Das hätten wir gehört haben sollen
Für Entdeckungen ist es nie zu spät: Am letzten Tag des Jahres stellt unser Kritiker Christoph Reimann drei Alben vor, die 2019 mehr Beachtung verdient hätten. Sie stammen von jungen Musikerinnen aus Norwegen, New York und Berlin-Neukölln.
Carsten Beyer: Jeden Woche, Tag für Tag, durchforsten die Musikredakteurinnen und Musikredakteure von Deutschlandfunk Kultur CD-Stapel, Websites und Musikmagazine – immer auf der Suche nach neuen, interessanten Veröffentlichungen, Künstlerinnen und Künstlern. Was wir finden, landet in unserem Programm: in unserer Rubrik "Das muss man gehört haben", in Einzelrezensionen – oder wir laden die Personen, die uns begeistern, gleich als Gäste in unser Studio ein. Nur manchmal geht uns dann doch etwas durch die Lappen. Aber: Man kann es ja nachholen. Über drei Platten, die wir hätten gehört haben sollen, sprechen wir jetzt. Im Studio ist mein Kollege Christoph Reimann. Was haben wir denn verpasst, vorzustellen?
Christoph Reimann: Da ist zum Beispiel King Princess. Die läuft zwar ab und zu hier im Programm. Eine ausführliche Besprechung gab es aber nicht.
King Princess: außerhalb klassischer Geschlechterbilder
Beyer: "Cheap Queen" heißt das in diesem Jahr erschienene Debütalbum von King Princess. Cheap Queen, King Princess – da hat wohl jemand ein Faible für den Hochadel. Wer steckt denn hinter King Princess – ein König oder doch eher eine Prinzessin?
Reimann: King Princess ist zum einen Mikaela Straus, Musikerin aus New York mit deutschen Vorfahren. Anfang 20 ist sie. Zum anderen erkennt man bei dem Namen aber auch schnell: Diese Frau positioniert sich außerhalb von klassischen Geschlechterbildern. Fragen von Gender und Zugehörigkeit werden auf "Cheap Queen" immer wieder behandelt, allerdings nicht elitär theoretisch, sondern sehr realitätsnah am Leben einer jungen Frau.
Beyer: Haben Sie da ein Beispiel?
Reimann: Im Song "Homegirl", da befindet sich die Protagonistin des Songs auf einer Party. Und auch der Schwarm dieser Frau ist anwesend. Und King Princess vergleicht darin ihr Begehren mit dem heterosexuellen Begehren der Männer, die auch da sind, hat aber Angst, das, was sie fühlt, öffentlich auszuleben. Das sind Texte, mit denen, denke ich, viele weibliche Teenager, die ähnlich fühlen, etwas anfangen können.
Jenseits der Norm und doch lässig im Mainstream
Beyer: Wie setzt sie das denn musikalisch um?
Reimann: Das ist erst mal ziemlich eingängiger Pop, sanfte Elektro-Elemente, wie wir das in diesem Jahr sehr oft gehört haben. Bei King Princess auf besondere Weise glattgebügelt, was ich ein bisschen schade finde. Ich schiebe das auf den Amy-Winehouse-Produzenten Mark Ronson, bei dessen Label King Princess unter Vertrag steht. Trotzdem: Auf dem Album sind schon sehr viele gute Melodien und Pop-Momente. Aber man kann an King Princess noch etwas anderes erkennen, was sie für mich zu einer der wichtigsten Debütantinnen des Jahres gemacht hat.
Beyer: Was denn?
Reimann: Sie gehört zu einer Generation von jungen Musikerinnen, vor allen Dingen Frauen, die eben sehr früh sehr offen über Homosexualität singen. Andere Vertreterinnen wären: Arlo Parks, Clairo oder Girl In Red. Und das Interessante ist: Dass diese Themen mehr und mehr – auch durch die Zugänglichkeit der Musik, eine starke Präsenz, aber gleichzeitig auch Selbstverständlichkeit in den Mainstream bringen. Deshalb: wichtige Platte.
Beyer: "Cheap Queen" von King Princess. Jetzt hören wir in eine Platte rein, die ist weniger ruhig. Hier ist Juju mit "Intro".
Beyer: "Ich komme von Dönerbrot mit Soße", konnte man da eben noch am Ende hören. Das ist aber nicht die einzige bemerkenswerte Zeile auf dem Debüt "Bling Bling", das Juju dieses Jahr herausgebracht hat, oder?
