Porträt einer Epoche

Von Björn Stüben |
Im Pariser Grand Palais ist zurzeit eine Ausstellung mit dem Titel "Der Zöllner Rousseau - Dschungel in Paris" zu sehen. Die Schau feiert nicht nur den Künstler, sondern zeichnet auch das Porträt einer Epoche nach.
Es ist zwecklos, sich zu wehren. Der Gorilla presst die junge Frau fest an seine Seite. Von einem Felsvorsprung aus sondiert er die Lage. Wurde seine Verfolgung schon aufgenommen? Es ist keine Sequenz aus einem "KingKong"-Film, sondern eine lebensgroße, von Emmanuel Frémiet 1887 geschaffene Figurengruppe aus Gips, die dem Besucher als erstes Exponat in der Henri Rousseau gewidmeten Ausstellung im Pariser Grand Palais präsentiert wird.

Der Zusammenhang wird schnell deutlich, denn gegenüber hängt Rousseaus großformatiges, 1891 entstandenes Bild "Überrascht!" oder auch "Gewitter im Urwald" genannt. Hierauf pirscht sich ein das Gebiss fletschender Tiger durchs Unterholz heran. Beide Künstler teilen damals in Paris wohl die gleiche Leidenschaft für die neue Menagerie mit exotischen Wildtieren. Dieser Auftakt verweist auf den Untertitel der Ausstellung: "Dschungel in Paris". Doch der Autodidakt Rousseau beschäftigt sich ja zunächst mit ganz anderen Bildthemen wie Vincent Gille, einer der Kuratoren der Schau, betont:

"Rousseau ist ein Künstler, der aus sehr bescheidenen, aber nicht armen Verhältnissen stammt. Sein Vater ist Handwerker und er selbst diente zunächst bei der Armee. Dann arbeitet er beim Pariser Stadtzoll. Waren wie Kohle oder Wein wurden damals noch an der Stadtgrenze mit Steuern belegt. Daher spricht man ja noch heute vom "Zöllner" Rousseau, denn diese Arbeit lieferte ihm auch die ersten Motive für seine Bilder. Er malte eben, was er täglich vor Augen hatte."

Genügend Zeit, um häufig seine Staffelei aufstellen zu können, hat Rousseau offensichtlich gehabt. Sorgsam komponiert er Ansichten auf die alten Stadtmauern um Paris, die allmählich von der Vegetation überwuchert werden. An der Zollstation stehen freundliche Beamte und auf den Wiesen spielen Kinder. Rousseaus naiver Blick wird in breitflächige Malerei umgesetzt. Diese zeigt er im juryfreien Salon der unabhängigen Künstler, nachdem er seinen Zöllnerposten aufgegeben und seit Ende der 1870er Jahre den Werdegang eines Malers eingeschlagen hat.

Im großformatigen Bild "Der Krieg" von 1894 verlässt er seine heile Welt und schickt ein weiß gekleidetes Kind mit Feuer, Schwert und einem schwarzen Gaul als Allegorie für Leid und Zerstörung über ein Leichenfeld. Ein trotz seines naiven Malstils verstörendes Bild ist entstanden. Dem breiten Publikum dient seine Malerei jedoch weiterhin als Belustigung.

"Bis etwa 1904 kamen die Leute nur in den Salon, um über Rousseaus Werke zu lachen. Sie waren eine Attraktion, über die man sich ungeniert lustig machen konnte. Dann entdeckten Künstlerkollegen seine Werke. Der Maler Robert Delaunay, der sich mit dem viel älteren Rousseau anfreundete, sprach als erster sehr positiv über dessen Bilder."

1908 ersteht Picasso bei einem Trödelhändler am Montmartre ein Werk Rousseaus. Es ist das Bildnis einer Frau, entstanden bereits 1895. Der Händler verkauft ihm das Werk für fünf Francs mit dem gut gemeinten Rat, man könne die Leinwand ja wieder verwenden. Doch Picasso sucht keinen Malgrund zum Recyceln, sondern spricht fasziniert von "einem der aufschlussreichsten französischen psychologischen Porträts." Berühmt wird Rousseau aber vor allem durch seine Urwaldbilder, die er wenige Jahre vor seinem Tod 1910 als knapp 60-Jähriger malt und die jetzt alle im Grand Palais zu sehen sind.

Der Kampf eines Tigers mit einem Büffel, ein Löwe, der sich auf eine Antilope stürzt oder ein Jaguar, der sich in einen Pferdehals verbeißt. Bei Rousseau spielen sich diese Szenen unter Palmen oder dichtem Farn und Bananenstauden ab. Ebenfalls ausgestellte Postkarten und illustrierte Zeitschriften der Epoche mit ähnlichen Motiven scheinen dabei Rousseau als Inspirationsquelle gedient zu haben. Für Vincent Gille greift diese Erklärung jedoch zu kurz:

"Manch ein Ausstellungsbesucher wird sich beim Blick auf die Dokumente aus der Zeit denken, daher also habe Rousseau etwa die Antilopen und die Tiger, die er dann einfach in seine Malerei hineinkopiert. Es entsteht der Eindruck, man habe seine Kunst verstanden. Aber Rousseau kopiert nicht einfach, er interpretiert die Motive und gestaltet seine ganz eigene Vision.

Es entsteht eine Art Collage und damit funktioniert seine Kunst genauso wie die gesamte Epoche, in der er lebt. Am Ende des 19. Jahrhunderts entdeckt Europa durch den Kolonialismus Gegenden auf der Welt, die bisher unzugänglich oder unbekannt waren. Die Weltausstellungen können dann wie Collagen von Bildern des Unbekannten gelesen werden, die dazu dienen, die neue Weltordnung und deren Bildersprache im allgemeinen Bewusstsein zu verankern. Rousseau nimmt an diesem Prozess mit seiner Kunst teil."

Alte Fotografien in der Schau belegen wie die Pariser Weltausstellungen vor 1900 das neue Kolonialreich der Franzosen in Nachbauten abbilden. Stiche in auflagenstarken Zeitschriften illustrieren detailgenau die ersten Expeditionen in tropische Regenwälder und Begegnungen mit fremder Flora und Fauna. Rousseau konsumiert diese Bilderflut begeistert. Seine Pariser Dschungelbilder sind hierauf ein Reflex. Die Schau im Grand Palais feiert somit nicht nur den naiven Künstler Rousseau, sondern zeichnet vor allem auch materialreich das Porträt einer Epoche nach.