Mit Tanz und Design aus der Grube
Wie Detroit zählt das polnische Bytom zu den post-industriellen Städten, die sich derzeit neu erfinden. Früher bekannt aufgrund großer Steinkohlevorräte, wird nun auf alternativen Tourismus, eine Tanzhochschule und Galerien gesetzt. Die ganze Region Schlesien soll so ein neues Image erhalten.
Es sind aufregende Tage in Bytom. Gerade wird in der Tanztheaterhochschule die alljährliche Aufnahmeprüfung abgehalten. Etwa 100 junge Leute haben sich in den Fluren eingefunden und warten auf ihren Auftritt, der unter Umständen über den ganzen Lebensweg entscheidet.
Dass junge Tanzbegeisterte ausgerechnet für ein Studium hier her wollen, verwundert nur im ersten Moment. Bytom stand lange für Kohleabbau und die harte Arbeit unter Tage; wer jedoch in die Studios der Hochschule geht, sieht die neuste Technik, die für eine vielfältige Tanztheater-Ausbildung notwendig ist. Auch der Stundenplan der Studenten ist anspruchsvoll.
"Wir haben Unterricht in Drama, Improvisation und verschiedenen Tanztechniken; daneben oft Workshops, z.B. für Körperarbeit, aber auch theoretische Fächer wie Philosophie, Anthropologie, Tanz-, Theater- und Kunstgeschichte, Performance-, New-Media- und Musik-Theorie. Und manchmal gibt es Klassen in ungewöhnlichen Techniken wie indischem Kathak-Tanz oder afrikanischem Tanz."
Tobias hat es geschafft. Vor drei Jahren wurde er in den Studiengang aufgenommen; dieses Semester ist sein letztes. Aufgewachsen ist der junge, begabte Tänzer mit den wachen Augen in einer beschaulichen Kleinstadt in der Mitte Polens und nur langsam hat er sich während der drei Jahre an das raue Leben in Bytom gewöhnt. Tobias und seine Kommilitonen fürchten sich vor allem vor nächtlichen Übergriffen. Erst vor einigen Monaten wurde einer von ihnen von Unbekannten so schwer verprügelt, dass er mehrfach im Krankenhaus behandelt werden musste. Tobias und seine junge polnische Kommilitonin Amanda sind vorsichtig.
"Im ersten Jahr hatte ich viel Angst. Ich bin nie alleine oder nach zehn Uhr aus dem Haus gegangen. Jetzt ist es besser, aber Bytom bleibt eine gefährliche Stadt mit vielen Drogen- und Alkoholabhängigen. Die Jungs an der Schule sind sehr nett, sie begleiten uns Mädchen immer, wenn wir unterwegs sind. Wir Studenten wohnen auch möglichst dicht an der Uni, damit wir keine langen Strecken zurücklegen müssen, wenn wir abends nach Hause gehen."
"Ich fahre lieber mit dem Auto und gehe kaum zu Fuß – nur bei schlechtem Wetter, wenn draußen nichts los ist und keine Betrunkenen auf den Straßen sind. Sonst ist es nicht sicher."
Gegründet wurde der Tanztheaterstudiengang von dem Choreographen Jacek Luminiski. Der gebürtige Warschauer mit dem mächtigen Glatzkopf hat sich vor über zwanzig Jahren bewusst für ein Leben in der problematischen Provinzstadt entschieden. Hier in Bytom hat Luminski viele Jahre das überaus erfolgreiche Schlesische Tanztheater geleitet – und jetzt die Hochschule. Aber warum ausgerechnet Bytom, das laut einer regionalen Wirtschaftsraumanalyse in den Bereichen Lebensqualität, Wirtschaft und Arbeitsmöglichkeiten auf dem letzten Platz steht? Luminiski blickt zurück.
