Poptheorie

"Klänge, die wie Zeichen funktionieren"

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Der Poptheoretiker Diedrich Diederichsen © Deutschlandradio - Matthias Dreier
Moderation: Stephan Karkowsky |
Popmusik ist nicht einfach nur Musik, sondern ist immer auch mit bestimmten Bildern verbunden, sagt der Poptheoretiker Diedrich Diederichsen. Um sich an die Bilder besser erinnern zu können, dient die Melodie des Popsongs als Memotechnik, glaubt er.
Stephan Karkowsky: Es haben Anfang der 1980er-Jahre viele Menschen intelligent über Popmusik geschrieben und gesprochen, in Köln etwa Dirk Scheuring, in München Rainald Götz, in Hannover Hollow Sky und Ecki Stieg, und – zunächst in Hamburg – Diedrich Diederichsen. Aber nur Diederichsen ist all die Jahrzehnte so konsequent bei seinem Thema geblieben, sodass er heute als Deutschlands Poptheoretiker Nummer eins gelten darf. Nun hat er ein Buch vorgelegt, das zum Standardwerk der Poptheorie werden könnte: "Über Pop-Musik", so heißt der dicke Wälzer, und der Autor ist bei mir zu Gast, Diedrich Diederichsen: Guten Tag!
Diedrich Diederichsen: Hallo!
Karkowsky: Wenn Sie als Professor für Theorie, Praxis und Vermittlung von Gegenwartskunst an der Akademie der Bildenden Künste Wien vor Ihren Studenten stehen: Bitten Sie die eigentlich manchmal um eine Definition von Popmusik, fragen Sie die, was ist das für Sie?
Diederichsen: Ich habe in Wien mit Popmusik nichts zu tun.
Karkowsky: Gar nichts?
Diederichsen: Fast nicht. Populäre Kulturen und Popmusik sind so ein Hintergrundthema manchmal. Ich habe auch so eine Vorlesungsreihe zum Thema des Populären gehalten, aber an sich ist mein Kerngeschäft die Theorie der bildenden Kunst der Gegenwart und auch Fragen einer Wissenschaft von Gegenwart, und da spielt natürlich dann Erfahrung, die ich mit Popmusik gemacht habe, eine Rolle, aber im Mittelpunkt steht schon die bildende Kunst, und mein Publikum sind Studierende, die entweder selber bildende Künstler werden oder sich mit Theorien im Umfeld von bildender Kunst beschäftigen.
Karkowsky: Ich könnte mir nämlich vorstellen, dass, wer zum ersten Mal über diese Frage nachdenkt, was ist das eigentlich, kommt womöglich zu anderen Ergebnissen als Sie. Sie stellen sich diese Frage seit über 35 Jahren. Ist denn Ihr Buch nun die definitive Antwort?
Diederichsen: Ja, definitive Antworten gibt es ja nicht, das wissen wir ja. Aber ich will vielleicht was anderes dazu sagen: Also ich glaube, ich habe eben nicht die ganze Zeit mich damit beschäftigt, sondern ich habe damit immer mal nicht gerade aufgehört, aber es doch sehr runtergefahren und auch viel andere Musik gehört. Und das hat eigentlich erst zu der Fragestellung geführt: Was ist Popmusik als Ganzes? Wie kann man das sozusagen als ein Phänomen eingrenzen, das sich wirklich scharf unterscheidet von anderen kulturellen Formaten? Dafür brauchte ich eigentlich eine Zeit, in der ich nichts damit zu tun hatte.
Karkowsky: In der Sie zum Beispiel über Film, über Serien nachgedacht haben, aber auch viel über Politik.
Komposition in der Popmusik relativ unwichtig
Diederichsen: Ja, und vor allem über klassische Musik, bei der es um Komposition geht, also dass die Popmusik sozusagen die Musik ist, bei der die Komposition relativ unwichtig ist und dass der Klang, das Geräusch, die Spur des Körpers im Studio viel wichtiger und die Effekte des aufgezeichneten Klangs viel unmittelbarer und direkter verhandelt werden, und dass das eigentlich die Attraktion ist, das ist besonders stark geworden vor der Kontrastfolie von eben sogenannter klassischer E-Musik oder wie auch immer.
Karkowsky: Was ist Popmusik nun? Ist es Musik oder ist es eine eigene Kunstform?
Diederichsen: Ja, es ist eher eine eigene Kunstform oder auch eine eigene Kulturindustrie. Musik ist nicht unwichtig und Musik ist vor allem wichtig als Memotechnik, damit die Leute sich was merken können, damit die sich so die Stimme, die sie da irgendwie gehört haben, die dann ja weg ist, die ist ja nicht im Kopf, am Bande einer Melodie, die man sich merken kann, sozusagen als Geist mitzubehalten. Und das ist vielleicht die Aufgabe der Musik dabei.
