Popow: Verhalten der Menschen ist mir wichtiger als Bezeichnungen
Sportler mit Handicap oder Versehrtensportler - wie nennt man einen Sprinter, der mit einer Prothese läuft, politisch korrekt? Er lege "keinen Wert auf Begriffe", erklärt Heinrich Popow, der seit einer Krankheit in der Kindheit ohne ein zweites Bein lebt. Schlimm sei es für ihn nur in der Pubertät gewesen. Dass er diese Zeit bestanden habe, habe aber auch sein Selbstbewusstsein gestärkt.
Ulrike Timm: Worte, die wehtun, sind derzeit vielfach Thema in ganz unterschiedlichen Lebensbereichen. Es begann damit, ob man Kinderbücher ändern soll, wenn sie Worte benutzen, die heute einfach nicht mehr gehen, weil sie zum Beispiel rassistisch sind, dann zog die Diskussion Kreise, wurde grundsätzlich: Wie verhält man sich korrekt, ohne die vielbeschworene Political Correctness so zu betonen, dass sie als Krampf daher kommt? Inwieweit ist der Umgang mit Menschen, die anders aussehen, anders leben, anders sind, auch so schlicht wie schwierig eine Sache der Höflichkeit und des Einfühlungsvermögens? Über Worte, die wehtun und Worte, die es leichter machen, wollen wir sprechen mit Heinrich Popow. Er gewann die 100 Meter Sprint in London bei den Paralympics – auf einem Bein, das andere war eine Prothese. Schönen guten Morgen, Herr Popow!
Heinrich Popow: Guten Morgen, hallo!
Timm: Herr Popow, man stockt ja schon: Sind Sie nun behindert, haben Sie ein Handicap, sind Sie ein Versehrtensportler? Wie sage ich das?
Popow: Das weiß ich selber nicht so genau. Ich persönlich mache die Leichtathletik, habe zwar Einschränkungen, aber das fordert mich heraus und macht mich auch stärker. Und deswegen lege ich zum Beispiel persönlich gar keinen Wert auf Begriffe.
Timm: Gibt es denn Worte, Formulierungen, wo Sie trotzdem zusammenzucken und sich verletzt fühlen? Vielleicht nicht mehr jetzt als Olympiasieger, wo Sie auf dem Treppchen standen, aber als Teenager – Sie haben ja Ihr Bein mit acht Jahren durch eine schwere Krankheit verloren – stelle ich mir das nicht so einfach vor.
Popow: Ja, das stimmt. Das war in der Schule, da war es natürlich ganz besonders schlimm, weil man da von den Mitschülern oder von irgendwelchen Jungs gehänselt worden ist. Die Jungs haben ja versucht, sich irgendwie zu positionieren gegenüber den Mädels, und die Mädels hatten da Berührungsängste mit, und deswegen stand man ganz schnell alleine da, und das war eine harte Zeit. Nichtsdestotrotz hat mich diese Zeit auch, hat die Person aus mir gemacht, die ich jetzt bin, und ich weiß, dass es wehgetan hat damals, aber das hat alles zu einem Positiven geführt, und ich bin der Meinung, man sollte nicht so viel Wert auf Wörter legen, weil am Ende des Tages kommt es immer nur auf den Menschen drauf an, und der ist leistungsfähig, egal, was er hat, und das sollte man dann immer wieder beweisen, und nicht irgendwie sich an Wörtern festhalten.
Timm: In Ihrer Trainingsgruppe, da ist ja Ihre Behinderung Normalität, bei den Paralympics ist sie Normalität, und bei jedem Wettkampf, den Sie bestreiten, weiß man, der Heinrich Popow läuft mit einem Bein und Prothese – und das wahnsinnig schnell. Aber was erleben Sie, wenn Sie im Sommer kurze Hosen tragen und durch die Straßen gehen?
