Porträt eines umstrittenen Stardirigenten

13.11.2009
Leopold Stokowski hat seine Zeitgenossen immer wieder irritiert, musikalisch wie biographisch. Er machte beispielsweise ein Geheimnis aus seiner Abstammung und seinem Geburtsjahr.
Seine Bach-Bearbeitungen für Sinfonieorchester, seine multimedialen dirigentischen Selbstinzenierungen, seine Zusammenarbeit mit Walt Disney erzürnten viele "seriöse" Musikfreunde. Lange vor Karajan war Stokowski, der 1882 geboren wurde und erst 1977 starb, ein wegweisender Medienstar der modernen Musikbranche.

Ursprünglich Londoner Organist, wurde er zu einem der umstrittensten, aber auch erfolgreichsten amerikanischen Dirigenten des 20. Jahrhunderts. Jetzt, endlich, ist im Berliner Parthas Verlag eine erste Biographie über Leopold Stokowski erschienen: "Genie oder Scharlatan?" ist sie überschrieben. Der Autor: Herbert Haffner.

Seit Leopold Stokowski 1940 mit Walt Disney den Musikfilm "Fantasia" produzierte, ist sein Name für manche Musikpuristen ein rotes Tuch. Doch über den Handschlag mit Mickey-Maus wird vergessen, dass Stokowski lange vor Arturo Toscanini ein immenses "seriöses" Repertoire dirigierte und auf Platte einspielte, von Barockmusik über Romantik bis zur Neuen Musik, darunter mehr als 2000 Uraufführungen. Herbert Haffner dokumentiert dies eindrucksvoll und detailreich.

Seine Stokowski-Biografie räumt mit so ziemlich allen Vorurteilen und Irritationen auf, die sich um die Legende Stokowski ranken, sowohl biografischen als auch künstlerischen. Mit staunenswerter Quellen- und Materialien-Auswertung zeichnet der Autor das Leben und die künstlerische Karriere dieses in England geborenen Sohnes eines polnischen Möbeltischlers nach, der nach dem Studium am Royal College of Music als Organist in London und dann in New York seine Karriere begann, um auf wunderliche Weise zum Chef des Philadelphia-Orchestra zu werden.

Frauen spielten dabei, wie man in dem Buch erfährt, stets eine große Rolle. Stokowski hat "sein" Orchester in den Jahren 1912 bis 36 zu einem beispiellosen Perfektionsinstrument und Supersound-Generator entwickelt. Kein Wunder, dass er von Philadelphia aus zum Weltstar wurde. Das moderne Riesenorchester war ihm im Grunde eine gigantisch vergrößerte, spätromantische Orgel, auf der er nach wie vor gelegentlich auch Bach spielte, auf seine Weise.

"Ich habe als Organist angefangen. Später, als ich Dirigent war, hatte ich keine Zeit mehr, die Orgel zu spielen. Dirigieren ist ein harter Beruf! Aber ich schrieb für mich privat Transkriptionen Bachs für Orchester. Die benutzte ich bei den Proben zur Orchestererziehung. Und irgendwann fragten die Musiker: Warum spielen wir diese Transkriptionen nicht öffentlich?"

So kamen diese Bearbeitungen schließlich vor ein begeistertes Publikum, die der d-moll-Orgeltoccata wurde zur meistverkauften Klassik-Scheibe der Schallplattengeschichte.

Nicht nur Stokowskis Bach-Bearbeitungen, auch sein rückhaltloses Eintreten für die Mo-derne, seine Selbstinszenierung am Pult und seine unorthodoxe Aufführungstechnik machten ihn zu einem Kultstar. Dabei gingen über keinen Dirigenten die Meinungen mehr auseinander; von der Skandalpresse verfolgt, wurde er von einem Millionenpublikum als "Klangzauberer" gefeiert, auch wenn Viele seine Eingriffe in den Notentext oder die ursprüngliche Orchesteraufstellung verurteilten. Doch auch sein glamouröses Privatleben, über das Haffner alles, was er in Erfahrung bringen konnte, genüsslich ausplaudert, war aufregend. Stokowski war dreimal verheiratet, zuletzt mit der Schauspielerin Gloria Vanderbilt, und hatte in den 30er-Jahren eine heftige Beziehung zu Greta Garbo.
Seine Platten – sie gehören zu den auch klangtechnisch besten LP- beziehungsweise CD-Produktionen überhaupt - dokumentieren, dass er einer der faszinierendsten Dirigenten des 20. Jahrhunderts war. Da ist die Frage nach Scharlatanerie oder Genie überflüssig, wie Herbert Haffner mit seiner sehr ausgewogenen und präzisen Biographie deutlich macht. Sie ist eines der besten Dirigentenporträts seit langem.

Besprochen von Dieter David Scholz

Herbert Haffner: Genie oder Scharlatan? Das aufregende Leben des Leopold Stokowski
Parthas Verlag, Berlin
380 Seiten, 28 Euro