Rock im Frost
Bislang machte Island vor allem als Literaturnation von sich reden. Auch die junge Generation hält an der dichterischen Tradition der Insel fest - und mischt sie mit Musik. Mehr als 300 neue Alben werden hier jedes Jahr veröffentlicht.
Ulfur: "Im Winter ist es die ganze Zeit dunkel und man fühlt sich eigentlich permanent müde. Draußen ist es kalt und Du willst eigentlich nur zu Hause im Bett bleiben. Also hatte ich angefangen, genau das zum Thema zu machen bei unserem letzten Album. Einfach schlafen oder müde sein."
Aber noch ist es hell vor den Fensterscheiben, jetzt im November in , der nördlichsten Hauptstadt Europas. Es ist später Nachmittag und Ulfur Alexander Einarsson nippt an seinem Bier, während er am Verstärker seiner Gitarre millimeterweise genau den Sound einstellt, den er haben möchte.
Wabernd wie die grünlichen Nordlichter später am Nachthimmel. Der typisch isländische Rocksound.
"Während unseres Auftritts habe ich immer das Gefühl, dass die Leute gelangweilt sind. Ich hab echt das Gefühl, die finden das scheiße, was wir machen, weil sie einfach da stehen und uns mit so leerem Gesichtsandruck zuschauen. Hinterher sagen uns dann zwar viele, dass die das total cool fanden, aber zwischendurch … Vielleicht rufen wir aber auch genau dieses Gefühl hervor: Einfach ausdruckslos dastehen."
Die Musikszene in Island ist klein - man kennt sich
Ulfur sieht mit seiner roten Wollmütze und dem offenen Karohemd aus wie ein Fischer-Azubi - ist tatsächlich aber 26 und spielt in mehreren Bands gleichzeitig. Jetzt gerade baut er für seinen Auftritt mit Oyama auf, seiner fünfköpfigen Rockband, die er vor zwei Jahren gegründet hat. Wie das halt immer so sei, erzählt Schlagzeuger Runar: Man trifft sich einmal irgendwie so zum Proben – und plötzlich ist gibt es eine Band:
"Island ist da glaub ich ziemlich einzigartig, weil wir auch so ein kleines Land sind. Die ganze Musikszene kennt sich hier und dann sucht die eine Band mal einen neuen Schlagzeuger, die andere einen Gitarristen und schon hat man ein neues Projekt."
Oder gleich mehrere. Vor kurzem hatte ein isländisches Magazin Oyama als "Band aus mehreren Bands" bezeichnet. Weil jeder noch ein paar andere Projekte neben Oyama laufen hat. Aber eigentlich trifft das auf jede Band in Reykjavik zu. Schlagzeuger Runar spielt gemeinsam mit Bassist Perkur noch in einer Punkband. Sänger Ulfur und Gitarrist Kauri in einer Folk-Pop-Band. Und Sängerin Julia tritt noch mit einem Akkustik-Duo auf.
Einmal im Jahr, wenn die Tage deutlich kürzer werden, findet in Reykjavik das größte Musikfestival des Landes statt: Das Iceland Airwaves, auf dem sich die angesagtesten Bands Islands Musikproduzenten aus aller Welt präsentieren. Für die Musiker von Oyama heißt das: 14 Auftritte in fünf Tagen.
Eine Kellnerin kommt vorbei und stellt jedem der fünf Musiker eine Bierflasche vor die Füße. Eine, die muss für den Abend reichen. Und das nicht nur, weil Alkohol in Island so teuer ist, sagt Ulfur:
"Die Konzertveranstalter interessieren sich eigentlich gar nicht für die Bands. Klar, es gibt ja auch so viele. Aber die sagen eher: Gut, Du kannst hier spielen. Aber bring Deinen ganzen Kram und die Technik selber mit. Du kriegst vielleicht ein, zwei Bier, und das war's. Keine Gage, solange Du nicht absolut berühmt bist. Deswegen funktioniert hier auch die Untergrund-Musikszene so gut, weil jeder selbst anfängt, Shows zu veranstalten, mit befreundeten Bands."