Popow: Kommt drauf an, zurzeit halt mit dem Paralympics-Sieg ist das so, dass die Leute mich erkennen und dann auch auf mich zukommen und das ganz toll finden. Aber es gibt auch Blicke, die irgendwie ausweichend sind. Das ist aber ganz besonders bei Erwachsenen festzustellen. Kinder, die sind da sehr offen dem Thema gegenüber, die gucken sich das an und wollen da mehr drüber wissen. Und Erwachsene ziehen dann diese Kinder zurück, um zu sagen: Hey, hör auf jetzt, tritt dem bloß nicht zu nahe! Das sehe ich ganz anders, man sollte einfach frei sein, man sollte sich nicht in irgendwelche Dinge hineinzwängen, die man nicht möchte. Wenn man der Meinung ist, man muss was fragen, dann sollte man fragen und keine Berührungsängste mir gegenüber haben oder generell Menschen mit Behinderung gegenüber haben, weil das ist ja nicht ansteckend, tut auch nicht weh, und deswegen. Wir sind genau so kommunikationsbedürftig wie Menschen mit zwei Beinen oder mit zwei Armen, deswegen sollte man da keinen Unterschied machen.
Timm: Das jetzt beschreiben Sie, was Sie sich wünschen. Aber was tun Sie, wenn Sie – wir stellen uns das mal vor, Sie stehen an der Eisdiele, holen sich ein Eis, stehen da in kurzen Hosen, ein Kind sieht das und ein Erwachsener zieht es zurück. Was machen Sie dann?
Popow: Es kommt auf die Situation drauf an, je nach dem, wenn das sehr offensichtlich ist, dann spreche ich den Erwachsenen drauf an und sage meine Meinung, dass ich das nicht so gut finde. Und dem Kind versuche ich das zu erklären, weil für Kids ist das was ganz Besonderes, die sehen das aus einem Zeichentrickfilm, so ein Roboterbein, und wollen da mehr zu wissen, da es Realität ist. Ja, das kommt auf die Situation drauf an, wenn halt das zu offensichtlich ist, dann spreche ich die Leute schon drauf an.
Timm: Sie, Herr Popow, Sie haben Ihr Bein als Kind durch eine schwere Krankheit verloren. Sie erinnern sich also auch noch an ein Leben auf zwei Beinen, Sie sind nicht damit geboren, sodass Sie sagen, ich bin immer schon so gewesen, ich kann es mir gar nicht vorstellen. Wie lange hat es denn gedauert, bis Sie nicht mehr unter Ihrer Behinderung litten?
Popow: Ganz am Anfang, nach der Amputation, war es gar nicht so, dass ich darunter gelitten habe. Das war schlimm für meine Eltern, weil als Kind willst du ja nur raus und willst dich bewegen. Die Pubertät, die war das Schlimmste, wie gesagt, da, wo Kids grausam sind, da, wo ich halt gehänselt worden bin und wo man meine vermeintliche Schwäche als Stärke der anderen genutzt hat, da kann ich mich ganz gut dran erinnern. Aber das war eine Zeit zwischen 14 und 17, das waren drei Jahre, davor war es eher so, dass ich das nicht verstanden habe, was mit mir passiert ist, direkt nach der Amputation. Ich hatte das Bedürfnis, mich zu bewegen, und konnte es nicht, und das mussten halt die Eltern irgendwie verarbeiten. Für mich persönlich war das damals nicht so schlimm.
Timm: Erinnern Sie sich – auch wenn Sie sagen, Ihnen sind Worte da nicht so wichtig, sondern eher, wie die Leute sich verhalten – erinnern Sie sich trotzdem an Formulierungen, Ausdrücke, die Sie schlicht verletzt haben? Das K-Wort?
