Tim Renner / Sarah Wächter: Wir hatten Sex in den Trümmern und träumten - Die Wahrheit über die Popindustrie
Berlin Verlag 2013
336 Seiten, 16,99 Euro, E-Book (Kindle) 12,99 Euro
Auferstanden aus den Ruinen der Musikindustrie
Musik-Manager Tim Renner und Co-Autorin Sarah Wächter zeigen in ihrem praxisbezogenen Buch, wie Erfolg in der Musikindustrie wieder möglich ist.
Nein, über Sex erfahren wir hier nichts, auch nicht die ganze Wahrheit über die Popindustrie. Der Buchtitel entstammt einem Song der Hamburger Band Die Sterne und kommt so vielversprechend daher wie ein erfolgreicher Pop-Act. Es geht darum, wie es möglich ist, in den Ruinen der alten Musikwirtschaft wieder Spaß und Erfolg zu haben.
Tim Renner ist seit seinem Ausstieg als CEO bei Universal Deutschland so etwas wie ein Zeuge der Anklage gegen die alte Musikindustrie, gestaltet die neue und legt nun seit drittes Buch zum Wandel vor. Diesmal zusammen mit Sarah Wächter, Ex-Promotion-Mitarbeiterin seiner Firma Motor und jetzt selbständig tätig. Das neue Werk ist praxisbezogen – und steht damit in einer Reihe ähnlicher Ratgeber. Es besticht durch eine Fülle von Anekdoten handelnder Personen im Pop-Business, mit denen die Autoren "Regeln und Mechanismen inklusive unbequemer Wahrheiten" offenlegen wollen.
Zur Zukunft geht es dabei über Gegenwart und Geschichte: Auf Rousseaus Zitat von der Musik als "freieste aller Künste" folgt der angeblich erste Künstlermanager der Musikgeschichte: Der böhmische Geheimrat Ferdinand von Waldstein war als solcher für Beethoven tätig – allerdings: Schon zuvor gab es solche Förderer.
Sie räumen mit Schwarz-Weiß-Sichtweisen auf
Als erster A&R der Musikgeschichte wird Fred Gaisberg beschrieben. Der US-Pianist nutzte 1898 Caruso zur Markt-Einführung der Schallplatte und wurde dabei "vom reisenden Tontechniker (…) zum Plattenboss seines eigenen Labels". Und falls Ihnen A&R nichts sagt: "Der A&R-Manager entscheidet, was auf den Tisch kommt, der Marketing-Manager, wie es zubereitet wird, und der Promoter und (…) Vertrieb sind dazu verdammt, den ganzen Kram (…) an den Mann zu bringen." Renner und Wächter bringen nicht immer leicht zu durchschauende Mechanismen verständlich und amüsant auf den Punkt.
Und räumen tatsächlich mit manchen Schwarz-Weiß-Sichtweisen auf: Zum Beispiel dem Gut-Böse-Schema zwischen den kleinen, unabhängigen Labels und den verbliebenen drei großen: "Die Majors sind der Warschauer Pakt der Musikwirtschaft – ein System der Vorsorge und Risikominimierung", während die "Idee 'Independent' (als) ein lupenrein marktwirtschaftliches System" eingeordnet wird. Und zum Zukunftsmarkt Streaming lernen wir: Nicht Spotify zahlt zu wenig an die Künstler, sondern die Labels geben zu wenig weiter.
Denn gerade die Majors arbeiten auf Kosten der Künstler mit alten Tricks wie Technikkosten- und Verpackungsabzug oder der neuen 360-Grad-Vermarktung, um wieder zu Geld zu kommen.
Für Insider nicht neu – aber hübsch zusammengefasst
Dabei ist es mit dem Paradigmenwechsel in der Musikwirtschaft wie bei der Familientherapie: Das einzelne Familienmitglied kann sich nicht allein von innen verändern, dazu braucht es die Fragen des Therapeuten von außen. Oder frischen Input von Menschen aus anderen Bereichen. The Bianca Story liefern das aktuellste Beispiel: Die Basler Band lässt sich von Fans ihr Album über Crowdfunding finanzieren – und legt alle Kosten im Netz offen.
Da kommen viele Erkenntnisse des Buches praktisch zum Tragen. Konkret haben die Schweizer sie zuerst im Bereich der Bildenden Kunst ausprobiert und dabei Erfahrungen mit Nähe, Transparenz, Glaubwürdigkeit, Leichtigkeit und Selbstironie gesammelt – alles Faktoren, die für Musiker heute gleichermaßen wichtig sind.
Cro gibt das beste Beispiel für neue Formen von Promotion und Vertrieb, indem der Rapper Downloader in eigene Netzwerke einbindet. Rent-A-Record-Company ist für Musiker eine neue Form, vorhandene Kapazitäten zu nutzen, ohne die Rechte an ihren Werken abzugeben.
Das alles ist für Insider nicht ganz neu. Aber für Neueinsteiger und Popmusiker von morgen noch mal hübsch zusammengefasst. Und der Traum vom Popstar darf wieder geträumt werden, auch ohne Sex.