Mehr als 300 Neuerscheinungen in nur einem Jahr
Oder selbst die eigenen Alben herausbringt. Fast 300 Neuerscheinungen sind im vergangenen Jahr bei der isländischen Nationalbibliothek eingetragen worden – von all den selbstgebrannten Demo-CDs kaum zu sprechen. Nach dem Bankenkollaps vor fünf Jahren ist zwar auch der Musikmarkt kurz eingebrochen, mittlerweile erholt sich die Branche aber wieder. Und 80 Prozent der verkauften CDs sind isländische Produktionen.
Nach kurzem Soundcheck mit Oyama trennt sich die Gruppe. Schlagzeuger Runar Marinosson muss zu seinem nächsten Auftritt mit seiner Punkband "Grisalapalisa". 500 Zuschauer im Kunstmuseum von Reykjavik.
Er läuft den kurzen Berg in Richtung der überschaubaren Innenstadt hinunter. Alles, was in zehn Minuten in Reykjavik nicht zu Fuß erreicht werden kann, sei auch nicht wert, angesteuert zu werden, sagen die Einheimischen. Runar läuft vorbei an kleinen Cafés, Galerien, Touristenläden mit Wollpullovern und dutzenden Restaurants. Er springt noch kurz auf ein Falafel-Sandwich in einen syrischen Imbiss.
"Es ist ziemlich schwer, typisch isländisches Essen hier zu finden. Wir haben hier fast nur Pizza, Burger oder so was. Aber ich mag dieses Multikulturelle der Stadt."
Durchschnittlich 20 Erdbeben gibt es jeden Tag irgendwo auf Island. Und mindestens genau so viele Bands entstehen und trennen sich hier jeden Tag. Die Musikszene Reykjaviks ist wie das Land selbst. Es blubbert und brodelt überall, ständig verschiebt sich etwas, ab und an öffnet sich ein Spalt und all die Energie wird hinausgeschleudert. Dann hört man auch auf dem europäischen Festland wieder von Island. Von Vulkanen wie dem Eyjafjallajökull oder Musikern wie Björk oder den "Monsters of Men".
"Wenn ich hier Gitarre spiele, dann bin ich extrem frei. Wir spielen ja Punk, da kann ich machen was ich will. Ich kann jede Show improvisieren oder mit einer Bierflasche über die Saiten gehen. Aber wenn ich später dann bei Oyama Schlagzeug spiele, ist alles exakt festgelegt. Das ist auch cool, ich mag beides. Die Punk-Einstellung jetzt und die Disziplin später."
Ihren erste Aufschwung erlebte die isländische Musikindustrie Ende der 1980er-Jahre, als Björk und Sigur Rós international erfolgreich wurden. Die Zahl der Musiklabels und Produzenten ist seitdem von acht auf mittlerweile fast 100 geklettert. Und mittendrin, in der Musikszene und der langgestreckten Einkaufsstraße in Reykjaviks Altstadt, ist der Laden von Larus Johannesson. "Twelve Tonar" vertreibt seit Jahren die Werke junger, isländischer Künstler.
Larus Johannesson: "Das besondere an den Musikern hier ist, dass sie Musik aus ihrem Herzen machen. Das klingt kitschig, aber die Leute hier denken tatsächlich nicht all zu viel darüber nach, wie sich der nächste Hit anhören könnte. Sie machen einfach - und wenn es sich blöd anhört, machen sie was Neues. Deswegen wird hier auch so viel mit verschiedenen Sounds herumexperimentiert."
Maurer, Reporter, CD-Verkäufer - eine typisch isländische Biografie
Scheitern gehöre dazu, erzählt Larus und fläzt sich in dem abgewetzten Sofa, dass die lila Socken unter der hellbraunen Stoffhose hervorlugen. Larus ist fast 50 und hat eine typisch isländische Biografie. Er hat schon als Maurer gearbeitet, als Reporter, Taxifahrer, war professioneller Schachspieler, hat Theologie studiert – und ist seit 20 Jahren eben im Musikgeschäft.
