Jedes Kind soll sich willkommen fühlen
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Religiöse Erziehung hat oft einen schlechten Ruf. Lange Zeit ließen Eltern oder Lehrkräfte im Namen Gottes besondere Strenge walten. Aber es geht auch anders. Das zeigt das jüdische Konzept der positiven Erziehung.
Erziehung dient dazu, auf das Leben vorzubereiten, auf gute wie auf schlechte Tage. Wenn es um das Leben von Juden geht, gehören Anfeindungen und Gewalt weltweit immer noch zum Alltag. Trotzdem oder gerade deshalb werden jüdische Kinder zu Optimismus erzogen. Die Werte Zuversicht und Wohlwollen sind fest im Glauben und in den Traditionen verankert und vereinen Juden und Jüdinnen auf der ganzen Welt. Die jüdische Pädagogin Gaby Schrijver aus den Niederlanden gibt ein Beispiel dafür: "Am jüdischen Feiertag Pessach hofft man jedes Jahr, dass man den Feiertag im nächsten Jahr in Jerusalem feiern wird, also dass es eine bessere Welt sein wird. Das machen wir schon seit Tausenden von Jahren. Und damit wachsen Kinder auf, da wird ihnen schon eine positive Erziehung mitgegeben."
Lob, Aufmerksamkeit – und realistische Erwartungen
Positive Erziehung – so heißt eine Strömung in der jüdischen Pädagogik, die zurückgeht auf den israelischen Kinderpsychologen Haim Ginott. An ihm orientiert sich Gaby Schrijver in ihrem Bar- und Bat-Mitzwa-Unterricht. Positive Erziehung, erklärt sie, stehe für fünf Punkte: Sicherheit, Lob, Aufmerksamkeit, realistische und flexible Erwartungen.
Wie das in der Umsetzung aussehen kann, erklärt David Gewirtz. Er ist Schulrabbiner an der Jüdischen Traditionsschule in Berlin und gibt dort Judaistik-Unterricht: "Ich kann die Aufgabe geben: Bitte vorlesen. Ich habe die Aufgabe: Bitte erklären. Ich habe die Aufgabe: Bitte schreib jetzt etwas an die Tafel. Und ich habe die Aufgabe: Bitte jetzt Blätter verteilen an alle anderen." Gewirtz überlegt hier nun genau, wer was macht, wie er sagt:
"Gibt es einen bestimmten Schüler, von dem ich weiß: Er möchte sehr ungern vorlesen, Vorlesen ist nichts für ihn, er hat damit Schwierigkeiten - dann werde ich diese Aufgabe mit ihm überhaupt nicht beginnen. Ich möchte ihn nicht ändern. Ich möchte wirklich seinen Weg finden. Er will gerne Blätter verteilen, und er wird auch gerne weitere Kopien machen gehen, wenn ich welche brauche. Und dann möchte ich ihn auch loben vor der ganzen Klasse. Ich kann das mit einem Zitat von König Salomon zitieren, frei übersetzt: Erziehe den Jungen nach seinem Weg, sodass er, auch wenn er alt ist, von diesem Weg nicht abkommen wird."
Das Kind gibt den Weg vor
Wie er als Lehrer es überhaupt wagen könne, sich einzumischen in die Entwicklung eines Kindes, fragt sich Rabbiner Gewirtz, in seine Interessen, in seinen Geschmack? Natürlich wolle er bestimmte Inhalte vermitteln, über Glaube, Sprache, Geschichte und Traditionen, diese Lehrinhalte stellten das Ziel dar. Doch der Weg solle, wenn möglich, individuell an jeden Schüler angepasst werden, sagt Gewirtz:
"Also er will Sport, dann werde ich gerne mit ihm lernen: Was hat Bewegung im Judentum? Was findet Judentum wichtig in Gesundheit? Was ist genau der Platz von unserem Körper?"