Popow: Oh ja, ... Ja, nein, es gab zum Beispiel – ich habe so eine ungewöhnliche Laufweise gehabt, wenn ich irgendwie Kids hinterher gelaufen bin, das sah dann aus wie so ein Propeller, und dann wurde ich als schneller Propeller gehänselt, oder auf geht's, Behindi, und so. In dem Zusammenhang, wie die Wörter gefallen sind, waren sie auf jeden Fall beleidigend, das muss man ja auch wissen, in was für einem Zusammenhang Wörter fallen. Mittlerweile gibt es ja zum Beispiel auch Floskeln, wo man sagt: Oh Mann, bist du behindert! Das hat ja nicht immer was Böses mit sich, und deswegen sollte man den Zusammenhang nicht vergessen. Und bei mir war es halt oft aus einem bösen Zusammenhang, weil da die Kids mir auch wehtun wollten. Und da gab es ganz oft Situationen, auf dem Schulhof, im Sport, außerhalb auch – das war dann, in Streitsituationen versucht man irgendwas zu finden, wo man einem besonders wehtun kann, und dann hat ja so ein Wort auch eine andere Gewichtung.
Timm: Und dann bestimmen die anderen die Regeln, und der Behinderte muss parieren, akzeptieren, das hinnehmen, sich wehren? Was würden Sie raten, wenn jemand nicht Olympiasieger ist und nicht Ihr Selbstbewusstsein vielleicht auch haben kann?
Popow: Ja, das ist ganz schwierig, man kann ja auch Schwächen des anderen ausmachen und eventuell verbal zurückschlagen. Man muss das auf jeden Fall nicht auf sich nehmen oder hinnehmen. Was ich einem raten würde, ich würde versuchen, auch das Selbstbewusstsein zu steigern und da drüber zu stehen, das sollte als allererstes das Wichtigste sein. Und dann muss man ja auch die Situation wissen, genau in was für einer man steckt, und dann auf jeden Fall reagieren, und eventuell auch vielleicht gar nichts dazu sagen, und die Person dann einfach stehen lassen. Das tut meistens auch weh, wenn man da gar nicht drauf reagiert.
Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit Heinrich Popow, 100-Meter-Sprint-Sieger bei den Paralympics und seit einer Krankheit in der Kindheit ohne zweites Bein. Herr Popow, Sie haben mal gesagt, in Großbritannien gingen die Menschen ganz anders mit Behinderten um, auch jenseits der Paralympics. Wie denn?
Popow: Ich habe das ein Jahr vor den Paralympics erlebt, als ich da war. Für die ist das was ganz Besonderes, die haben da eine Wertschätzung für, weil sie wissen, was Menschen mit Behinderung leisten können. Und deswegen ist das für sie, die gehen ganz offen auf einen zu, das ist – die Erwachsenen benehmen sich genau so wie bei uns die Kinder, das kann man so salopp sagen. Die haben da gar keine Berührungsängste, fragen, finden das total cool oft, wie man damit umgeht, und was da möglich ist, und interessieren sich dafür, das ist – ja, die Briten sind unsere Kinder in Deutschland.
Timm: Erstaunlich! Haben sie eigentlich auch mal so was erlebt wie – ich sage mal – positive Diskriminierung, die nervt? Also wenn man auf Sie zugeht und sagt: Na ja, gemessen an seinen Möglichkeiten, also wie der sein Leben meistert, wenn man bedenkt, was der alles einstecken muss, muss er wirklich ganz besonders sein oder ein ganz besonders guter Mensch oder ein ganz besonders leistungsbetonter Mensch – dass Sie auch mal denken: Oh Gott, lasst mich damit doch mal in Ruhe!
