Populismus

"Sarrazin kreist um seine eigene Kränkung"

Moderation: Christine Watty |
Er inszeniert sich als Opfer einer vermeintlichen Medienmacht und verfängt sich dabei in seinem eigenen "Wahnsystem": Der Publizist Albrecht von Lucke erklärt das Phänomen Sarrazin - und beschreibt, wie man Populismus begegnen sollte.
Christine Watty: Sie packen die heißen Eisen unserer aktuellen Debatten an, Europa, Homosexualität, Fremdenfeindlichkeit, Gleichheit, und stellen sich dabei auf die Seite der Massen, sagen was andere offen denken: die Provokateure und Tabubrecher, die es schaffen, Diskussionen auf den Kopf zu stellen, indem sie zunächst auf Empörung und dann auf die Rettung der Welt durch konservative Werte setzen.
Der Publizist Matthias Matussek beispielsweise bekennt sich offen zur Homophobie, der AfD-Chef Bernd Lucke ist gegen den Euro und der aktuellste Fall Thilo Sarrazin, der findet Political Correctness und den "Gleichheitswahn" problematisch. Das ist natürlich alles verkürzt, zeigt aber dennoch die Tendenz des brandaktuellen Populismus, der immer unter der schulterzuckenden Haltung betrieben wird, es muss ja mal gesagt werden können, und genau diese Entwicklungen in unserer Diskurs- und Debattenkultur wollen wir jetzt auseinandernehmen mit dem Politikwissenschaftler und Redakteur der Blätter für deutsche und internationale Politik, Albrecht von Lucke. Schönen guten Morgen!
Albrecht von Lucke: Guten Morgen, Frau Watty!
Watty: Wie würden Sie die Rolle der Populisten oder des Populismus in dieser Zeit einschätzen? Sind die dafür da, dass eine Gesellschaft ihre moralischen Grenzen nach ihnen ausrichtet und dann sagt, bis hierhin und nicht weiter, oder artikulieren die doch die Stimmen einer Öffentlichkeit, die im linksliberalen Mainstream meistens nicht wahrgenommen werden?
von Lucke: Na ja, die Populisten haben für sich selber erst mal gar nicht den Anspruch, primär nur moralische Vorgaben zu machen. Ihre Tendenz ist eine andere. Sie sagen, wir werden von einer moralischen Autorität gewissermaßen kujoniert, also förmlich dirigiert und damit sanktioniert und nicht in die Lage versetzt – und das ist der eigentliche Tenor -, die Wirklichkeit der Gegenwart zu erkennen. Gleichermaßen machen sie geltend – und daher kommt der Begriff des Populismus -, dass sie ja als Vox populi die Stimme des Volkes verkörpern.
Das hat durchaus, wenn man es ernst nimmt, eine gewisse Berechtigung, denn jede Gesellschaft tendiert dazu, gewisse Eliten herauszubilden, die Gefahr laufen – und das ist in Zeiten auch einer Großen Koalition nicht zu vernachlässigen -, dass man die Mehrheit des Volkes nicht zur Kenntnis nimmt. Insofern ist der Populismus-Begriff einer, den man ein Stück weit immer auch als Kampfbegriff kenntlich machen muss, denn Populist ist in der Abwertung meist die andere Seite.
Watty: Jetzt weiß man natürlich, dass es da auch eine ganz schöne Kraft gibt, die dahinter steht. Thilo Sarrazin kommt jetzt mit einer Auflage von gleich 100.000 Büchern auf den Markt, hat, glaube ich, das letzte Buch über eine Million Mal verkauft. Wie würden Sie diese Kraft, was auch die Platzierung einer Meinung, einer Haltung betrifft, beschreiben? Wie sehr zieht denn dieses "man wird doch mal sagen dürfen"?
von Lucke: Ja, und das ist das Spannende. Der Populist – ich habe ja eben seine Berechtigung, die positive Seite ein Stück weit zu kennzeichnen versucht, wenn er auf Wirklichkeit rekurriert. Er rekurriert aber in aller Regel auf Ressentiments, und das ist das Spannende. Gerade im Falle Sarrazins hat man den Eindruck, dass hier genau sein Postulat, dass wir in einer Zeit leben, die die Wirklichkeit nicht zur Kenntnis nimmt, vollkommen konterkariert wird. Dafür haben Sie es vorhin wunderbar angesprochen.
