Das Bangalore Europas?
Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat in Portugal viele Jobs zerstört. Doch es gibt Bereiche, in denen Experten große Wachstumschancen sehen: die Callcenter und die IT-Branche.
Sofia Carrola steht vor einem langen Bücheregal und sucht nach Fachliteratur. Viel Zeit bleibt der 24-jährigen nicht mehr. Die Masterstudentin muss die Bibliothek des Fachbereichs für Kommunikationswissenschaften an der Fachhochschule Lissabon gleich verlassen. Ihr Job wartet. Sofia arbeitet in einem Callcenter - am anderen Ende der Stadt.
"Ich arbeite im Outbound - ich rufe also potenzielle Endverbraucher an und versuche Ihnen Produkte zu verkaufen. Das mache ich schon seit zweieinhalb Jahren. Immer für die gleiche Firma. Ich habe damit während des Bachelor-Studiums angefangen, damals in meiner Heimatstadt Covilhã im Landesinneren. Ich brauchte Geld. Und in der Provinz gibt es fast keine Jobs. Und als ich dann hier nach Lissabon kam, konnte ich in der gleichen Firma und im gleichen Projekt arbeiten."
Sofia arbeitet fünfundzwanzig Stunden die Woche. Die Arbeit sei anstrengend, sagt sie. Doch sie beklagt sich nicht. Das Geld reiche, weil sie außerdem ein Stipendium habe, und ihr bleibe noch Zeit zum Studieren. Sofia gibt sich sichtlich Mühe, nichts Falsches zu sagen. Sie will bei ihrem Arbeitgeber Karriere machen. Nicht mit dem
"Ich glaube, ich habe dort eine vielversprechende Zukunft vor mir. Das Unternehmen behandelt uns Mitarbeiter gut. Ich habe bereits ein Praktikum in der Marketingabteilung gemacht. Und wenn jetzt eine Stelle in meinem Bereich frei wird, würde ich gerne wechseln."
Große Telekommunikationsunternehmen und IT-Startups
Sofia fährt mit der S-Bahn in den Osten Lissabons. Auf dem ehemaligen Gelände der Weltausstellung von 1998 ist ein hochmoderner Stadtteil entstanden. Breite Straßen, Hochhäuser mit verspiegelten Glasfassaden und ein riesiger Freizeitpark direkt am Ufer des Tejo-Flusses. Hier haben sich große Telekommunikationsunternehmen und IT-Startups niedergelassen. Zu den größten Arbeitgebern zählt Sofias Callcenter-Unternehmen Teleperformance Portugal. Die Firma ist Teil eines Global Players französischen Ursprungs, der weltweit rund 175.000 Arbeitnehmer beschäftigt. In Portugal waren es vor über zehn Jahren noch 200 Mitarbeiter - heute sind es über 4600.
Der Firmensitz in bester Lage, ein lichtdurchtränkter Neubau direkt am Flussufer. In der überfüllten Eingangshalle geht es munter durcheinander, überwiegend junge Leute, in Jeans und Markenschuhen, sprechen spanisch, arabisch, französisch, englisch und deutsch. Das Unternehmen hat sich darauf spezialisiert, mehrsprachige Kundenzentren an einem Ort aufzubauen.
"Wir betreiben die Kundenzentren für Unternehmen, die im europäischen Markt tätig sind. Es sind europäische Firmen, aber auch sehr viele amerikanische, für die das europäische Sprachenmosaik schwerer zu durchschauen ist. Unser Konzept gefällt ihnen, weil sie so den gesamten Servicebereich an einem Ort haben. Dazu kommen noch Firmen aus der New Economy, die nur im Internet präsent sind und von Beginn an ein multinationales Zielpublikum haben."
João Cardoso ist seit 2003 Geschäftsführer des Callcenter-Unternehmens. In der Branche gab es bis dahin vor allem ein gängiges Konzept: Einsprachige Kundenzentren wurden in Billiglohnländer verlegt, wo die Weltsprachen auch gesprochen werden. Französisch in Nordafrika, Spanisch in Lateinamerika, Englisch in Indien. Cardoso und sein Team setzten auf mehrsprachige Callcenter in Lissabon. Mit großem Erfolg: Seit 2005 hat sich das Geschäftsvolumen des portugiesischen Tochterunternehmens alle zwei bis drei Jahre verdoppelt. Auch dank der niedrigen Lohnkosten.
Der Mindestlohn in Portugal beträgt nur die Hälfte des durchschnittlichen Mindesteinkommens in der EU, also 485 Euro. João Cardoso scheut deshalb auch nicht den Vergleich mit dem wirtschaftlichen Erfolg in Indien, wohin englischsprachige Unternehmen in den vergangenen Jahren ihre Kundenzentren und Abwicklungsabteilungen ausgelagert haben.
