Porträt einer Epoche

In seinem neuen Roman entwirft der 1938 geborene Schweizer Schriftsteller Ernst Halter sein ganz persönliches Bild vom 20. Jahrhundert. Die beiden Weltkriege kommen ebenso darin vor wie der "Prager Frühling" und das Reaktorunglück von Tschernobyl. Große Geschichte erzählt er anhand kleiner Geschichten, die so vergänglich sind wie der Schnee.
Schon in seinem Titel führt dieser Roman zwei sehr weit auseinander liegende Begriffe zusammen: Jahrhundert, das impliziert Dauer und so etwas wie das Gewicht oder gar die Last der Geschichte. Wohingegen der Schnee für höchste Vergänglichkeit steht. Als "Schnee vom letzten Jahr" bezeichnet eine Redewendung Dinge und Ereignisse, die so gar keine Bedeutung mehr haben.

Es gehört zu den Vorzügen dieses Buches, mit welcher Konsequenz Ernst Halter diese wie Pole weit entfernte Begrifflichkeiten zusammenspannt. Er sucht oder erfindet Episoden, Biografien, Begebenheiten und stellt sie hinein in den Kontext des 20. Jahrhunderts. Die Orte wechseln beständig, auf der Zeitskala ergibt sich eine Chronologie, und beides fügt sich zu einem subjektiven Porträt dieses Jahrhunderts. Die beiden Weltkriege und ihr Umfeld kommen natürlich darin vor, es gibt eine Begebenheit im Prag des "Prager Frühlings". Der Giftunfall von Seveso und das Reaktorunglück in Tschernobyl tauchen auf, die jugoslawischen Bürgerkriege, Emigrationsschicksale aus verschiedenen Zeiten werden eingeblendet. Nicht um die Vollständigkeit einer wirklichen Chronik geht es dabei, vielmehr um die individuelle Lesart einer Epoche durch ein Erzähler-Ich, das sonst kaum etwas von sich preisgibt. Entsprechend darf man keine traditionelle Romanhandlung erwarten, Held und Handlung sind das Jahrhundert selbst.

Daraus ergibt sich eine sehr offene Textstruktur, in der die einzelnen Passagen eine große Autonomie haben. Wenn dennoch nicht der Eindruck entsteht, man habe es hier mit einer Materialsammlung zu tun, so liegt das unter anderem daran, dass einige der auftauchenden Figuren in mehreren Episoden vorkommen. So etwas wie die Kerngeschichte rankt sich um den - vom Autor erfundenen - Schriftsteller Siegbert Armin Thorwaldt, wobei dieser Schriftsteller selbst nicht vorkommt, weil er noch im 19. Jahrhundert verstarb. Vielmehr verfolgt das Erzähler-Ich die Jahrestagung jener literarischen Gesellschaft, die sich der Pflege seines Erbes und der Herausgabe seiner Schriften widmet. In den verschiedenen Epochen ergibt sich aus diesen Beschreibungen ein oft mit Ironie gezeichnetes politisch-kulturelles Porträt der jeweiligen Zeit: wilhelminisch, nationalsozialistisch, westdeutsch, DDR-sozialistisch, gesamtdeutsch.

Ein weiteres Erzählelement, das diesen Text zum Roman erhebt, ist der hochsubjektive Ton mancher Passagen. Denn wenn dieses Erzähler-Ich auch kaum etwas von seinem äußeren Leben preisgibt, so lässt es den Leser doch intensiv teilhaben an seinem Innenleben. Traumsequenzen, hinreißende Landschaftsbetrachtungen, detaillierte Bildbeschreibungen erzeugen ein intimes Ambiente.

Die enorme und variantenreiche Menge von Textbausteinen, die dieser Roman ausbreitet, ist zunächst überaus verwirrend. Am Ende freilich steht die Erkenntnis, dass genau auf diese Weise unsere alltägliche Weltwahrnehmung sich vollzieht. Ernst Halter hat diesen Prozess der Weltwahrnehmung auf meisterhafte Weise auf das 20. Jahrhundert projiziert.

Besprochen von Gregor Ziolkowski

Ernst Halter: Jahrhundertschnee. Roman
Ammann Verlag, Zürich 2009
435 Seiten, 22,95 Euro