"In der Vergangenheit wurde diese Gegend ziemlich vernachlässigt. Erziehung und Bildung wurden unter den Sozialisten hier nicht besonders großgeschrieben. Es war einfach, in den Kohleminen einen Job zu finden, dafür brauchte man keine besondere Ausbildung – anders als in Gliwice oder Katowice, wo es Universitäten gab und sich die sogenannte ‚Intelligenzia' niedergelassen hat. Und auch heute noch sitzen in der Stadtregierung in Bytom Leute ohne Ausbildung. In den letzten Jahren konnte man förmlich dabei zusehen, wie die Stadt heruntergekommen ist. Viele Menschen sind weggezogen und viele Geschäfte haben dicht gemacht."
Galerie bringt hochkarätige Kunst in die Stadt
Auch der Erhalt einer letzten Steinkohlezeche konnte nichts daran ändern: Laut Statistik hat mehr als ein Viertel der Einwohner in den letzten zwei Jahrzehnten die Stadt verlassen. – inzwischen leben hier nur noch rund 170.000 Menschen. Der Weggang fällt sogar im Zentrum der Stadt auf.
Am Rynek – ‚Ring' genannten Platz verlieren sich Kaffeehaustische und Sonnenschirme,genauso wie die wenigen umhereilenden Passanten. Der weitläufige Marktplatz wirkt nur spärlich belebt.
Trotzdem blüht genau hier noch eine andere erstaunliche Kulturinstitution: Die 1991 gegründete, heute international bestens vernetzte Kunstgalerie Kronika. Geleitet wird sie seit acht Jahren von dem umtriebigen Direktor Stanislaw Ruksza, der zwar regelmäßig zwischen Warschau, Krakau, Berlin, New York, Mailand und London pendelt, sich aber vor allem dafür einsetzt, hochkarätige und gesellschaftlich engagierte Kunst nach Bytom zu bringen.
"2006 haben wir Kronika in ein Zentrum für zeitgenössische Kunst umgewandelt – mit dem Fokus auf der Beziehung zwischen Kunst und anderen Disziplinen wie politischen und sozialen Wissenschaften. Deswegen ist es eine unserer Aufgaben, über die soziale Revitalisierung der Stadt nachzudenken, die wir wichtiger finden als die architektonische oder städteplanerische Wiederherstellung. Vielleicht ist es unmöglich, die Stadt wiederbeleben zu wollen wie sie z.B. in den achtziger Jahren einmal war, als noch 240.000 Menschen hier lebten. Die Größe der Stadt halte ich aber für weniger entscheidend als die Lebensqualität. Deshalb plädieren wir vor allem für Investitionen in das soziale Leben der Stadtbewohner."
Obwohl die Galerie Kronika die wichtigste Kunstinstitutionen der Stadt ist, muss man ihre Adresse genau kennen, um sie zu finden – so unauffällig, ja fast versteckt, liegen ihre großen Räume hinter der hellen Klinker-Fassade der Nummer 26 am zentralen Marktplatz. Das Gebäude wurde von den bekannten jüdischen Architekten Richard und Paul Ehrlich 1906 erbaut. Es grenzt an verschiedene, von dezent verspieltem Jugendstil und pittoreskem Historismus inspirierte Wohn- und Repräsentationsgebäude. Deutsche und jüdische Architekten haben hier vor über hundert Jahren für wohlhabende Auftraggeber gebaut – als die Stadt einen starken wirtschaftlichen Aufschwung erlebte und ihre Bewohner eine große Zukunft vor sich sahen. Damals war Bytom noch das deutsche Beuthen, eine Stadt mit reichen Steinkohlevorkommen.
Das Bytom von Heute kann der jungen Generation dagegen kaum noch etwas bieten: Die Arbeitslosenrate liegt offiziell bei 20 Prozent. Auch deshalb bemüht sich Galerie-Leiter Ruksza um lokale Projekte.
"Unser Ziel ist es, Leute aus der Stadt, die nichts voneinander wissen, in Kontakt zu bringen, z.B. Künstler und Aktivisten. Obwohl Bytom eine konservative Stadt ist, gibt es doch eine Menge alternativer Ideen hier; Hausbesetzter oder Leute, die alternativen Tourismus betreiben. Für solche Aktivisten und Künstler ist unsere Galerie ein Treffpunkt, um in der Stadt sozial oder politisch etwas voranzubringen."