Er rekurriert auf ein Ressentiment, dass in dieser Gesellschaft angeblich alles gleichgemacht würde. Das ist die eigentliche Intonation dieses Buches und die überwölbt in seiner merkwürdigen Axiomatik, wie er das nennt, einer merkwürdigen Pseudowissenschaft – denn er gibt unumwunden zu, ich hätte ja noch ein paar Axiome dazusetzen können; Axiome sind bekanntlich auch Setzungen, die er tätigt -, in dieser Axiomatik gibt es einen überwölbenden Ansatz und der heißt, wir leben unter der großen Diktatur des Gleichheitspostulats.
Und wenn wir uns die Gegenwart, die Wirklichkeit angucken, dann haben wir eine hochgradig ungleiche Gesellschaft, die wahrscheinlich ungleicher nicht hätte sein können in den letzten 70 Jahren der Bundesrepublik. Wir haben eine Spaltung der Gesellschaft, wir haben Formen der Ausdifferenzierung, wir haben Formen der gelebten Unterschiedlichkeit, wir haben aber vor allem eine materielle Ungleichheit, die jedem Gleichheitspostulat Hohn spottet.
"Er kann die Wirklichkeit nicht mehr zur Kenntnis nehmen"
Das heißt, all das, was Sarrazin eigentlich für sich reklamiert, nämlich die Wirklichkeit abzubilden, ist Ausdruck eher eines Wahnsystems Sarrazins, das – ich muss den Satz einfach mal zitieren – davon lebt, dass er eigentlich letztlich die Wirklichkeit mittlerweile gar nicht mehr zur Kenntnis nehmen kann. Er sagt nämlich wortwörtlich: "Getrieben wird der Gleichheitswahn vom utopischen Überschuss einer Medienklasse, die zu großen Teilen eine komplexe Wirklichkeit, die sie kaum kennt und nur in Bruchstücken versteht, einseitig unter der Brille einer bestimmten moralischen Sicht betrachtet. In der menschlichen Geschichte waren jene immer schon die schlimmsten, die aus einem Teilverständnis der Wirklichkeit unhaltbare Theorien fütterten und daraus Erkenntnisse zogen, nach denen sie die Welt umgestalten wollten."
Und die Unterstellung ist, wir hätten es noch mit einer Medienwirklichkeit zu tun, wo ein utopischer Überschuss, nämlich der Restbestand des Sozialismus, der Gleichheitswahn herrscht. Wenn wir nur gestern zur Kenntnis genommen haben, womit die Medien sich in aller Regel beschäftigen, nämlich vor allem mit schnelllebigen Ereignissen, gestern die Wulff-Affäre, jetzt wieder Edathy, dann können wir den Eindruck haben und müssen den Eindruck haben, dass von einem utopischen Überschuss, der auf Gleichheit zielt, der die Gesellschaft gleichmacherisch machen will, überhaupt nicht die Rede sein kann.
Watty: Ist das, was Sie da beschreiben, dieses nicht wahrnehmen der Wirklichkeit, sondern sich in einer Art des Wahnsystems bewegen und das wiederum angreifen, Teil einer Art des kalkulierten Tabubruches? Denn es scheint ja so, als würden diese Thesen von Sarrazin fast lehrbuchhaft zeigen, wie der Tabubruch funktioniert. Er selbst warnt vor dem Gleichheitswahn, gesteuert durch die Medien, einem drohenden Fluss der Meinungsfreiheit, und ist dabei wiederum bester Medienkunde, der seine Thesen nämlich dann auch verbreiten kann. Kann man sagen, dass dieser Tabubruch auf diese Art und Weise tatsächlich kalkuliert ist?
von Lucke: Absolut, und das ist eigentlich die Kunst von Sarrazin, glaube ich, wobei ich glaube, auch die Medien sind ja lernende Systeme, die mittlerweile gelernt haben, ein Stück weit mit einem vermeintlichen Tabubrecher umzugehen, denn es beginnt ja bereits bei der Inszenierung eines Tabubruches. In aller Regel ist es die Behauptung, es muss doch mal gesagt werden können, etwas vermeintlich nicht Sagbares, was ja offensichtlich im Falle Sarrazins schon dadurch konterkariert wird, dass er ungeheuere Auflagen hat, dass er permanent besprochen wird, dass er letztlich mit einer wahnsinnigen Öffentlichkeit rechnen kann, interessanterweise bei diesem dritten Buch sogar gewissermaßen vorauseilend.