Popow: Das erlebe ich täglich beim Training, das heißt, die Situation hatte ich erst gestern. Ich bin ja in einer Gruppe von Nichtbehinderten, wo wir uns auch duellieren. Und dann wird der Trainer ganz oft gefragt: Warum kann der mit einem Bein schon so schnell laufen und wir quälen uns hier noch im Training und so? Ja, ich hatte gestern so eine Rennsituation, wo ich mit meiner Behinderung gar nicht mehr irgendwie gepusht werde, alle haben drauf gehofft, dass das Mädchen mich schlägt. Ja, und das ist so – man traut mir öfter nicht das zu, was ich halt bringe, und das ist für mich dann das Positive. Aber es fallen auch mal Wörter: Warum ist der Behinderte jetzt auf einmal so schnell? Aber das nehme ich dann mit Humor, und da lache ich drüber, weil der einfachste Weg, mit irgendwas umzugehen, ist auch mal drüber lachen zu können. Und das habe ich fast täglich, diese Situation, habe dann auch andersrum das als Motivation, weil wenn ich in der Trainingsgruppe Leute sehe, die irgendwie rumheulen, weil sie müde sind, dann kommt auch mal ein Spruch von mir: Och Gott, ist bei dir das Bein dran? Und dann wissen sie ganz genau, die dürfen gar nicht meckern. Und das passiert öfters, ja.
Timm: Manchmal gibt es ja auch ein bisschen schräge Gedankengänge, ich erinnere daran, dass bei den Paralympics ja auch Sportler heimgeschickt wurden, weil sie gedopt waren. Und wir haben gestern in der Redaktion drüber gesprochen, dann gibt es so die Reaktion: Was? Behindert? Gedopt? Kann nicht sein! Das sind doch sowieso die ganz Edlen. Oder auch: Behindert? Gedopt? Was denkt der sich? Geht gar nicht! Eine spontane Reaktion – was sagt uns so was, dass behinderte Sportler eben auch solche Vergehen begehen und dass man immer denkt, nein, das kann nicht sein?
Popow: Ganz einfach, dass sie auch normal sind, dass sie an einem Punkt ankommen, wo sie eine Leistung bringen wollen, die der menschliche Körper nicht hergibt, und wo sie dann versuchen, nachzuhelfen. Ich persönlich bin da ein absoluter Gegner, aber es muss jeder für sich selber entscheiden, und das ist dann - auch Menschen mit Behinderung machen Fehler, und eine Behinderung sagt ja nichts über eine Person aus, und im Sport, ist das genau so. Im Sport sind wir wirklich im Sport, und im Leistungssport sind wir im Leistungssport, und da zählt die Leistung, und dann entscheiden Leute für sich, dass sie auch betrügen wollen. Und das ist halt dann unfair anderen Menschen mit Behinderung gegenüber, aber das sagt nichts darüber aus, dass man denkt: Ach Gott, ein Behinderter, der jetzt auf einmal dopt, das geht ja gar nicht. Ein Behinderter macht auch Fehler.
Timm: Heinrich Popow, 100-Meter-Sprint-Sieger bei den Paralympics in London. Ich bedanke mich ganz herzlich für das Gespräch, und ich wünsche Ihnen einen schnellen Lauf im Training!
Popow: Super, danke schön, vielen Dank!
Timm: Tschüss, schönen Tag!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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"London war in einem Paralympic-Fieber" - Verbandspräsident spricht von "Quantensprung" im Behindertensport
Heinrich Popow: Guten Morgen, hallo!
Timm: Herr Popow, man stockt ja schon: Sind Sie nun behindert, haben Sie ein Handicap, sind Sie ein Versehrtensportler? Wie sage ich das?
Popow: Das weiß ich selber nicht so genau. Ich persönlich mache die Leichtathletik, habe zwar Einschränkungen, aber das fordert mich heraus und macht mich auch stärker. Und deswegen lege ich zum Beispiel persönlich gar keinen Wert auf Begriffe.
Timm: Gibt es denn Worte, Formulierungen, wo Sie trotzdem zusammenzucken und sich verletzt fühlen? Vielleicht nicht mehr jetzt als Olympiasieger, wo Sie auf dem Treppchen standen, aber als Teenager – Sie haben ja Ihr Bein mit acht Jahren durch eine schwere Krankheit verloren – stelle ich mir das nicht so einfach vor.