"Wir haben hier eine extrem fortgeschrittene Musikausbildung schon in der Schule. Die Kinder lernen nicht nur, Instrumente zu spielen, sondern auch viel Theorie. Klassische Musik und Jazz gehört dazu. Und selbst wenn eine junge Band Rockmusik spielt, haben die trotzdem alle viel musikalisches Hintergrundwissen."
Die isländische Musikindustrie hat im vergangenen Jahr fast dreieinhalb Millionen Euro Umsatz gemacht. Und sie expandiert auf neue Märkte.
"Bislang galt England immer als unser Top-Absatzmarkt. Mittlerweile exportieren wir aber vor allem nach Deutschland. Der deutsche Markt ist deutlich einfacher und die Deutschen haben seit jeher Interesse an skandinavischer oder nördlicher Kultur. Sie sind sehr gebildet und akzeptieren daher auch das etwas Experimentellere in der isländischen Musik."
Ulfurs zweites Projekt nennt sich Útidúr und macht isländische Folk- und Pop-Musik.
Ulfur: "Isländer verzeihen Dir auch mal schnell einen Fehler. Wenn Du ein schlechtes Album gemacht hast, dann sagen sie nicht, das war Mist, ich höre die Band nie wieder. Sondern sie hören sich das nächste erst mal an. Du kriegst hier immer eine zweite Chance."
Es heißt, dass jeder zweite Isländer Dichter sei. Und 50 Prozent Musiker. Überall Künstler. Nach der Finanzkrise machten sie in Reykjavik sogar einen, den Punkrocker und Komiker Jon Gnarr, zu ihrem Bürgermeister. Leben können von der Kunst aber nur die wenigsten. Auch Ulfur arbeitet zusätzlich als Betreuer an einer Nachmittagsschule für Kinder. Malen, Basteln und Musik für die kleinsten. Ein Job, den viele isländische Musiker haben.
"Es ist einfach perfekt. Du hast am Wochenende frei, die Abende, und Du kannst immer lange ausschlafen. Und wenn Du auf Tour ins Ausland gehst, dann meldest Du dich einfach ab und bist für ein paar Wochen nicht da."
Von ihrer Musik leben können nur wenige Isländer
Es ist keine Vollzeitstelle. Wie bei so vielen jungen Isländern. Die Bevölkerungspyramide sieht hier zwar noch so aus, wie eine Pyramide eben auszusehen hat, mit vielen jungen Menschen als Basis. Aber nach dem Zusammenbruch der drei staatlichen Banken vor fünf Jahren hat sich die Wirtschaft des Landes noch nicht wieder vollständig erholt. Zwar müsse hier keiner hungern, sagt Ulfur. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt trotzdem bei fast zwölf Prozent.
"Ich habe kein Auto, ich teile mit zwei Leuten ein günstiges Apartment. Ich habe keine Kinder. Ich führe ein Junggesellenleben. Ich komme so gerade über die Runden, aber ich kriege all die Freizeit, die ich brauche."
Julia: "Wir sind ein kleines, sich selbst tragendes Business, kann man sagen. Das ist schon ziemlich gut. Viele Bands hier, die ein neues Album rausbringen, nehmen dafür Kredite auf oder leihen sich Geld. Wir kriegen ein bisschen was rein. Das Problem für junge Bands in Island ist ja, dass sie nicht vernünftig auf Tour gehen können. Nicht wie in Europa oder Nordamerika, wo Du einfach einen Van mietest und durchs Land fährst. Von daher können wir echt zufrieden sein, dass wir eine schwarze Null schreiben."
