Christian Schüle, 45, hat in München und Wien Philosophie, Soziologie und Politische Wissenschaft studiert, war Redakteur der ZEIT und lebt als freier Essayist, Schriftsteller und Autor in Hamburg. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, darunter den Roman "Das Ende unserer Tage" (Klett-Cotta) und die Essays "Wie wir sterben lernen" und "Was ist Gerechtigkeit heute?" (beide Droemer-Knaur/Pattloch). Seit 2015 ist er Lehrbeauftragter im Bereich Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.
Der Verlust von Sprache und Zivilität
Wenn Sprache verroht, hat das Denken keine Scham mehr. Das ist der Beginn des Niedergangs von Zivilität. Der Autor Christian Schüle rät, wir müssten wieder zu einer Sprache finden, die nicht ins Drastische, Diffamierende, Infantile und Apokalyptische verfällt.
Es scheint gesetzt zu sein, dass Deutschland anno 2016 eine "Bundes-Hass-Republik" ist. Waren wir Deutschen bis vor Kurzem noch sedierte Kuschler in der Komfortzone einer verspießerten Wohlstandsbehaglichkeit, hat sich innerhalb kürzester Zeit offenbar eine beispiellose Hass-Epidemie breitgemacht:
Allerorten werden "Hassbürger" überführt, finden "Hate-Speech" und "Hate-Talk" statt, gehen Bashings nieder, wehen Shitstorms. Der Hassbürger ist auf der Skala manischer Sprech-Dramatik der logische Komparativ zum Wutbürger, und nach Lage der Dinge darf man eine Hass-Spirale annehmen, die in Kürze den Grad finaler Apokalyptik erreicht hat und nicht mehr steigerbar sein wird.
Die sprachliche Keule
Und, falls noch nicht bemerkt: Überall agieren jetzt Populisten. Jeder, der neben der planierten Spur rhetorischer Sprachregelung redet und denkt, ist sogleich Populist. Alles, was falsch läuft, ist populistisch, ohne dass man wüsste, wodurch exakt Populismus eigentlich definiert ist.
Folgerichtig wurde in den vergangenen Wochen dann auch die ganz große Keule gezückt: Faschismus! Trump – ein Faschist. Europa – ein Hort der Faschisten. Jetzt fehlen nur noch Hitler und der Holocaust. Mon Dieu.
Es offenbart sich unserer gestörten Tage eine Radikalität der Rhetorik, die sich nicht mehr selbst regulieren kann. Es wird sofort gemeint und geurteilt, statt gewusst und gedacht, und wer nicht weiß und trotzdem Recht haben will, der behauptet. Der vernichtenden Pauschal-Denunzierung des Fremden als Sündenbock für die eigene Selbstwertschwäche entspricht die vernichtende Pauschal-Diffamierung ebendieser Denunzierer als Faschisten-Pack. Beides ist grundfalsch und gleichermaßen ein Fanal für die Einbuße an Zivilität.
Wenn Sprache verroht, hat das Denken keine Scham mehr. Der Niedergang von Zivilität setzt immer mit dem Niedergang von Sprache ein.
Versprechen gescheitert
Unserertage also, da das hehre meritokratische Freiheitsversprechen der liberalen Demokratien – dass jederman die Chance zu Aufstieg habe – für zunehmend mehr Mitbürger nicht mehr eingelöst wird, müssen die lange verwöhnten Wohlstandsgarantie-Gesellschaften begreifen, dass das individuelle Opfergefühl nicht weniger Mitbürger durch verlockende Grandiositäts-Versprechen kompensiert wird.
Lernen wir aus der Hirnforschung: Es geht nicht mehr um Großhirn-Bewusstheit, sondern um Kleinhirn-Intuition, um die unbewussten Bewertungen, nicht um die Rationalität eines intellektuellen Konzepts. "Es sind nicht die Dinge selbst, die uns bewegen", hinterließ uns ewiggültig der griechische Philosoph Epiktet vor 2000 Jahren, "sondern die Ansichten, die wir von ihnen haben." Welch weiser Mann!
Realität, heißt das, wird durch Sprache konstruiert, und Sprache formiert Denken. Deshalb ist die flotte Rede von Hass und Krieg so verheerend: Sie basiert auf der vorgefertigten, immer wieder beglaubigten und augenscheinlich fraglos plausiblen Textur, wir plötzlich allesamt Verrohten hätten es heute tatsächlich nur noch mit Hass, Krieg und dem Ende der Welt zu tun.
Kluge Kommunikation der Politik
Die Krise der Repräsentation und die Krise der Institutionen in parlamentarischen Demokratien führen in diesem historischen Moment zu einem Paradigmenwechsel: Hierarchien werden planiert und bislang prägende Narrative dekonstruiert. Die anarchische Netzwerkkommunikation entzieht den herkömmlichen Medien, den Agenda-Settern, Relevanz-Hütern und Kontrollinstanzen, das Privileg auf Weltdeutung und Weltverständnis.
Gute Politik ist vor allem die sozialpsychologisch kluge Kommunikation des Politischen; die Kunst der einfühlsamen Ansprache. Deutschlands höchstamtlicher Ansprecher ist der Bundespräsident. Er müsste ein Bundestherapeut sein, der Verstehen und Verständigung vorlebt. Die sogenannten "Abgehängten", die sich im gigantischen Globalisierungs-Raum so klein, verloren, nutzlos und austauschbar fühlen, wollen nicht länger bevormundet werden; sie wollen selbst reden, und sie suchen sich jetzt ihre Sprecher.
Gute Führung beginnt mit dem Gespür für das angemessene Wort. Frank-Walter Steinmeier wird einen hervorragenden Redenschreiber benötigen.