Popow: Ja, das stimmt. Das war in der Schule, da war es natürlich ganz besonders schlimm, weil man da von den Mitschülern oder von irgendwelchen Jungs gehänselt worden ist. Die Jungs haben ja versucht, sich irgendwie zu positionieren gegenüber den Mädels, und die Mädels hatten da Berührungsängste mit, und deswegen stand man ganz schnell alleine da, und das war eine harte Zeit. Nichtsdestotrotz hat mich diese Zeit auch, hat die Person aus mir gemacht, die ich jetzt bin, und ich weiß, dass es wehgetan hat damals, aber das hat alles zu einem Positiven geführt, und ich bin der Meinung, man sollte nicht so viel Wert auf Wörter legen, weil am Ende des Tages kommt es immer nur auf den Menschen drauf an, und der ist leistungsfähig, egal, was er hat, und das sollte man dann immer wieder beweisen, und nicht irgendwie sich an Wörtern festhalten.
Timm: In Ihrer Trainingsgruppe, da ist ja Ihre Behinderung Normalität, bei den Paralympics ist sie Normalität, und bei jedem Wettkampf, den Sie bestreiten, weiß man, der Heinrich Popow läuft mit einem Bein und Prothese – und das wahnsinnig schnell. Aber was erleben Sie, wenn Sie im Sommer kurze Hosen tragen und durch die Straßen gehen?
Popow: Kommt drauf an, zurzeit halt mit dem Paralympics-Sieg ist das so, dass die Leute mich erkennen und dann auch auf mich zukommen und das ganz toll finden. Aber es gibt auch Blicke, die irgendwie ausweichend sind. Das ist aber ganz besonders bei Erwachsenen festzustellen. Kinder, die sind da sehr offen dem Thema gegenüber, die gucken sich das an und wollen da mehr drüber wissen. Und Erwachsene ziehen dann diese Kinder zurück, um zu sagen: Hey, hör auf jetzt, tritt dem bloß nicht zu nahe! Das sehe ich ganz anders, man sollte einfach frei sein, man sollte sich nicht in irgendwelche Dinge hineinzwängen, die man nicht möchte. Wenn man der Meinung ist, man muss was fragen, dann sollte man fragen und keine Berührungsängste mir gegenüber haben oder generell Menschen mit Behinderung gegenüber haben, weil das ist ja nicht ansteckend, tut auch nicht weh, und deswegen. Wir sind genau so kommunikationsbedürftig wie Menschen mit zwei Beinen oder mit zwei Armen, deswegen sollte man da keinen Unterschied machen.
Timm: Das jetzt beschreiben Sie, was Sie sich wünschen. Aber was tun Sie, wenn Sie – wir stellen uns das mal vor, Sie stehen an der Eisdiele, holen sich ein Eis, stehen da in kurzen Hosen, ein Kind sieht das und ein Erwachsener zieht es zurück. Was machen Sie dann?
Popow: Es kommt auf die Situation drauf an, je nach dem, wenn das sehr offensichtlich ist, dann spreche ich den Erwachsenen drauf an und sage meine Meinung, dass ich das nicht so gut finde. Und dem Kind versuche ich das zu erklären, weil für Kids ist das was ganz Besonderes, die sehen das aus einem Zeichentrickfilm, so ein Roboterbein, und wollen da mehr zu wissen, da es Realität ist. Ja, das kommt auf die Situation drauf an, wenn halt das zu offensichtlich ist, dann spreche ich die Leute schon drauf an.
Timm: Sie, Herr Popow, Sie haben Ihr Bein als Kind durch eine schwere Krankheit verloren. Sie erinnern sich also auch noch an ein Leben auf zwei Beinen, Sie sind nicht damit geboren, sodass Sie sagen, ich bin immer schon so gewesen, ich kann es mir gar nicht vorstellen. Wie lange hat es denn gedauert, bis Sie nicht mehr unter Ihrer Behinderung litten?