Jeder Medienbetreiber hat gewissermaßen Herrn Sarrazin schon einen Platz eingeräumt, bevor überhaupt bekannt war, was in dem Buch steht, was schon ein absurdes vorauseilendes, ich möchte sagen, Aufmerksamkeitssymptom ist. Das heißt also: Schon der erste Punkt, ich darf doch gar nichts sagen, ist eigentlich eine Inszenierung.
Jetzt kommt aber das Interessante: Er kann dabei immer gewissermaßen mit dem moralischen Aufschrei der Medien rechnen, konnte er jedenfalls rechnen. Er wusste: Wenn ich nur eine These zum besten gebe, dann wird sofort in Teilen der Medien die Keule herausgeholt, und ich kann mich dann als das Opfer einer Medienmacht inszenieren. Und das führt dazu, wenn ich denn diesen Thesen trotzdem treu bleibe im dritten Schritt, dass ich bei der Bevölkerung den Status eines Helden habe.
Das ist gewissermaßen die Dialektik, der Dreiklang des Tabubrechers, der am Schluss als Held einer unterdrückten Meinungsöffentlichkeit dasteht und das immer tut unter Einspielung von Medienreaktionen, die er immer schon in Rechnung stellt. Das ist das Phänomen Sarrazin, was bisher jedenfalls am ersten Buch wunderbar funktioniert hat, bei diesem dritten Buch aber erstaunlich viel schlechter.
Thilo Sarrazin stellte in Berlin sein neues Buch "Der neue Tugendterror" vor.
Thilo Sarrazin stellte in Berlin sein neues Buch vor.© picture-alliance/dpa /Maurizio Gambarini
Watty: Der Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke im Gespräch im "Radiofeuilleton". – Fassen wir das Thema mal noch etwas allgemeiner. Um nicht nur auf Sarrazin zu schauen, steht er aber trotzdem in einer Reihe von Rechtspopulisten, die im Grunde ganz schlau diesen leer gewordenen Ort des Konservativen besetzen, womit ich natürlich zwischen den Zeilen auch schon wieder sage, irgendwer muss es ja mal sagen?
von Lucke: Ja, auch da ist es ganz schwierig. Der Begriff des Konservativen trifft meines Erachtens auch diesen Platz nicht, denn der Populismus ist ja ein ganz schillernder Begriff, der von Werten – denn der Konservatismus würde für sich zurecht reklamieren, er verteidigt Werte – eigentlich absieht. Der Populismus ist eine Form des kanalisierten Aufschreis, der hier eher mit Konnotation von rechts und links einher geht, aber nicht mit konservativ, denn Linke können durchaus auch in Verteidigung von Werten, gerade vielleicht auch einer Gleichheit als Anspruch von Gerechtigkeit, können ja durchaus konservative Werte verteidigen.
Aber hier geht es mehr darum, dass der Populismus genau die Leerstelle der Ideologie nach 1989 besetzt hat. Wir haben erlebt, dass nach '89 das frei flotierende Momentum von Unzufriedenheit gerade bei Sarrazins erstem Buch "Deutschland schafft sich ab" offensichtlich in ihm ein Sprachrohr gefunden hat, das Gefühl, das Unbehagen, wir leben in einer Zeit, die keine klaren Positionen, auch keine klaren Links-Rechts-Konnotationen mehr kennt, und da setzt sich Sarrazin auf das Unbehagen, in dieser Gesellschaft läuft doch etwas ungemein schief und wir dürfen es nicht aussprechen.