"Indien ist eigentlich ein gutes Beispiel für uns, obwohl viele Leute immer noch abschätzig über Indien denken. Aber wer einmal in Bangalore war, der weiß, was die Inder für eine großartige Arbeit geleistet haben und was das für eine tolle Stadt ist. Warum sollte Lissabon nicht das Bangalore Europas werden? Wir sind jetzt an einem entscheidenden Punkt, an dem wir die kritische Masse zusammen haben, um aus Lissabon ein neues Bangalore zu machen."+
Keine Schwierigkeiten, Leute in die portugiesische Hauptstadt zu locken
Im Erdgeschoss der Lissabonner Firmenzentrale liegt eines der Großraumbüros. circa 80 Mitarbeiter sitzen an runden Tischen. Die individuellen Arbeitsbereiche mit Bildschirm und Headset sind mit Trennwänden abgegrenzt. Es wird vor allem Holländisch gesprochen - wenn die niederländischen Kunden eines großen Elektronikkonzerns eine technische Frage haben, landen sie im Callcenter am Tejo-Fluss in Lissabon. Die Mitarbeiter, die in Holland rekrutiert wurden, verdienen in Portugal weniger als in einem Callcenter in Amsterdam. João Cardoso und sein Verwaltungsteam hatten trotzdem keine Schwierigkeiten, die jungen Leute in die portugiesische Hauptstadt zu locken:
"Es gibt eine bestimmte Vorstellung vom Leben in Lissabon, die uns hilft, die Mitarbeiter hierher zu lotsen. Portugal hat ein fantastisches Klima und 1500 Kilometer Strand. Und Lissabon ist eine Stadt, in der sich die Menschen wohl fühlen, und die sich immer noch etwas Exotisches bewahrt hat. Man kann hier einfach gut leben. Und deshalb ist es für mich auch ganz klar, dass es viel einfacher ist, Mitarbeiter nach Portugal zu locken, als zum Beispiel nach Bukarest oder Sofia."
Wer bei Teleperformance Portugal kein Portugiesisch, sondern eine andere Fremdsprache spricht, wird für portugiesische Verhältnisse trotzdem gut bezahlt. Manchmal verdient man fast doppelt so viel wie die Portugiesisch sprechenden Kollegen, nach Angaben eines Mitarbeiters knapp 1000 Euro. Denn der Boom der mehrsprachigen Callcenter hat keinen sichtbar positiven Einfluss auf die Gehälter, die im portugiesischsprachigen Markt gezahlt werden.
João Senra schließt die Haustür auf und rennt die Treppen eines Lissabonner Altbaus hoch. Nachmittags geht es hektisch zu in Joãos Alltag. Zur Mittagessenszeit muss er sich um seine hilfsbedürftige Mutter kümmern, und nach einer kurzen Pause zu Hause, geht's sofort ins Callcenter. Spätschicht bis um 23 Uhr.
"Wir werden sehr schlecht bezahlt. Wer täglich acht Stunden - mit Mittagspause eigentlich neun Stunden - arbeitet, erhält im Monat 500 Euro. Das ist alles. Seit fünf Jahren wurden die Löhne nicht erhöht. Das steht weder in einem vernünftigen Verhältnis zu unserem Einsatz - denn die Arbeit ist extrem aufreibend und stressig. Noch zu unserer Verantwortung: Schließlich sind wir die Ansprechpartner und bringen den Auftraggebern manchmal neue Kunden und damit direkten Ertrag."
Einzige Alternative zur Arbeitslosigkeit
Jahrelang hat João Senra im Kulturbereich gearbeitet - als Schauspieler, Tontechniker und Produzent. Doch seit der Finanzkrise in Portugal im Jahr 2011 sind die Budgets der Theater so drastisch gekürzt worden, dass er kaum noch Aufträge erhält. Auch für viele seiner Arbeitskollegen, die eine abgeschlossene Berufsausbildung oder einen Uniabschluss haben, ist das Callcenter die einzige Alternative zur Arbeitslosigkeit.
"Die Leute kommen von den Universitäten und finden einfach keinen Arbeitsplatz in ihrem Bereich. Nur in den Callcenter gibt es immer Jobs: in Verkauf, in der Kundenbetreuung, im technischen Support oder in der Buchhaltung. Aber darunter leidet auch der Service. Viele meiner Kollegen sind so demotiviert, dass sie ihren Frust an den Kunden auslassen. Sie identifizieren sich einfach nicht mit ihrem Arbeitsalltag."
Die Jugendarbeitslosigkeit in Portugal liegt immer noch bei über 30 Prozent, und das obwohl allein im vergangenen Jahr nach offiziellen Zahlen 128.000 Portugiesen ausgewandert sind..
