre Freiheit kann man nicht ausradieren in vier oder fünf Jahren. Unsere Gesellschaft hat sich ihren Freiheitswillen bewahrt. Also immer mit der Ruhe."
Gelassen, keine Spur verbissen wirkt sie, wenn sie die Felder benennt, die Polens Historiker bislang brachliegen lassen. Kein Vorwurf, aber Hinweise, was fehlt: die nicht geschriebene Kolonialgeschichte Polens zum Beispiel, gegen Nachbarn wie Weißrussland, die Ukraine oder Litauen, der Reichtum, der zu jenen Zeiten auf der Versklavung der Nachbarn beruhte. Um kontroverse Geschichte geht es auch in "Jakobs Büchern", dem neuen Roman mit der gleichnamigen zwiespältigen Figur.

Ihr neues Buch "Jakobs Bücher" ist in Polen ein Bestseller

Wie kamen Sie auf ihn?
"Ich liebe es, in Antiquariaten und Bibliotheken zu stöbern und habe ein Buch über ihn gefunden und fing an zu recherchieren. Ich dachte anfangs an einen Essay. Aber es entstanden immer mehr Bilder wie in einem Film in meinem Kopf. Seine Geschichte begann in der Türkei, er kam in Tschenstochau ins Gefängnis und schließlich nach Murau. Jakob Frank war ein sephardischer Jude aus der Türkei, der in Offenbach als Katholik starb. Am Ende seines Lebens war er ein respektierter Mann. Es ist eine sehr aufklärerische Geschichte."
Wie lange haben Sie daran gearbeitet?
"Fünf bis sechs Jahre. Es war die reine Obsession, so habe ich mich in dieses Material vertieft. Das war wie ein Liebesabenteuer, gewidmet diesem einen Thema."

"Literatur ist unschuldig"

"Jakobs Bücher" von Olga Tokarczuk wurde bzw. wird gerade in sechs Sprachen übersetzt, für die deutsche Ausgabe sucht die Autorin noch einen Verlag. In Polen ist der Roman ein Bestseller. Selbst der Chef der regierenden nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit PiS, Jaroslaw Kaczynski, liest ihn.
"Im Internet wird Kaczynski zitiert, dass sich die Autorin sich vielleicht wundere, aber das Buch lese sich seiner Meinung nach sehr gut. Ich fasse das nicht als Lob von der falschen Seite auf, denn Literatur ist unschuldig. Deswegen habe ich diese ganzen Angriffe auf mich nicht verstanden. In dem Roman schildere ich eine Gesellschaft in der Wirtschaftskrise, im Umbruch. In diese Situation kommt eine Gruppe Andersgläubiger, die eine andere Sprache sprechen und die Gesellschaft muss entscheiden, solche Einflüsse von außen zuzulassen oder nicht. Dieses Thema, zu welchen Zugeständnissen wir in der Lage sind, ist eine sehr aktuelle Frage und universelle."
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