Da hatte er tatsächlich, man muss das dazu sagen, beim ersten Buch insofern ein gewisses Recht, als er kenntlich machte, dass auch gerade die multikulturelle Gesellschaft eine unwahrscheinlich schwierige Aufgabe ist und dass man ihr nur dadurch gerecht werden kann, dass man sie offensiv annimmt. Sarrazin hat natürlich mit Ressentiments, mit reinen Ressentiments dagegen gehalten und hat damit das Unbehagen vieler befriedigt, die sagten, weg damit, und am besten machen wir kenntlich, dass eigentlich, so das Unwort von Sarrazin, die Kopftuch-Trägerinnen zu dieser Gesellschaft nicht gehören sollen. Er hatte aber etwas am Wickel: Er hatte nämlich die Wirklichkeit durchaus im Blick, indem er kenntlich machte, hier ist etwas hochgradig schwierig.
"Dieses Buch wird dosiert durchgereicht"
In dem neuen Buch versteigt er sich zu einer völlig überzogenen Sicht eines Gleichheitswahns, der angeblich Menschen in dieser Gesellschaft Unterschiede nicht gönnt. Dabei haben wir es gerade im Materiellen mit Unterschieden in dieser Gesellschaft zu tun, und eine linke Position, die er ja weiterhin anfragt oder der er vorwirft, sie würde alles gleichmachen, die sich trauen würde, die großen Unterschiede mit härteren Umverteilungsmechanismen kenntlich zu machen, ist eigentlich kaum mehr sichtbar, wenn man vielleicht von Frau Wagenknecht absieht.
Watty: Trotzdem, auch wenn es nicht die Leerstellen des Konservativen sind, so wie Sie es definieren: Gibt es Leerstellen, die Provokateure und Tabubrecher wie Sarrazin besetzen können? Wie sollte man jetzt diesen Kräften begegnen? Verschweigen, oder – Sie haben es mal selber schön geschrieben – die Diskurs-Hegemonie wegnehmen? Was heißt das denn?
von Lucke: Das ist die spannende Frage. Die Populisten und Sarrazin exemplarisch rekurrieren darauf, dass sie diesen Dreiklang, den ich vorhin beschrieb, in Rechnung stellen. Sie rechnen immer damit, dass die Medien überschießend aufgeregt reagieren. Das war im Falle Sarrazins exemplarisch. Wenn wir an diese große Sendung von Beckmann denken, der wiederum interessanterweise auch nur ein Reflex auf den ersten Populisten, nämlich Haider war, wo Beckmann versuchte, anders als Böhme zehn Jahre davor, wo er Haider gar nicht ernst nahm, diesmal mit aller Macht diesem Sarrazin etwas entgegenzusetzen, dann haben die Medien jetzt die große Leistung beim dritten Buch vollbracht, dass sie dieses Buch in seiner ganzen Unfähigkeit, Wirklichkeit zu beschreiben, eigentlich schon gar nicht mehr ernst genommen haben.
Der Publizist, Politikwissenschaftler und Jurist Albrecht von Lucke
Der Publizist, Politikwissenschaftler und Jurist Albrecht von Lucke© dpa / pa / Galuschka
Dieses Buch wird in meiner Wahrnehmung dosiert durchgereicht. Man nimmt es zwar zur Kenntnis, aber es wird in all den Beschreibungen letztlich auf seinen Kern zurückgeführt: Es geht an der Wirklichkeit vorbei. Da ist das dritte Mal jemand, der vor allem nur noch um sich kreist, und das ist das Erstaunliche. Hier kreist Sarrazin um seine eigene Kränkung, dass er so etwas wie vermeintliche Unterdrückung erlebt hat. Das macht er kenntlich als vermeintlich neuen Tugendterror, ein Begriff, der auch an der Wirklichkeit der meisten Menschen völlig vorbeigeht, und das machen die Medien kenntlich. Sie dosieren – und das ist der entscheidende Begriff -, sie dosieren jetzt richtig und damit begegnen sie einem Populisten auf die entscheidende Weise.
Watty: Danke schön an den Politikwissenschaftler, Publizisten, Redakteur der Blätter für deutsche und internationale Politik, Albrecht von Lucke. Gesprochen haben wir über Provokateure und Tabubrecher in unseren aktuellen Debatten. Vielen Dank für Ihren Besuch.
von Lucke: Vielen Dank, Frau Watty!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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