Im modernen östlichen Stadtteil Lissabons, im "Parque das Nações" - dem ehemaligen Gelände der Weltausstellung, setzt man jedoch nicht nur auf den Billiglohnsektor der Callcenter. Hinter einer der vielen verspiegelten Hochhausfassaden hat Feedzai, ein aufstrebendes Software-Unternehmen, seine Büros untergebracht.
In einem Arbeitsraum sitzt ein Dutzend IT-Fachmänner an Bildschirmen, einer der Geschäftsführer führt in seinem Büro eine Telefonkonferenz mit einer indischen Bank. Es geht um einen großen Auftrag. Feedzai wurde vor sechs Jahren von drei portugiesischen Ingenieuren gegründet: Sie haben eine Software entwickelt, die es Banken in Echtzeit erlaubt, Betrugsfälle zu erkennen und sofort aufzudecken. Pedro Bizarro und seine beiden Geschäftsfreunde waren so gut vernetzt, dass sie ihr Start-up in Deutschland, den USA oder England hätten aufbauen können. Sie gingen nach Portugal - und das nicht nur aus Liebe zur eigenen Heimat:
"Portugal und andere europäische Staaten haben in der Krise gelitten, weil viele Talente ausgewandert sind. Doch es gibt hier immer noch sehr gute Ingenieure in den Bereichen Software und maschinelles Lernen, die genauso gut ausgebildet sind wie in den USA, in Skandinavien, in Deutschland oder in Großbritannien. Das wissen wir, weil wir jahrelang an portugiesischen Universitäten unterrichtet haben. Portugal hat noch nicht den Ruf, ein Hochtechnologieland zu sein, und zwar auch, weil viele portugiesische Fachkräfte einfach in nicht-portugiesischen Unternehmen arbeiten. Die Qualität existiert hier aber in der Tat."
Ähnlich wie die Branche der Callcenter profitieren die IT-Firmen in Lissabon von den vergleichsweise geringen Kosten. Pedro Bizarro glaubt aber, dass sich die Unternehmen in Portugal nicht lange auf diesem Standortvorteil ausruhen dürfen.
"Es gibt eine Reihe von internationalen IT-Unternehmen, die hier in Portugal ihre Büros aufmachen. Sie betreiben das sogenannte "Near-Shoring", das heißt, sie haben den Sitz in London oder Berlin, aber ihre Büros sind in Lissabon oder Porto, weil die Kosten hier jetzt noch halb so hoch sind. Wenn die Lebenshaltungskosten in London etwa 70 Prozent höher sind als in Lissabon, dann macht sich das natürlich auch bei den Gehältern bemerkbar. Aber mit der Zeit wird der Unterschied immer geringer werden."
Konkurrenz in Europa und Nordamerika
Kaum ein anderer Arbeitsmarkt ist so flexibel wie die IT-Branche. Für portugiesische Start-ups ist deshalb klar, dass sie ihren Mitarbeitern sehr bald schon Gehälter zahlen müssen, die auf einem ähnlichen Niveau wie in Berlin oder Dublin liegen. Für Pedro Bizarro ist das kein Nachteil, sondern eine ganz natürliche Entwicklung. Schließlich solle Portugal sich nicht am Wirtschaftsmodell aufstrebender Schwellenländer wie Indien orientieren, sondern an der Konkurrenz in Europa und Nordamerika:
"Portugal wird viel erfolgreicher sein, wenn es sich an Qualitätsstandards orientiert und nicht an den Lohnkosten. Unser Vorteile sollten sein: qualitätsstarkes Ingenieurwesen, kompetente Mitarbeiter, Kreativität und Innovationsfähigkeit. Wir können nicht in den Wettbewerb mit Staaten treten, die eine viel größere Bevölkerung haben und viel niedrigere Lohnkosten."
Der Erfolg von Feedzai und anderen portugiesischen Software-Unternehmen ist nicht das Ergebnis der Strukturreformen, die Portugal nach der Finanzkrise auch auf Druck der internationalen Geldgeber umsetzen musste. Vor knapp einem Jahrzehnt wurden die Grundlagen für das Wachstum in der IT-Branche geschaffen: Mit Kooperationen zwischen portugiesischen und amerikanischen Eliteuniversitäten, mit einer verstärkten Vernetzung von Forschungszentren und Unternehmen, und nicht zuletzt dank staatlicher Förderung. Pedro Bizarro fürchtet, dass die Sparpolitik der portugiesischen Regierung im Bereich Bildung und Wissenschaft mittelfristig großen Schaden in einem Sektor anrichten könnte, der sich immer noch im Aufbau befinde. Und hier sieht der Software-Entwickler doch noch einen Grund, warum Portugal auf Indien schauen sollte.