Popow: Ganz am Anfang, nach der Amputation, war es gar nicht so, dass ich darunter gelitten habe. Das war schlimm für meine Eltern, weil als Kind willst du ja nur raus und willst dich bewegen. Die Pubertät, die war das Schlimmste, wie gesagt, da, wo Kids grausam sind, da, wo ich halt gehänselt worden bin und wo man meine vermeintliche Schwäche als Stärke der anderen genutzt hat, da kann ich mich ganz gut dran erinnern. Aber das war eine Zeit zwischen 14 und 17, das waren drei Jahre, davor war es eher so, dass ich das nicht verstanden habe, was mit mir passiert ist, direkt nach der Amputation. Ich hatte das Bedürfnis, mich zu bewegen, und konnte es nicht, und das mussten halt die Eltern irgendwie verarbeiten. Für mich persönlich war das damals nicht so schlimm.
Timm: Erinnern Sie sich – auch wenn Sie sagen, Ihnen sind Worte da nicht so wichtig, sondern eher, wie die Leute sich verhalten – erinnern Sie sich trotzdem an Formulierungen, Ausdrücke, die Sie schlicht verletzt haben? Das K-Wort?
Popow: Oh ja, ... Ja, nein, es gab zum Beispiel – ich habe so eine ungewöhnliche Laufweise gehabt, wenn ich irgendwie Kids hinterher gelaufen bin, das sah dann aus wie so ein Propeller, und dann wurde ich als schneller Propeller gehänselt, oder auf geht's, Behindi, und so. In dem Zusammenhang, wie die Wörter gefallen sind, waren sie auf jeden Fall beleidigend, das muss man ja auch wissen, in was für einem Zusammenhang Wörter fallen. Mittlerweile gibt es ja zum Beispiel auch Floskeln, wo man sagt: Oh Mann, bist du behindert! Das hat ja nicht immer was Böses mit sich, und deswegen sollte man den Zusammenhang nicht vergessen. Und bei mir war es halt oft aus einem bösen Zusammenhang, weil da die Kids mir auch wehtun wollten. Und da gab es ganz oft Situationen, auf dem Schulhof, im Sport, außerhalb auch – das war dann, in Streitsituationen versucht man irgendwas zu finden, wo man einem besonders wehtun kann, und dann hat ja so ein Wort auch eine andere Gewichtung.
Timm: Und dann bestimmen die anderen die Regeln, und der Behinderte muss parieren, akzeptieren, das hinnehmen, sich wehren? Was würden Sie raten, wenn jemand nicht Olympiasieger ist und nicht Ihr Selbstbewusstsein vielleicht auch haben kann?
Popow: Ja, das ist ganz schwierig, man kann ja auch Schwächen des anderen ausmachen und eventuell verbal zurückschlagen. Man muss das auf jeden Fall nicht auf sich nehmen oder hinnehmen. Was ich einem raten würde, ich würde versuchen, auch das Selbstbewusstsein zu steigern und da drüber zu stehen, das sollte als allererstes das Wichtigste sein. Und dann muss man ja auch die Situation wissen, genau in was für einer man steckt, und dann auf jeden Fall reagieren, und eventuell auch vielleicht gar nichts dazu sagen, und die Person dann einfach stehen lassen. Das tut meistens auch weh, wenn man da gar nicht drauf reagiert.
Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit Heinrich Popow, 100-Meter-Sprint-Sieger bei den Paralympics und seit einer Krankheit in der Kindheit ohne zweites Bein. Herr Popow, Sie haben mal gesagt, in Großbritannien gingen die Menschen ganz anders mit Behinderten um, auch jenseits der Paralympics. Wie denn?
Popow: Ich habe das ein Jahr vor den Paralympics erlebt, als ich da war. Für die ist das was ganz Besonderes, die haben da eine Wertschätzung für, weil sie wissen, was Menschen mit Behinderung leisten können. Und deswegen ist das für sie, die gehen ganz offen auf einen zu, das ist – die Erwachsenen benehmen sich genau so wie bei uns die Kinder, das kann man so salopp sagen. Die haben da gar keine Berührungsängste, fragen, finden das total cool oft, wie man damit umgeht, und was da möglich ist, und interessieren sich dafür, das ist – ja, die Briten sind unsere Kinder in Deutschland.