Und ein weiterer Faktor ist, dass Popmusik immer auch von Bildern begleitet ist. Also neben der Erinnerungsstütze Melodie gibt es die Erinnerungsstütze Bild, die beide dieses eigentlich klangliche Ereignis einer besonderen Stimme oder eines besonderen Instrumentengebrauchs oder eines besonderen Klangeffekts zivilisieren, also dazu beitragen, dass das in die Welt getragen werden kann.
Karkowsky: Vielleicht können wir das einfach mal anhand eines Songs, eines Popmusiksongs, den jeder kennt, uns erklären lassen. Hier kommt Bob Dylan mit "Like a Rolling Stone".
((Musikeinspielung))
"Details der Stimme sind körpersprachlich"
Karkowsky: So, für den vielleicht musikbegeisterten, aber musiktheoretisch nicht vorgebildeten Laien ist das erst mal schöne Musik, das ist etwas, was Gefühle auslöst, Euphorie, ein Gefühl von Freiheit, wenn man diesen Ruf "How does it feel to be without a home?" hört. Das ist für Sie aber doch was anderes?
Diederichsen: Ja, also dass Musik da eine Rolle spielt und Musik bestimmte Funktionen hat, will ich nicht bestreiten, aber gerade bei Bob Dylan ist relativ zentral, dass man erkennt eine bestimmte Stimme, das eine hochindividuelle Stimme, und diese Stimme ist nicht dadurch attraktiv, weil sie so im musikalischen Sinne gut ist, weil sie so besonders tragfähig ist, weil sie Tonfolgen, Klangfolgen so besonders genau oder trennscharf oder voluminös wiedergeben könnte, sondern weil sie individuelle Stimmcharakteristika hat.
Und diese individuellen Stimmcharakteristika werden so empfunden, wie man im Visuellen einen Körper, ein Gesicht, eine Körpersprache wahrnimmt. Diese Details der Stimme sind körpersprachlich, und der intime Umgang mit eines anderen Menschen Körpersprache durch die Aufzeichnung, das ist die erste Sensation. Und das heißt, also da sind die Stimmen, je mehr sie in so einem Sinne körperlich sind, desto geeigneter für Popmusik – und das ist dann bei Bob Dylan das eine.
Aber das andere ist, dass das nun auf eine Weise produziert ist und eingebettet ist in Musik, die auch wiederum charakteristisch ist für bestimmte Vorgehensweisen der Popmusik, was ich an einem anderen Argument versuche, in dem Buch klarzumachen: dass es da weniger darum geht, dass die Musik diese Melodie generiert, sondern dass sie durch bestimmte Klänge, die wie Zeichen funktionieren, ihr Genre markiert.
Und da gibt es eigentlich immer so zwei Sorten von Zeichen, die auch für die Popmusikhörer wichtig sind: kurze, sehr prägnante und punktuierende, perforierende Zeichen, das ist in diesem Fall, ich glaube, es ist eine Maracas oder ein Tambourin, das man so ganz spitz und punktuell schon von Anfang an hört und dann die ganze Zeit durchgehend; und das andere ist diese stehende Orgel.
Karkowsky: Und wofür stehen die beiden?
Diederichsen: Ja, das eine steht sozusagen für die Perforierung so eines musikalischen, melodischen Ablaufs mit sozusagen kurzen Signalen aus der Wirklichkeit, also sie verweisen auf die Klangursache, und dieses andere, das stehende Zeichen, also die Orgel, das ist eigentlich dann eher so was, was das Genre ausmacht, also elektrische Gitarren werden dafür auch gerne verwendet oder in anderen Genres dann Streicher oder bei Phil Spector zur selben Zeit der berühmte Wall of Sound, also eine Produktion von eigentlich redundanten Klangquellen im Hintergrund, die sozusagen von dem Harmonischen her eigentlich alle immer dasselbe spielen und noch mal wiederholen, noch mal wiederholen, aber als Sound eben eine Färbung geben.
Karkowsky: Aber ist das, was Sie machen, nicht nur eine andere Art, Musik zu beschreiben?
Diederichsen: Nein, denn ich gebe dem ja Funktionen, die außermusikalisch sind, dass man es zu tun hat mit physischer Wirklichkeit jenseits des Symbolischen, was Klänge sind. Hier kommt, aufgezeichnet im Studio, Physikalisches dazwischen.
Karkowsky: Wenn ich das Buch, das, was ich darüber gelesen habe, richtig verstanden habe, dann spielen ja auch die Rezipienten für das Entstehen dieses Phänomens Popmusik immer eine große Rolle. Spielt für die eigentlich auch das Wissen über die Theorie dahinter irgendeine Rolle? Also müssen die sich auskennen, um Popmusik zu verstehen?
Die Hörer brauchen mehr als nur die Musik
Diederichsen: Nein. Das Wissen haben ja auch die Popmusiker selber erst seit relativ kurzer Zeit, also dass dieses Reflexionsniveau darüber existiert. Nein, was die Rezipienten tun, ist, dass sie mit diesem unvollständigen Material, das sie da haben – sie haben also jetzt einen Körpereindruck, einen Stimmkörpereindruck und sie haben diesen perforierten Song – die brauchen dazu mehr, sie brauchen mehr, um auch ihre Neugier, ihr Interesse an dieser Person, an diesem Körper zufriedenzustellen, dafür brauchen sie Bilder. Die Bilder werden ihnen aber nicht auf denselben Ausgabekanälen geliefert, auf denen ihnen die Songs geliefert werden, jedenfalls zu Beginn nicht und auch nur sehr unorganisiert.
