Vom Aus- zum Einwanderungsland
Lissabon ist in diesem Jahr die Kulturhauptstadt der Spanisch und Portugiesisch sprechende Welt. Ein Thema, auf das sich die Kuratoren konzentrieren, ist Portugals Migrations-Geschichte: Erst die weltweite Kolonisierung, später starke Abwanderung während den Diktatur- und Krisenjahren, nun ist Portugal Aufnahmeland für Geflüchtete.
Elf Millionen ausländische Gäste kamen im vergangenen Jahr nach Portugal. 2017 könnten es sehr viele aus der Spanisch und Portugiesisch sprechenden Welt werden. Denn Lissabon schmückt sich mit dem Titel "Iberoamerikanische Kulturhauptstadt". Mehr als 150 Veranstaltungen hat Kurator António Pinto Ribeiro organisiert – in Kinos, Galerien, Theatern und Konzertsälen – ein Schwerpunkt – die Aufarbeitung der gemeinsamen Geschichte.
"Es geht nicht nur darum unseren, also den Stadtpunkt der früheren Kolonisatoren, zu zeigen. Uns geht es um die vielen Sichtweisen der Länder, die kolonisiert wurden und die zwangsläufig anders als unsere sind."
Im Museum Arpad Szenes zum Beispiel beindrucken die Fotos des portugiesischen Emigranten Armindo Cardoso. Er musste Mitte der 1960er Jahre – während der Diktatur - aus politischen Gründen Portugal verlassen und dokumentierte anschließend als Fotograf das revolutionäre Chile. Seine Biografie soll auch gerade in dieser Zeit zum Nachdenken anregen, sagt Kurator Ribeiro.
"Es gibt einen Aspekt, den wir gerade heute immer wieder hervorheben müssen: Die vielen Emigranten, die von Europa nach Südamerika gegangen sind, taten das, weil sie entweder keine Arbeit in Europa hatten oder weil sie fliehen mussten. Sie wurden sehr gut aufgenommen. Das dürfen wir in einer Zeit nicht vergessen, in der wir Europäer tausenden Kriegsflüchtlingen die Aufnahme hier verweigern."
Portugal nahm fast eine Million Menschen aus Afrika auf
Flucht und Migration sind einige der Schwerpunkte, die António Pinto Ribeiro und seine Mitarbeiter setzen - für Lissabons Jahr als iberoamerikanische Kulturhauptstadt. Der Kurator will zeigen, dass Migrationen schon immer voller Leid war für die Menschen, die - meist gegen ihren Willen – aus ihrer Heimat weggingen.
"Der Themenschwerpunkt Sklavenroute zum Beispiel: Da zeigen wir an 40 Orten in Lissabon, wie groß unsere Schuld an dieser infamen Epoche ist. Die Gemälde mit Schwarzen im Chiado-Museum. Ein Privathaus, in dem es ein Armband gibt, das ein Afrikaner geschaffen hat, als er im 16. Jahrhundert in Lissabon lebte. Ein höchst interessanter Spaziergang durch die Stadt, allerdings nichts für Menschen mit schwachen Nerven. Er zeigt, was wir Europäer damals angerichtet haben."
Portugals Geschichte ist eng mit diesem finsteren Kapitel verbunden: Das Land hat die Sklaverei erst 1869 abgeschafft, noch bis 1974 war Portugal Kolonialmacht in Afrika. Die Portugiesen hätten jedoch ihre Lektion gelernt, meint der Kulturhauptstadtorganisator Pinto Ribeiro:
"Seit vielen Jahren sind wir jetzt ein gastfreundliches Volk. Am Ende der Kolonialherrschaft haben wir fast eine Million Menschen aus den Ex-Kolonien in Afrika aufgenommen, Schwarze und Weiße. Die wurden in wenigen Jahren integriert."
Einwanderer aus Afrika noch immer in "Ghettos"
Mehr oder weniger, hält die Migrationsforscherin Elsa Lechner dem entgegen. Die meisten Weißen, die in den 1970er Jahren nach Portugal kamen, seien in der Tat in der portugiesischen Gesellschaft integriert. Viele Schwarze dagegen lebten noch immer in Ghettos.
"Für ein Kind mit Eltern aus Afrika, das in einem Slum am Stadtrand von Lissabon geboren wurde, ist es noch immer viel schwerer, sich in die Gesellschaft zu integrieren. Es wird noch lange dauern, bis diese Menschen sich das Stigma einer Randgruppe verlieren."
Viele der aus Afrika, vor allem von den Kapverdischen Inseln stammenden Portugiesen der zweiten oder dritten Generation steckten noch immer in einem Teufelskreis von Armut, schlechter Bildung und Vorurteilen, erklärt die Wissenschaftlerin vom angesehenen Zentrum für soziale Studien der Universität Coimbra. Darum verfolgt sie das Schicksal der neuen Migranten in Portugal besonders aufmerksam.
Noch leben sie in den griechischen und italienischen Flüchtlingslagern. Aber Portugal beteiligt sich an der EU-weiten Verteilung und will etwa 4.500 Menschen aus Kriegs-Ländern wie Syrien, Irak oder Afghanistan aufnehmen. Die ersten 1.000 Menschen sind bereits eingetroffen.
"Anders als andere Länder der EU hat Portugal sich bereit erklärt, Asylsuchende aufzunehmen. Portugal hat die Quotenregelung ohne Widerspruch sofort akzeptiert."
Fouad Ahmed ist einer der ersten Syrer, der vor einem Jahr mit seiner Frau und den drei Kindern nach Portugal gekommen ist.
"Wir sind aus Aleppo. Dort herrscht Krieg, es war fürchterlich. Täglich explodierten Raketen und wir wurden bombardiert."