Timm: Erstaunlich! Haben sie eigentlich auch mal so was erlebt wie – ich sage mal – positive Diskriminierung, die nervt? Also wenn man auf Sie zugeht und sagt: Na ja, gemessen an seinen Möglichkeiten, also wie der sein Leben meistert, wenn man bedenkt, was der alles einstecken muss, muss er wirklich ganz besonders sein oder ein ganz besonders guter Mensch oder ein ganz besonders leistungsbetonter Mensch – dass Sie auch mal denken: Oh Gott, lasst mich damit doch mal in Ruhe!
Popow: Das erlebe ich täglich beim Training, das heißt, die Situation hatte ich erst gestern. Ich bin ja in einer Gruppe von Nichtbehinderten, wo wir uns auch duellieren. Und dann wird der Trainer ganz oft gefragt: Warum kann der mit einem Bein schon so schnell laufen und wir quälen uns hier noch im Training und so? Ja, ich hatte gestern so eine Rennsituation, wo ich mit meiner Behinderung gar nicht mehr irgendwie gepusht werde, alle haben drauf gehofft, dass das Mädchen mich schlägt. Ja, und das ist so – man traut mir öfter nicht das zu, was ich halt bringe, und das ist für mich dann das Positive. Aber es fallen auch mal Wörter: Warum ist der Behinderte jetzt auf einmal so schnell? Aber das nehme ich dann mit Humor, und da lache ich drüber, weil der einfachste Weg, mit irgendwas umzugehen, ist auch mal drüber lachen zu können. Und das habe ich fast täglich, diese Situation, habe dann auch andersrum das als Motivation, weil wenn ich in der Trainingsgruppe Leute sehe, die irgendwie rumheulen, weil sie müde sind, dann kommt auch mal ein Spruch von mir: Och Gott, ist bei dir das Bein dran? Und dann wissen sie ganz genau, die dürfen gar nicht meckern. Und das passiert öfters, ja.
Timm: Manchmal gibt es ja auch ein bisschen schräge Gedankengänge, ich erinnere daran, dass bei den Paralympics ja auch Sportler heimgeschickt wurden, weil sie gedopt waren. Und wir haben gestern in der Redaktion drüber gesprochen, dann gibt es so die Reaktion: Was? Behindert? Gedopt? Kann nicht sein! Das sind doch sowieso die ganz Edlen. Oder auch: Behindert? Gedopt? Was denkt der sich? Geht gar nicht! Eine spontane Reaktion – was sagt uns so was, dass behinderte Sportler eben auch solche Vergehen begehen und dass man immer denkt, nein, das kann nicht sein?
Popow: Ganz einfach, dass sie auch normal sind, dass sie an einem Punkt ankommen, wo sie eine Leistung bringen wollen, die der menschliche Körper nicht hergibt, und wo sie dann versuchen, nachzuhelfen. Ich persönlich bin da ein absoluter Gegner, aber es muss jeder für sich selber entscheiden, und das ist dann - auch Menschen mit Behinderung machen Fehler, und eine Behinderung sagt ja nichts über eine Person aus, und im Sport, ist das genau so. Im Sport sind wir wirklich im Sport, und im Leistungssport sind wir im Leistungssport, und da zählt die Leistung, und dann entscheiden Leute für sich, dass sie auch betrügen wollen. Und das ist halt dann unfair anderen Menschen mit Behinderung gegenüber, aber das sagt nichts darüber aus, dass man denkt: Ach Gott, ein Behinderter, der jetzt auf einmal dopt, das geht ja gar nicht. Ein Behinderter macht auch Fehler.
Timm: Heinrich Popow, 100-Meter-Sprint-Sieger bei den Paralympics in London. Ich bedanke mich ganz herzlich für das Gespräch, und ich wünsche Ihnen einen schnellen Lauf im Training!
Popow: Super, danke schön, vielen Dank!
Timm: Tschüss, schönen Tag!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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