Julia Hermannsdotir ist Sängerin und Keyboarderin von Oyama. Während die anderen nach dem Soundcheck am späten Nachmittag zu ihren nächsten Auftritten gegangen sind, fährt auch Julia zu ihrem eigenen Auftritt. Zusammen mit einer alten High-School-Freundin aus New York tritt sie als "Feather and Folly" in einer Hotelbar auf.
"Ich war damals total enttäuscht, als ich aus Island weg bin. Ich hab die Musik total vermisst. Klar, auch in New York gibt es jeden Abend großartige Konzerte. Aber die Leute da wissen gar nicht zu schätzen, welche tollen Bands regelmäßig bei ihnen auftreten. Sie flippen nicht so aus, wie wir Isländer, wenn mal ein Star hierher kommt."
Julia läuft mit der Gitarre und einem Beutel voller Percussion-Instrumente durch die Innenstadt, die vom Stil her eher an ein mittelgroßes Fischerdörfchen erinnert. Rote Holzhäuschen und geduckte Bürogebäude durcheinander gemixt. Julia zeigt auf das älteste Gebäude der Stadt, ein braunes Holzhaus, in dem jetzt ein kleines Café und ein Outdoor-Laden sind. Hier könnte man sich zu Dates treffen, wenn es das denn gäbe in Island.
"Es gibt keine wirkliche Dating-Kultur hier. Die Leute gehen einfach in die Bar. Sie bleiben bis vier Uhr morgens, sind total betrunken und dann gehen sie miteinander nach Hause und schlafen miteinander. Und wenn man das öfters mit der gleichen Person macht, dann ist man dann zusammen. Ich wünschte, es wäre anders, aber echte Dates haben wir hier ziemlich selten."
"Die Leute halten hier ziemlich zusammen"
In einer dunklen Bar im ältesten Hotel der Stadt sitzt Julia auf der Bühne. Es sind gerade mal acht Zuschauer da. Während des kurzen Auftrittes kommen auch Ulfur und Kauri von Julias Band Oyama dazu, die eine Straße weiter für den späteren Auftritt ihrer isländischen Folk-Band aufgebaut haben. Geografisch und sozial ist Reykjavik extrem überschaubar.
"Die Leute halten hier ziemlich zusammen. Als ich aus New York zurückgekommen bin, vor drei Jahren, hab ich mich gefühlt, als ob ich nicht mehr dazu gehören würde. Aber langsam wird das besser. In einer Band zu sein hilft, um wieder den Anschluss zu bekommen."
Dann geht es schnell zurück. Raus aus der Bar, rein in den Wagen und zum letzten Auftritt des Abends. Im frisch errichteten Konzerthaus, das gläsern funkelnd und bunt beleuchtet im Hafen liegt. Aus den anderen Clubs der Stadt sind auch die anderen Bandmitglieder mittlerweile dazugestoßen. Die Haare sind verwuschelt vom vielen raus und reingehen, vom Wollmütze aufziehen und abnehmen. Der kristallklare Wind treibt das Wasser über den Vorplatz.
Sänger Ulfur sieht zwar müde aus, aber glücklich. Er hat gerade eine Nachricht ihres Managers bekommen: Anfang des Jahres soll Oyama auf einem großen Festival in Belgien spielen.
"Es klingt wie ein Klisché, eine Band aus Island zu sein. Aber das ist eigentlich ein Pluspunkt, wenn wir auf Tour gehen. Isländische Musik hat in Europa einen hohen Stellenwert, weil sie wissen, dass hier immer gute Musik herkommt."
Ein Schritt weiter Richtung europäischer Musikmarkt. Dann wird den fünf wieder eine Flasche Bier auf die Verstärker gestellt. Aber da sind sie schon ganz in ihre Musik versunken. Melodien über Melancholie und Schlaf wabern durch das Konzerthaus. Draußen, vor der Glasfassade, wabert das Nordlicht über einem Gletscher. Irgendwo dahinter liegt Europa für Oyama. Wenn nicht wieder in Vulkan dazwischen kommt.