Zuerst wurde er in dem Städtchen Penela in Mittelportugal untergebracht, jetzt hat er einen Job in Lissabon gefunden. Über Portugal habe er so gut wie nichts gewusst, erzählt der Mann Mitte 40. Vor der Ankunft habe er eher skeptisch noch schnell die wichtigsten Fakten über das Land gegoogelt und sich ein Wörterbuch heruntergeladen. Nach der Ankunft dann die große Überraschung:
"Die Leute hier behandeln uns wie Brüder, wie Familie. Überall sind sie freundlich, grüßen uns und kümmern sich."
Keine Partei im portugisischen Parlament ist ausländerfeindlich
Das kommt nicht von ungefähr: Staatliche Stellen und private Wohlfahrtsorganisationen aus dem ganzen Land haben in Portugal eine Hilfsplattform für geflüchtet Menschen aufgebaut. Das Ziel: Die Asylbewerber sollen nicht in großen Lagern, sondern in eher kleinen Gruppen untergebracht werden. Das soll ihre Integration im Land erleichtern.
Besonders aktiv bei er Eingliederung ist die Katholische Kirche. André Costa Jorge vom Jesuitischen Flüchtlingsdienst stellt fest:
"In Portugal gibt es einen in Europa seltenen Konsens in der Flüchtlingsfrage. Von links bis rechts stehen alle den Flüchtlingen positiv gegenüber. Keine der im Parlament vertretenen Parteien vertritt ausländerfeindliche Ideen oder spricht sich gegen Zuwanderung aus."
Die große Mehrheit der Portugiesen wolle helfen, versichert Costa Jorge, es gebe so gut wie keine ausländerfeindlichen Töne.
"Unser Erfolgsgeheimnis ist die menschliche Nähe. Ich denke, viele der geflüchteten Menschen werden in Portugal bleiben, weil sie enge Beziehungen zu den Menschen knüpfen, die sie aufgenommen haben."
Damit auch möglichst viele dieser Beziehungen entstehen, und Integration bewusst gelebt wird, reist die Migrationsforscherin Elsa Lechner – übrigens selbst ein Kind ungarischer Flüchtlinge – immer wieder mit ihren Kollegen zu Schulen im ganzen Land.
Portugal fehlt es an Erfahrung mit Einwanderung
Im mittelportugiesischen Penacova haben sich die Schüler auf ihren Besuch vorbereitet und in der Pausenhalle ein zerschlissenes Schlauchboot mit Rettungswesten aufgebaut, um an die Gefahren der Flucht zu erinnern. Eine Gruppe trägt laut die Menschenrechte vor. Anschließend diskutieren sie mit Elsa Lechner. Dabei hört die Wissenschaftlerin vieles, was die Kinder aufschnappen:
"Wir stoßen auch auf viel Feindschaft, Aggressivität und Intoleranz. Vor allem aber auf Angst vor den Fremden, die aus Ländern kommen, die sehr fremd sind – geografisch, kulturell und auch religiös."
Das sei, so die Wissenschaftlerin, jedoch verständlich:
"Portugal hat keine Erfahrung auf diesem Gebiet. Es war zwar lange ein Auswanderungsland, hat Arbeitskräfte auch nach Europa exportiert. Aber Flüchtlinge gibt es hier erst seit kurzem und nur sehr wenige."
Darüber hinaus sei der Sozialstaat noch jung, erst nach der Nelkenrevolution 1974 entstanden und nur schwach ausgebaut. Da sei es verständlich, dass es Berührungsängste gebe, meint Elsa Lechner. Vor allem, weil das Land in einer Dauerwirtschaftskrise stecke und die Regierung es versäumt habe, eine Zuwanderungspolitik zu definieren – auch wenn sie sich jetzt in Flüchtlingsfragen sehr weltoffen gebe:
"Es gibt eben eine große Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis. Zwischen den Erklärungen der Institutionen und dem Empfinden der Bevölkerung liegen Welten."
Neues Leben in Portugal für Syrerin Amira
Ortswechsel: Im Badeort Nazaré genießen die ersten Touristen die Frühlingssonne. Keine Zeit dafür hat die Sozialarbeiterin Susana Zorro. Sie sitzt in ihrem Büro im katholischen Sozialzentrum und führt den üblichen Papierkrieg. Der ist, seit die Bruderschaft dort drei Flüchtlingsfamilien aufgenommen hat, noch größer geworden: Wegen der Einschulung der Kinder, weil Wohnraum gebraucht wird und weil die Sozialversicherung informiert werden muss. Zwei Familien wurden bereits in eigenen Wohnungen untergebracht, die dritte lebt noch im Sozialzentrum.
"Die bleibt hier, bis auch ihre Wohnung fertig ist und sie leichter auf eigenen Füssen stehen kann. Hier können wir sie besser betreuen und bei den Behördengängen helfen."
Im Aufenthaltsraum nebenan sitzt die Syrerin Amira Kapouk, die mit ihren zwei Töchtern vor fünf Monaten aus einem Lager in Griechenland gekommen ist. Sie blickt hinunter aufs Meer.
"Wenn man sich wohl fühlt, sind alle Probleme vergessen. Und ich fühle mich hier wohl", sagt sie noch radebrechend und lächelt. Das schwierigste sei die Sprache, aber mittlerweile verstehe sie sehr viel. Die Töchter sind im Kindergarten, Amira macht sich nützlich, mittags und abends hilft sie bei der Armenspeisung, kocht sogar. Amira ist zufrieden, die Schrecken des Krieges sind vergessen, jetzt will sie ein neues Leben beginnen. In Portugal, im Badeort Nazaré, wo alle so freundlich und hilfsbereit seien.