Streaming ist schön - macht aber nicht satt. Rainer Pöllmann aus unserer Musikredaktion betrachtet die neue Gratismentalität im Internet skeptisch. Seinen Kommentar zum Boom der Wohnzimmerkonzerte können Sie hier hören.
Zwiespältige Gratiskultur im Netz
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Im Zuge der Coronakrise geraten Musikschaffende weltweit in Existenznot. Einnahmen aus Konzerten brechen weg. Viele spielen nun im Internet - aber meist kostenlos. Bringt eine neue Gratiskultur sie in noch größere Bedrängnis?
Die Backstreet Boys, Clueso oder James Blake: Sie alle haben den Livestream-Knopf bei Facebook, Instagram oder Twitch gedrückt. H.P. Baxxter hat in den leeren Raum geschrien. Und auch der Berliner Musiker Gregor McEwan hat ein ganz kurzes Video auf Facebook gepostet. Ein ganzes Konzert, gestreamt aus seinem Wohnzimmer, hat er noch nicht gemacht.
Kunstschaffende verdienen es, bezahlt zu werden
"Nein, jetzt wird man ja von diesen Massen total überflutet. Ich käme mir komisch dabei vor, wenn ich das jetzt auch machen würde", lacht McEwan. Dabei habe er sogar vor Corona schon überlegt, kleine Songausschnitte in die sozialen Netzwerke zu stellen, "und die Vollversion dann irgendwo anders hinzuleiten - vielleicht irgendwohin, wo man auch etwas bekommt für den Content."
Kunstschaffende verdienen es, bezahlt zu werden, findet Gregor McEwan. Etwas, das im Netz im Moment untergehe. Der Hamburger Musiker Herr D.K. dagegen meint, die Live-Darbietungen seien gute Promo, also Werbung. Deshalb findet er es nicht so schlimm, dass die meisten momentan umsonst streamen.
Die Hamburger Band Die Sterne sollte Ende März noch drei Konzerte spielen – die wurden natürlich abgesagt. Vor einer Woche hat sich Frank Spilker deshalb beim Gitarrespielen im Wohnzimmer gefilmt und das mit dem RBB-Sender Radio Eins ins Netz übertragen.
Solidarität in Zeiten der Isolation
"Ich glaube es ist ein Missverständnis anzunehmen, dass diese Auftritte, die zurzeit im Netz stattfinden, ein Ersatz für real stattfindende Konzerte sind", sagt Spilker. "Es geht vielmehr darum, eine gewisse Art von Solidarität zu zeigen, jetzt in der Zeit der häuslichen Isolation etwas passieren zu lassen."
Vor allem sind sie kein finanzieller Ersatz für die Verdienstausfälle, die Musikerinnen und Musiker sowie Beschäftigte in Technik und Booking gerade erleiden. Denn das Live-Geschäft macht zwei Drittel des Gesamtumsatzes im Musikmarkt aus.
Führt die Corona-Livestreaming-Flut also zurück in die Gratiskultur der 2000er-Jahre, als keiner so richtig einsehen wollte, dass Kunst und Kultur etwas wert sind – nämlich Geld?
"Echte Gefahr für die ganze Branche"
"Eine reine Online-Gratiskultur, wenn alles online kostenlos ist, das wäre im Moment eine echte Gefahr für die ganze Branche", meint Sebastian Boppert, Pressesprecher bei Eventbrite. Das Unternehmen verkauft Tickets für Veranstaltungen, darunter Großfestivals wie das Open Beatz oder das Ikarus Festival. "Künstler, Clubs, die ganze Branche braucht jetzt Geld", sagt Boppert.
Was viele Musikerinnen und Musiker für die digitalen Darbietungen verlangen - oder worum sie bitten: Spenden. Das Livestream-Konzert von Elton John mit Alicia Keys, Dave Grohl und Billie Eilish hat angeblich über acht Millionen Dollar Coronahilfsgelder eingebracht. Sehr ehrenhaft. Es lief allerdings zusätzlich auch im US-Fernsehen.
Die meisten Musikschaffenden spielen ohnehin nicht in dieser Liga. Sie sind kleine Indiebands oder Solo-Acts, die oft schon vor der Krise wenig hatten – und jetzt besonders hart betroffen sind. Auch manche von ihnen sammeln. So nahm die Musikerin Mine nach ihrem Konzert auf dem Portal www.dringeblieben.de über 10.000 Euro Spenden ein und unterstützte damit den Club Gretchen, die Caritas und das Deutsche Rote Kreuz.
Für Qualität bezahlen Fans auch online
Es scheint also eine gewisse Zurückhaltung zu geben, für die eigene Kunst im Netz auch Geld zu verlangen in diesen Coronazeiten. Die international renommierte Musikerin Erykah Badu experimentiert mit einer kostenpflichtigen "Quarantine Concert Series". Für die erste Folge waren laut Medienberichten etwa 10.000 Leute bereit, einen Dollar zu zahlen.
Für jemand, der so bekannt ist wie Erykah Badu sei das immer noch ein ziemlicher Schlag ins Wasser, sagt Mat Dryhurst. Der amerikanische Musiker und Wissenschaftler lebt in Berlin und beschäftigt sich schon seit zehn Jahren mit dem Livestreaming von Konzerten.
Aber es ist ein Anfang. Badu ist eine der ganz wenigen, die überhaupt Tickets für Onlinestreams verkauft. Sie hält allerdings auch nicht einfach nur ihr Smartphone in der Hand und holt die Gitarre aus der Ecke: Die Fans können interaktiv von Raum zu Raum klicken und ihre gesamte Band beim Spielen beobachten.
Livestream-Konzerte - die ewigen Hoffnungsträger
Seit zehn Jahren schon würden Leute Livestream-Performances als die Zukunft verkaufen. Mat Dryhurst winkt ab: "Wenn es die Möglichkeit gäbe, wirklich gute Performances mit der aktuellen Technologie zu kreieren, dann würden Leute das ja tun. Machen sie aber nicht, aus einem guten Grund."
Vielleicht ändert sich das aber durch die Coronazeit und die Fans gewöhnen sich daran, auch mal online ein Konzert zu – ja, besuchen. Oder wie man das dann nennen wird. Nur müsste sich die Branche dann flächendeckend trauen, Geld dafür einzufordern.
Klar sein sollte jedenfalls: Kunst ist gerade jetzt mehr als nur ein Mittel, um Spenden zu sammeln. An ihr hängen Existenzen. Und verwackelte Instagram-Livestreams haben nun wirklich alle genug gesehen.