Karkowsky: Das waren Schallplattenhüllen.
Diederichsen: Genau, Schallplattenhüllen, aber auch natürlich Bilder in Magazinen und im Fernsehen und sonst was. Das heißt, sie setzen das zusammen. Es ist wichtig, dass, wenn ich also Bob Dylan höre, dann habe ich auch ein Bild von ihm, aber wenn ich ihn höre, sehe ich das Bild nicht. Das Bild muss ich mir vorstellen. Das ist Rezipientenaktivität, die über das, was Rezipienten normalerweise tun, nämlich die Sache verfolgen oder mobilisiert sein, hinausgeht, und das macht auch Popmusik ganz stark aus, dass die Rezipienten das Gesamtphänomen erst zusammensetzen und vor allem, dass sie das im öffentlichen Raum tun, dass sie dabei durch die Stadt gehen, dass sie da auf eine bestimmte Weise aussehen, dass sie einen Habitus spazieren führen, den sie von den Popmusikern herhaben.
Cover Januar 2012 "Rolling Stone"-Magazin
Bilder gehören zwingend zur Popmusik dazu, sagt Diederichsen.© Rolling Stone
Karkowsky: Sie hören Diedrich Diederichsen, den Poptheoretiker, über sein neues Werk "Über Pop-Musik", so heißt es. Herr Diederichsen, haben Sie den Eindruck, dass die deutsche Popkritik, die Popjournalisten, dass die Ihnen da folgen werden? Sind die bereits auf diesem Stand oder läuft das immer noch ganz anders bei Menschen, die ja vor allen Dingen nach originären musikalischen Ideen suchen und oft Retrohasser sind, also Menschen wie – wir können sie konkret benennen – Jens Balzer von der "Berliner Zeitung", Tobias Rapp vom "Spiegel", Thomas Gross in der "Zeit", die also auch so einen Diskurs derzeit anführen, sind die alle auf der falschen Fährte, wenn sie in Popmusik vor allem nach Musik suchen?
Diederichsen: Ich würde sagen, die drei Beispiele, die Sie genannt haben, sind auf sehr verschiedenen Fährten, also die haben doch unterschiedliche Positionen. Dass man gerade so Schwierigkeiten haben kann mit bestimmten Retrophänomenen, das kann ich verstehen. Ich weiß auch nicht, in welcher Weise ... ob die nun tatsächlich wirklich neue Musikphänomene in einem wirklich absolutistischen Musikmusiksinne meinen oder ob sie nicht etwas Ähnliches meinen wie das, wofür ich mich ja auch ausspreche, nämlich ein Umgang mit diesem Komplex Popmusik, der meiner Ansicht nach nur zu einem Teil oder sogar zu einem kleineren Teil aus Musik besteht.
Aber ich glaube, insgesamt bin ich da nicht so alleine und es gibt da schon einen Dialog. Man kann das auch sehen an den Rezensionen. Also die einen sind zwar mehr begeistert und die anderen mäkeln etwas mehr, aber insgesamt wissen schon alle so ungefähr, was ich meine.
Karkowsky: Sie haben nicht immer so gedacht, würde ich mal behaupten, und wenn nun Popmusik heute nicht mehr fassbar ist mit Sozialtypologie und schon gar nicht mit der Musikwissenschaft, wie es, glaube ich, auch im Buch heißt, wie bewerten Sie dann all die Texte, die Sie vorher geschrieben haben, die Sie entworfen haben, als Ihnen das so noch nicht klar war?
Das Geräusch der Person ist wichtiger als das Handwerk des Songwriting
Diederichsen: Ich habe bestimmte Elemente dieser Position schon sehr lange gehabt: Also dass das Geräusch oder das Geräusch der Person wichtiger sind als das Handwerk des Songwriting oder das Handwerk der Instrumentenbeherrschung, das denke ich schon eigentlich, seit ich denken kann. Der Unterschied ist nur, dass ich es irgendwie nicht systematisiert habe.
Aber so ganz vom Himmel gefallen sind diese Ideen nicht für mich, und wie gesagt, dass es eine Systematik gibt, dass ich das allgemeiner formuliert habe, hat eben damit zu tun, dass ich mich eine Zeit lang von Popmusik wegbewegt habe und nun aus der Distanz darauf schauen konnte.
Karkowsky: "Über Pop-Musik", so heißt das neue Buch von Diedrich Diederichsen, erschienen bei Kiepenheuer und Witsch, den Autor hörten Sie soeben hier selbst, Herr Diederichsen, danke für das Gespräch!
Diederichsen: Danke Ihnen!
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