Der alternative Tourismus führt zum Beispiel zum Förderturm ‚Krystyna', der zwar unter Denkmalschutz steht, aber dennoch langsam verfällt. Oder zu einem verwilderten Kohleabbau-Areal, auf dem demnächst ein Golfplatz gebaut werden soll.
Desaströse Bausubstanz hält Investoren fern
Vor allem erfahren die alternativen Touristen etwas über den Grund des maroden Charmes der Stadt. Der Putz fällt von den Fassaden, Bäume wachsen aus Fensterluken und zahlreiche Häuser sind in bedrohliche Schieflage geraten. Die Bausubstanz Bytoms ist desaströs, die Fundamente vieler historischer Gebäude stark beschädigt – eine Hinterlassenschaft der sozialistischen Regierung, die die Steinkohlevorkommen rücksichtslos und ohne Absicherungsmaßnahmen ausgebeutet hat. Heute hält die Unsicherheit, wann und wo der Boden mit dem darüber befindlichen Haus absacken könnte, Geschäftsleute davon ab, ihr Geld ausgerechnet in diese Stadt zu investieren. Stanislaw Ruszka.
"Für Bytom glichen das Ende der Schwerindustrie und die Einführung der neoliberalen Wirtschaftspolitik einer Katastrophe. Aber paradoxerweise haben sich genau diese Ereignisse als sehr stimulierend für die Künste erwiesen – wie in Detroit und anderen postindustriellen Orten. Man muss ein neues Leben für die Leute hier entwerfen und die ganze Region neu definieren."
Daran arbeitet die Galerie Kronika u.a. mit ihrem Bildungsprogramm. Kinder und Jugendliche aus Bytom und Umgebung lernen in spielerischen Workshops, was z.B. zeitgenössische Kunst oder modernes Design auszeichnet. Dabei fällt auch der Begriff ‚Neues Schlesisches Design'.
Unweit des zentralen Marktplatzes und der Galerie fällt ein besonderes Geschäft ins Auge. Bereits der Eingang ist ungewöhnlich gestaltet: über eine breite Holzempore, die im Sommer auch als Terrasse benutzt werden kann, geht es hinein ins Innere des Ladens mit seinem ausgesuchten Angebot. Ungewöhnliche Kleidung wie Jacken, die kompliziert um den Körper gewickelt werden müssen, Schals, in denen man fast verschwindet, Seife und Kerzen in Form von Kohlestücken, schlichte Alltags- und Küchenutensilien aus Keramik und Glas mit abstrahierten Bergbau-Emblemen – alles aus regionaler Produktion, aber passend für den internationalen urbanen Geschmack, so Agata Gomolińska, Projektkoordinatorin der Galerie Kronika, und interessierte Kundin:
"Erst gestern habe ich den neuen Designshop hier gleich um die Ecke entdeckt, er muss gerade erst eröffnet haben. Natürlich ist Bytom keine künstlerisch orientierte Stadt, aber es entwickelt sich gerade etwas in dieser Richtung. Einige junge Leute, die hier geboren sind und immer noch hier leben, versuchen, etwas auf die Beine zu stellen – wir hier von der Galerie, aber auch Innenarchitekten und Geschäftsleute. Alle sehen, dass es hier viel zu tun und zu verändern gibt."
So nach und nach kommt nach Bytom, was in den Nachbarstädten Katowice oder Gliwice schon längst etabliert ist: die Entdeckung, bzw. Wiederentdeckung und Neuproduktion des Schlesischen Designs.
Handwerkskunst und Design haben in Oberschlesien eine lange Tradition. Zwischen den dreißiger und fünfziger Jahren sind hier einige ‚Gebrauchsikonen' Polens produziert worden, z.B. Motorräder der Marke MOJ, die es heute nicht mehr gibt, deren Qualität aber sogar die von Harley-Davidson Maschinen übertroffen haben soll oder die berühmten Zenith-Kugelschreiber.
