Popgeschichte

Weit vor Elvis und den Beatles

Von Gerrit Bartels |
Als ein "Schaben und Kratzen", als "Jaulen und Heulen und Zähneknirschen" bezeichnet der Journalist Karl Bruckmaier seine Geschichte der Popmusik. In seinem Buch "The Story of Pop" greift Bruckmaier weiter zurück als zur Ära von Elvis Presley oder Bob Dylan.
Es klingt verheißungsvoll, wenn ein Buch im Titel verspricht, die Geschichte des Pop zu erzählen. Zumal das Wörtchen "Pop" immer noch so schön leuchtet und eine Verheißung darstellt - trotz aller Schrammen, die sich Pop in den vergangenen zwei, drei Jahrzehnten zugezogen hat, von den Kids, die eben nicht mehr "alright" sind bis hin zu der geradezu totalitären Allgegenwart der Popkultur.
Karl Bruckmaier aber, Autor dieser Popgeschichtserzählung, einer der besten, versiertesten Popkritiker des Landes warnt seine Leser gleich zu Beginn des Buches, dass seine Geschichte auch "ein Schaben und Kratzen" sein, "ein Jaulen und Heulen und Zähneknirschen" und es "gutes Schreiben über Pop" nicht umsonst oder "zum Listenpreis" gebe: "Ein bisschen muss man sich schon anstrengen, ein bisschen was muss man mitbringen, ein bisschen was muss man sich bieten lassen."
Irgendwo zwischen Bagdad und Cordoba
Und genau so ist es: Bruckmaier erzählt eine sehr eigenwillige Geschichte des Pop. Die beginnt bei ihm irgendwo zwischen Bagdad und Cordoba im 9. oder 10. Jahrhundert, mit einem Musiker namens Ziryab, einem "Herrn über zehntausend Lieder", der dem Kalifen von Cordoba aus Bagdad neue Klänge mitbringt, persische und indische Musik; und der die arabische Laute um eine fünfte Saite ergänzt und nicht mehr mit einem Stück Holz, sondern dem Federkiel zupft.
Und weiter geht es mit den Sklaven aus Afrika, die sich in den arabischen und spanischen Herrschaftsgebieten verdingen müssen, die schlimmer als Tiere behandelt werden, die aber ihre Musik haben und - und damit Einfluss ausüben. "Und haben wir hier nicht schon einen ersten Fingerzeig für die Grundbedingungen von Pop?" fragt Bruckmaier: "Europa plus Afrika plus ein unerwartet sich öffnender Freiraum am anderen Ende der Welt?"
Amerika, die neue, aber bei weitem für viele alles andere als freie Welt, entwickelt sich bei Bruckmaier zum Zentrum von Pop, insbesondere vor dem Hintergrund der jahrhundertlangen Geschichte der Sklaverei, dem Aufeinanderprallen von schwarzer und weißer Kultur sowie der natürlich der afroamerikanischen, hier für das Grundrauschen und das Hauptmotiv sorgenden Trommel.
Schwarzer Jazz und weißer Country
Lange bevor sich die britischen Rolling Stones des schwarzen Blues bemächtigten, der weiße Rock‘n‘Roll mit seinem schwarzen Beat seinen Siegeszug antrat und der Teenager auf den Plan trat, gab es einen ständigen musikalischen Transfer, gab es Minstrel-Shows und "black facing", gab es schwarzen Jazz und weißen Country, gab es "flapper" und "bowery boy", gab es immer wieder Popvermengungen und -umschlingen.
An dem Punkt, an dem Diedrich Diederichsen in dem anderen großen Pop-Buch dieses Frühjahrs seine Erzählung erst beginnt, in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts nämlich, da hört Bruckmaier fast schon auf. Natürlich sind auch Elvis, Dylan, die Beatles, der Sommer der Liebe und vieles Neuzeitliche im letzten Drittel dieser "Story of Pop" drin, aber eben anders, sehr von der Seite. Wichtiger sind Bruckmaier Menschen wie John Hammond oder Nancy Cunard, wie Irving Berlin, John Fahey oder gar Hugh Hefner. Und natürlich sind auch, da ist Bruckmaier ganz nah bei Diederichsen, die technischen Neuerungen von enormer Bedeutung, angefangen von den sogenannten Coin-Ups, den Prototypen der Jukebox, über die Grammofone bis hin zum Radio: "Pop braucht die Maschine. Und die Menschen, die Maschinen verkaufen wollen, können Pop gut gebrauchen."
Es zeichnet dieses schöne, aus 61 kurzen, aber aufeinander aufbauenden Kapiteln bestehende Buch aus, dass es sich der Popmusik aus den unterschiedlichsten Richtungen nähert, dass es Pop kaleidoskopisch auffächert. Pop sei für ihn, so Bruckmaier am Ende, "die Fähigkeit, die Dinge anders zu denken". Und eben auch, das zeigt sein Buch: anders zu erzählen. Auserzählt, zu Ende erzählt ist Pop noch lange nicht, womöglich nie. Nicht zuletzt weil die unverwüstliche Trommel inzwischen auch als Software zu haben ist.

Karl Bruckmaier: The Story of Pop
Murmann Verlag, Hamburg 2014
352 Seiten, 29,99 Euro