Reimann: Nein. Einerseits macht Juju vieles, wie andere Deutschrapper auch: Sie singt davon, dass sie die Beste und Tollste ist, dass sie eine harte Kindheit hatte in Neukölln, aus schwierigen Verhältnissen kommt und es jetzt geschafft hat. Aber dann gibt es noch etwas anderes: Juju thematisiert ihre Rolle als Frau in einem Männer-Business. Lehnt aber das Label Feminismus ab, spricht lieber von Menschlichkeit. Dazu kommt auch noch, dass bei Juju die Drogen und die "Nutten" keine Rolle spielen. In den Songs von Juju wird gekifft und getrunken, mehr aber nicht. Und damit schafft sie eine Alternative zu doch sehr einfachen Weltbildern, wie sie im Deutschrap gefeiert werden.
Juju: ein neues Rollenbild im Deutschrap
Beyer: Juju kommt aus Berlin-Neukölln, haben wir gerade gehört. Sie hat dieses Jahr ihr Solo-Debüt herausgebracht, "Bling Bling" heißt das. Eine wirkliche Debütantin ist sie ja aber nicht.
Reimann: Nein, Juju war Teil des Duos SXTN, zwei Frauen, die gemeinsam sehr erfolgreich waren. SXTN war dann aber Anfang 2019 Geschichte, im Guten sind die Beiden auseinandergegangen. Da gab es keinen öffentlichen, medienwirksamen Beef – auch das ein Unterschied zu den männlichen Deutschrappern. Aber diese Karriere mit SXTN, die war sicherlich wichtig für den Erfolg, den Juju jetzt hat. Ganz großen Erfolg hatte sie in diesem Jahr auch mit einem Duett. "Vermissen" heißt das, der Gesangspartner ist Henning May von AnnenMayKantereit – und da wurde natürlich auch Fame akkumuliert.
Beyer: Juju bringt ein neues Rollenbild in den Deutschrap. Und das überzeugt auch musikalisch?
Reimann: In vielen Songs ja. Juju hat einfach auch ziemlich gute Texte, ziemlich gute Skills.
Beyer: Wir sprechen über Platten der vergangenen zwölf Monate, die wir hätten hören sollen. Eine gibt es noch, von Jenny Hval. "The Practice Of Love", so heißt die Platte.
Beyer: "Accident" von Jenny Hval. Ich höre da erst mal Synthesizer, die mich an die Achtziger oder Neunziger erinnern.
Reimann: Ja, dieser Rückgriff gerade auf die 90er – das haben wir ja zuletzt öfter gehört. Auch Jenny Hval aus Norwegen ist da keine Ausnahme. Der Sound zieht sich durch dieses Album. Was sich auch durch die Platte zieht, das sind die Gedanken einer Frau Ende 30, die über ihre Rolle in der Welt nachdenkt.
Reimann: Ja, dieser Rückgriff gerade auf die 90er – das haben wir ja zuletzt öfter gehört. Auch Jenny Hval aus Norwegen ist da keine Ausnahme. Der Sound zieht sich durch dieses Album. Was sich auch durch die Platte zieht, das sind die Gedanken einer Frau Ende 30, die über ihre Rolle in der Welt nachdenkt.
Jenny Hval: Singer-Songwriter und Schriftstellerin
Beyer: Hört sich erst mal nach schwerem Inhalt an. Keine leichte Kost also, dieses Album?
Reimann: Nein, dafür sehr reflektiert, zwischen Diskurs und Literatur. Jenny Hval ist auch Schriftstellerin. Das hört man auch in den Songs, wenn sie Situationen beschreibt: zum Beispiel, wie eine Frau in einer AirBnB-Wohnung Creme gegen Dehnungsstreifen findet. Darüber spricht, was es in ihr auslöst, was es nicht in ihr auslöst, wie es sich anfühlt, mit Ende 30 noch kein Kind auf die Welt gebracht zu haben – und damit spricht sie eben auch sehr anschaulich über die Rolle von Frauen in der Gesellschaft.
Beyer: Drei Platten, drei Frauen haben wir jetzt vorgestellt. Ein Zufall?
Reimann: Es hätte viele Platten gegeben, die man noch hätte vorstellen können. Aber eines stimmt schon: Die wichtigsten Impulse, die kamen im Popjahr 2019 doch wieder von den Frauen.
Beyer: Mal sehen, ob sich dieser Trend auch im kommenden Jahr fortsetzt. Wir werden es beobachten. Christoph Reimann, vielen Dank.