"Bei dem Schlesischen Design – was ich so interessant finde, ist, dass es immer aus dem industriellen Design hervorkommt. Also die Ursprünge sind immer sehr praktische Sachen und die befassen sich auch mit sehr praktischen Themen. Wenn du dir hier die Kugelschreiber anschaust, das sind Kugelschreiber, mit denen ganz Polen seit den fünfziger Jahren geschrieben hat."
Schlesien: Städte gehen nahtlos ineinander über
Katarzyna Wiegla ist die Leiterin des Polnischen Instituts in Berlin, das gerade eine Ausstellung mit modernem Schlesischem Design zeigt: Geschirr im Stile der fünfziger Jahre von zeitgenössischen Designern aus Oberschlesien, edel-schlichte Küchenausstattung oder sogar blau-weiße Urnen aus Keramik, die von den Käufern mitunter zum Aufbewahren von Schmuck zweckentfremdet werden
Viele der Ausstellungsstücke stammen aus Bytoms Nachbarstadt Katowice, der Hauptstadt der Woiwodschaft Schlesien. Die liegt nur 15 Kilometer von Bytom entfernt und wie im Ruhrgebiet gehen die Städte fast nahtlos ineinander über. Doch in auffälligem Gegensatz zu Bytom herrscht in Katowice reges Großstadt- und Studentenleben und jeden Abend gibt es zahlreiche kulturelle Veranstaltungen. Der einmal jährlich stattfindende Silesian Fashion Day wird von Justina Cichon geleitet. Die Karrierefrau mit blondiertem Haar und rosa Fingernägeln zeigt vor allem lokal produzierte Mode, die sich zugleich international und regional verortet.
"Die jungen Leute von heute zeigen ihre Verbundenheit mit Schlesien gerne auf T-Shirts und Taschen. Sie wollen damit zum Ausdruck bringen, dass sie Schlesien nicht nur als Bergbauregion im Niedergang sehen, sondern sich mit den neuen Sachen, die hier passieren, identifizieren können. Es ist nicht mehr wie früher, als man sagte: ich bin Schlesier und will mit niemandem sonst in Polen zu tun haben. Heute sagt man: Ich bin Schlesier und zugleich Pole und zugleich Europäer."
Die Marke "Schlesisches Design" ist noch kein tragender Wirtschaftszweig, weiß Justina Cichon, aber sehr wohl eine konstruktive Idee für eine neue Identität der gesamten Region.
Dass es dabei mitunter auch seltsame Überschneidungen zwischen Design und Ideologie gibt, zeigt sich wiederum in einem Bytomer Geschäft, in dessen Schaufenster genau jene von Justina Cichon beschriebenen schicken T-Shirts und Taschen hängen. Schaut man sich drinnen weiter um, entdeckt man aber auch anachronistische Slogans wie „Oberschlesien – mein Vaterland" als Schriftzug auf einem Pullover. Das lässt mich als deutsche Besucherin leicht zusammenzucken, ist bei den Einheimischen aber sehr beliebt.
Dem Galeristen Stanislaw Ruksza gefällt diese Art historischer Rückwärtsgewandtheit zwar auch nicht, doch sieht er darin den Versuch, auch in Bytom eine neue städtisch-regionale Identität zu entwerfen.
"Ich verstehe solche Phänomene als Resultat der kommunistischen Politik, die jedes regionale Brauchtum, z.B. auch die schlesische Sprache und Kultur in dieser Gegend unterdrückte. Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es mehr als drei Millionen Juden in Polen und speziell in Schlesien viele Ukrainer, Deutsche, Tschechen und Russen. Polen war also nicht so monokulturell wie heute. Selbst wenn es, wie im Fall solcher Slogans etwas anachronistisch daherkommt, sehe ich den Versuch, Verbundenheit mit Schlesien zu zeigen, auch positiv: denn auch diese Leute setzen sich für ein neues Regionalbewusstsein ein und wenden sich damit gegen den polnischen Assimilierungszwang, der unter den Kommunisten herrschte. Darin liegt etwas Emanzipatorisches."