Auf dem Lehrplan steht Ermutigung: David Lau, Oberrabbiner des Staates Israel, zu Besuch in der Jüdischen Traditionsschule in Berlin.© picture alliance / dpa / Maurizio Gambarini
Bei kleinen Klassen von unter 20 Schülern oder Schülerinnen ist es tatsächlich möglich, die individuellen Vorlieben und Fähigkeiten jedes Kindes im Hinterkopf zu haben. Wenn Gewirtz unterrichtet, überlegt er sich genau, wem er welche Frage stellt. Und wenn er beschließt, eine Schülerin herauszufordern, fragt er sie am Ende der Stunde, wie sie sich dabei gefühlt hat.
Niemand scheint hier Angst zu haben, wenn der Lehrer persönlich mit ihm sprechen will, private Fragen stellt oder ihn vor der ganzen Klasse lobt, denn es ist die Norm. Rabbiner Gewirtz arbeitet nur mit Komplimenten, nie mit Drohungen oder Strafen. Und das funktioniert: Die Jüdische Traditionsschule kann in diesem Jahr den besten Abiturdurchschnitt Berlins vorweisen.
Jeder Mensch ist von Gott gewollt
Dass es ein zentraler jüdischer Wert ist, auch von der Norm abweichende Bedürfnisse zu respektieren, belegt Rabbiner Gewirtz mit einer Geschichte über den Schäfer Moses. Weil er auf eine bestimmte Weise mit seinen Schafen umging, macht Gott ihn zum Anführer des Jüdischen Volkes.
"Ein kleines Schaf ist weggekommen von der Gruppe und schnell weggerannt in die andere Richtung", erzählt Gewirtz. "Was machte dann Moses? Er ging nach diesem Schaf und wollte wirklich verstehen: Was stört es? Warum geht es weg von der Gruppe? In der Gruppe ist es geschützt, dort ist für es gesorgt. Er hat festgestellt: Dieses kleine Schaf hat einfach Durst. Und er fand für es eine Wasserquelle, es konnte trinken, und er hat es so zurückgebracht zur Gruppe. Es gibt kein schlechtes Schaf. Es gibt nur ein Schaf, dem es schlecht geht."
Jeder Mensch ist von Grund auf gut, von Gott gewollt und wichtig für die Welt. Dieses Menschenbild begleitet das jüdische Volk so lange wie die Thora, erzählt Gewirtz. Die 600.000 Buchstaben, aus denen eine Thorarolle bestehe, hätten ursprünglich für die 600.000 Juden beim Auszug aus Ägypten gestanden. Sobald ein Buchstabe in einer Thorarolle fehle, sei sie unkoscher und dürfe nicht mehr gelesen werden. Aber ein Buchstabe könne noch so beschädigt und verschmutzt sein, am wichtigsten sei, dass er da stehe und seine Aufgabe im Text erfülle – beziehungsweise in der Gesellschaft. Der Geburtstag eines Juden bedeute daher: "An diesem Tag sagte der liebe Gott: Meine Welt kann nicht weitergehen ohne dich. Du sollst zu dieser Welt kommen, weil du eine bestimmte Aufgabe hast, und deine Aufgabe kann kein anderer Mensch ersetzen."
Dein Kind soll ein Gast sein
Jedes Kind soll sich willkommen fühlen mit seinem individuellen Potenzial. Gaby Schrijver stellt es so dar: "Du musst dafür sorgen, dass dein Kind ein Gast ist. Denn wenn du einen Gast hast, der zum Beispiel eine Tasse Tee umstößt, dann holst du schnell ein Tuch aus der Küche und sagst nicht: 'Oh, was soll das denn? Kannst du nicht…' Behandle dein Kind als Gast, das ist sehr wichtig im Judentum."
Mit dem Beispiel vom umgekippten Tee hat Haim Ginott schon vor rund 50 Jahren die Gäste einer amerikanischen Talkshow zum Lachen gebracht. Ein Kind wie seinen Gast zu behandeln, es niemals in seiner Persönlichkeit anzugreifen, sondern nur zu bestärken, sei für Erwachsene so schwierig und kontraintuitiv, weil sie selbst voll von eigenen Zurückweisungserfahrungen seien, sagte Ginott damals. Doch das wären sie vielleicht nicht, wenn man sie immer so behandelt hätte, wie Moses seine Schafe behandelte.