Christian Schüle, 45, hat in München und Wien Philosophie, Soziologie und Politische Wissenschaft studiert, war Redakteur der "Zeit" und lebt als freier Essayist, Schriftsteller und Autor in Hamburg. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, darunter den Roman "Das Ende unserer Tage" und die Essays "Wie wir sterben lernen" und "Was ist Gerechtigkeit heute?". Seit 2015 ist er Lehrbeauftragter im Bereich Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.
Wir sind ein Land der Opfer geworden
Populistische Bewegungen und Parteien erleben in Europa wieder starken Aufwind - von rechts wie von links. Deren Botschaft lautet "Ihr seid Opfer, und wir sind die Einzigen, die euch verstehen", meint der Philosoph Christian Schüle. Einen Ausweg sieht er nur in mühsamer Demokratie-Arbeit.
Wir sind eine Gesellschaft der Opfer geworden, zumal Massenmedien aller Art Opfer und Verlierer ebenso lieben und brauchen wie Empörungen, Eklats und Skandale. Nicht die faktisch erlittene Gewalt einzelner Personen ist hier gemeint, sondern das abstrakte Opfer. Je unübersichtlicher und komplexer die sozioökonomischen Verhältnisse werden, desto leichter ist es, als deren Opfer ungeteilte Aufmerksamkeit einzuklagen. Wir machen uns zu Opfern und lassen uns zu Opfern erklären. Diese Selbst-Viktimisierung heißt dann übersetzt: man – und man selbst freilich am allermeisten – leidet unter den Umständen:
Es entsteht ein Opfer-Markt
Zeitdruck, Arbeitspensum, Freizeitstress; man fühlt sich zurückgesetzt, benachteiligt, diskriminiert, weil das Leben zur Last geworden ist. Das Opfer, vermerkt der italienische Literaturwissenschaftler und Publizist Daniele Giglioli mit Recht, sei der Held unserer Zeit: Der Opfer-Status verspreche höchste Anerkennung, erzeuge machtvolle Ansprüche und sei über jede Kritik erhaben.
Wenn sich also viele oder irgendwie alle als Opfer verstehen, entsteht eine Konkurrenz der Opfer-Identitäten: ein Opfer-Markt. In Macht-Optionen denkendes Führungspersonal leitet aus der Opfer-Ideologie dann das Recht auf Ressentiment und Revolte ab und formiert jeweils eine Verteidigungs- als Kampfgemeinschaft: Wir sind die Unschuldigen, Gedemütigten, Beleidigten, wir sind das Volk, dem genommen, dem geschuldet wird, wir sind die – wie beispielsweise aus AfD und Pegida zu hören ist –, deren Identität und Glück gerade auf dem Altar des Humanitarismus geopfert werden. Oder, wie es gebetsmühlenartig aus Linkspartei und Wohlfahrtsverbänden verlautet: Wir sind die Opfer der Profit-Interessen von Kapital, Konzernen und politischen Eliten auf dem Schlachtfeld des sogenannten Neoliberalismus; wir sind die Opfer wachsender Ungerechtigkeiten in einer Welt, die immer ungleicher wird.
Geschäftsmodell des Populismus
Unabhängig davon, ob diese Annahmen statistisch und intellektuell überhaupt zu halten sind: Was folgt aus solchen Schimären? Rechtsgelagerte Wutbürger erhöhen den Erregungs-Level, linke Superhelden recken die Faust zur Weltrevolution, und beide schwafeln dabei vom Volk und seinen "wahren" Bedürfnissen.
Die moralische Aufladung der Opferideologie nun ist das Geschäftsmodell des Populismus, der komplexe Sozial- und Kulturverhältnisse auf einen so simplen wie brachialen Antagonismus reduziert: Wir gegen die. Seit geraumer Zeit sind vermehrt Initiativen für volksrevolutionäre Bewegungen zu beobachten, die die Straße nicht nur als vor-politischen Protestraum, sondern als politischen Aktions-Raum erobern wollen.
Käme es zu diesem linken Populismus, um dem rechten Populismus Paroli zu bieten, fände auf den Straßen Deutschlands oder Europas künftig ein heftiger Kampf von Populisten aller Arten statt.
Unterbinden lässt sich dieser Regress ins Primitive nur durch Stärkung der demokratischen Substanz. Statt Opferidentitäten zu konstruieren, sollte sich jeder Staatsbürger in selbstverpflichtender Verantwortung in die politischen Entscheidungs-Prozesse mit einbinden: die Sachlage studieren, Fakten kennen, Lösungen durchdenken.
Revitalisierung des Demokratischen
Das mag mühsam sein, gewiss, aber gute Demokratie-Arbeit ist mühsam. Es liegen ja durchaus sinnvolle Vorschläge für eine Revitalisierung des Demokratischen auf dem Tisch. Die Idee institutionalisierter Zukunftsräte beispielsweise sieht vor, durch regelmäßige kommunale, lokale und regionale Konferenzen Wissen, Weisheit, Sachverstand, Sorgen und Anliegen möglichst aller Bürger in die parlamentarische Entscheidungsfindung auf Landes- und Bundesebene hinein zu holen.
Eine Gesellschaft, die an der Res publica, an einem für alle zustimmungsfähigen Gemeinwohl interessiert ist, braucht für diese positive Identität künftig jeden Mitbürger als aktiven Republikaner – und nicht als Opfer, dessen Selbstwert sich über ein diffuses Freund-Feind-Schema generiert.