Das Internet ist nicht der Auslöser, aber es ist eine Verstärkerebene, die auch eine Gegenbewegung und eine Gegenposition stark machen kann.
R.Kelly, Britney Spears & Co.
R. Kelly musste sich 2021 vor Gericht in Chicago verantworten. Er wurde wegen zahlreicher Delikte schuldig gesprochen. Das Strafmaß wird 2022 verkündet. © picture alliance / ZUMAPRESS.com
Popstars vor Gericht
05:56 Minuten
Der US-amerikanische Sänger R. Kelly wurde wegen Erpressung, Kindesmissbrauchs, Entführung und Menschenhandels verurteilt. Britney Spears erlangte vor Gericht ihre Freiheit zurück. Fanden die wichtigsten Popmomente dieses Jahr vor Gericht statt?
Sexualisierte Gewalt gegen Minderjährige wurde R. Kelly seit Anfang der 90er-Jahre immer wieder vorgeworfen. Bis zum Urteil im September 2021 war der Sänger aber jahrzehntelang ohne ernsthafte strafrechtliche Konsequenzen davongekommen.
Die Dokumentationsserie „Surviving R. Kelly“ könnte hier zuletzt entscheidenden Einfluss gehabt haben. In der 2019 und 2020 erschienenen Produktion kamen Menschen zu Wort, die sexualisierte Gewalt und Ausbeutung durch R. Kelly und sein Umfeld überlebten.
Das Format ähnelt der Doku „Leaving Neverland“, deren zwei Protagonisten Missbrauchsvorwürfe gegen den 2009 verstorbenen Michael Jackson erhoben.
Sicht der Betroffenen im Vordergrund
Wie ist diese Art der Berichterstattung einzuordnen, die Vorarbeit leistet und Aufmerksamkeit schafft, aus Sicht des deutschen Pressekodex aber vermutlich unter „Verdachtsberichterstattung“ fallen würden? Marlis Prinzing, Medienethikerin und Professorin für Journalistik an der Hochschule Macromedia in Köln, empfiehlt eine klare Trennung.
"Wir können daraus lernen, dass man natürlich auch sehr genau unterscheiden muss zwischen einer als journalistisch-professionell ausgeflaggten Berichterstattung, die ja mehrere Seiten, mehrere Aspekte, mehrere Perspektiven auf ein Thema zeigen will, und eben in diesem Fall einer Art von anwaltschaftlicher Berichterstattung, die vor allen Dingen die Betroffenenperspektive in den Vordergrund gerückt hat."
Es sei demnach explizit kein Teil des Konzepts gewesen, die Gegenseite zu Wort kommen zu lassen. „Leaving Neverland“ sei in dieser Hinsicht ein besonderer Fall gewesen, da der Hauptbeschuldigte bei Veröffentlichung bereits zehn Jahre verstorben war.
Marlis Prinzing verweist in diesem Zusammenhang auf die Unantastbarkeit berühmter Menschen und die Machtasymmetrien zwischen prominenten Beschuldigten und Betroffenen. Prominenz sei immer auch mit einem Beschützerring verbunden, der jene, die berühmt sind und Macht haben, gegen Vorwürfe vehement verteidige.
Besondere Pflicht von Journalisten
Investigativer Journalismus könne hier gewissermaßen einen Ausgleich schaffen. Deshalb seien Journalisten auch in besonderem Maße in der Pflicht.
"Man hat diese Beobachterfunktion. Man hat auch die Funktion, Missstände öffentlich zu machen, Akteure und Akteurinnen zu Wort kommen zu lassen. Man hat natürlich nicht einen direkten Einfluss auf die Folgen. Aber genau das ist ja auch das, was das Konzept auch des investigativen Journalismus so wichtig, so bedeutsam macht: dass man auf die Art und Weise Missstände an den Tag bringt und damit Handlungsfolgen auslösen kann."
Die Ausnutzung von Macht und Kontrolle ist spätestens mit der #MeToo-Bewegung zu einem Dauerthema geworden. Seit Beginn dieses Jahres sieht sich auch der Shock-Rock-Künstler Marilyn Manson mit schweren Missbrauchsvorwürfen konfrontiert. Eine im November 2021 veröffentlichte Langzeit-Recherche des Musikmagazins Rolling Stone rekonstruiert die Anschuldigungen minutiös anhand von Gerichtsunterlagen und mithilfe von 55 Interviews.
Medienethikerin Prinzing sieht in derartigen Recherchen eine „neue Form der Öffentlichmachung“, die einer Position deutlich mehr Raum gebe.
"Meiner Überzeugung nach ist Journalismus auf der einen Seite in der Verantwortung dafür, was berichtet wird, aber auch dafür, was nicht berichtet wird. Also indem ich etwas nicht öffentlich mache, von dem es bedeutsam wäre, dass die Öffentlichkeit davon erfährt, übernehme ich eine Verantwortung, die zu Verwundungen, Verletzungen von bestimmten Menschen führen kann, nur weil ich eben einen Missstand, von dem ich als Journalistin Kenntnis habe, nicht öffentlich gemacht habe."
Neue Form der Debatten- und Streitkultur
Formate wie „Surviving R. Kelly“ oder die Recherche zu Marilyn Manson sieht Prinzing als Beispiele für eine neue Debatten- und Streitkultur. Digitale Protestbewegungen wie #MeToo und ein geschützter Erfahrungsaustausch Betroffener spielten hier eine wichtige Rolle. Dieser Erfahrungsaustausch ist zuvor durch Vereinzelung, Druckmittel und eine Kultur des Schweigens und Wegschauens unmöglich gemacht worden.
Stark machte es auch die Kontroverse um Britney Spears' Vormundschaft. Unter dem Hashtag #FreeBritney hatten Fans jahrelang eine Protestkampagne in sozialen Netzwerken lanciert, um die Vormundschaft durch Britney Spears' Vater zu beenden. Auch hier hatten gleich mehrere Dokumentationen die Berichterstattung zugespitzt.
Im November endete Britney Spears' Vormundschaft nach fast 14 Jahren. Viele Beobachter und auch sie selbst rechnen der #FreeBritney-Bewegung dabei eine entscheidende Rolle zu.
Die Gerichtsprozesse um R. Kelly, Britney Spears und Marilyn Manson und die mediale Begleitung zeigen die gesteigerte Aufmerksamkeit für Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt. Marlis Prinzing sieht durch die fokussierten Berichte aber auch die Gefahr einer Vereinzelung dieser Phänomene – eine Auseinandersetzung mit den grundsätzlichen, strukturellen Problemen erfolge nicht automatisch. Der Prozess im Fall Marilyn Manson und die Urteilsverkündung im Fall R. Kelly stehen 2022 an.