Kommentar

Wir brauchen eine konstruktive Weltsicht

04:00 Minuten
Mehrer Kräne ragen in den Himmel.
Die Wirtschaft steckt in der Krise. Wie kommen wir heraus? © picture alliance / Bildagentur-online / McPhoto / Bildagentur-online / McPhoto
Ein Einwurf von Tristan Horx |
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Kriege, Klimawandel, Wirtschaftsflaute: Krisen, wohin man schaut. Doch pessimistisch zu werden, ist keine Lösung, denn der Pessimismus führt zu Passivität und Stillstand. Ein Plädoyer für eine konstruktive Einstellung zur Zukunft, den Possibilismus.
Ist das Glas halb voll oder halb leer? Sorry, wir haben es gerade zerschlagen.
Wir werden meistens in Optimisten und Pessimisten kategorisiert. Die „Good vibes only“-Bewegung, bei der das eigene „Mindset“ – ich kann diesen Begriff nicht mehr hören – positiv sein muss, egal wie schrecklich die Lage ist. Der funktionale Pessimismus, bei dem man alles schlecht sieht, weil man dann nicht enttäuscht werden kann. Das ist heute so etwas wie der Mainstream. Und dann gibt es noch die vielen Freizeit-Apokalyptiker, die herumlaufen und verkünden, dass es eh nicht schade ist um die Menschheit und die Zukunft. Ende Gelände, so oder so!

Untergang als selbsterfüllende Prophezeiung

Die Jammerbereitschaft und Negativität haben ungeahnte Ausmaße angenommen. Der Untergang wird zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Vor allem in Deutschland sollten wir wissen, wie gefährlich diese Denkweise sein kann.
Das grundlegende Problem ist, dass wir uns gerade in einer – vorsichtig gesagt – schwierigen Phase der Menschheit befinden. In einer Omnikrise, in der sich die verschiedenen Krisen nicht nur überlappen wie Pfannkuchen, sondern sich gegenseitig aufheizen.
Zurzeit gehen viele der Zukunftsindikatoren wie Lebenserwartung, Tote durch Kriege und Wirtschaftswachstum ins Negative. Das Internet versprach uns alle zu verbinden, hat aber eher in einer Art Höllenmaschine für viel Abartiges und Elon Musk geendet. Wir hatten eine tolle Zeit des Fortschritts. Das Versprechen eines „Besser als früher“ galt für sehr lange Zeit. Das scheint vorbei zu sein, und alle wollen wieder husch ins Körbchen der Vergangenheit zurück. Niemals war es so schön wie früher.

Die Pessimisten haben im Moment zu viel Munition

Die Pessimisten haben im Moment einfach zu viel Munition. Jede Talkshow zeigt, was für Auswirkungen das auf unseren gesellschaftlichen und politischen Diskurs hat. Deswegen brauchen wir einen neuen Zugang zur Zukunft: den Possibilismus. Diese Weltsicht ist davon überzeugt, dass Wandel möglich ist, denn wir Menschen sind in unseren Entscheidungen frei.
Was wir allerdings nicht besitzen, ist ein ausreichendes Maß an Selbstwirksamkeit. Die Pessimisten beharren auf dem Stillstand oder der Flucht in die Vergangenheit, weil alle konstruktiven Vorschläge doch „sowieso unmöglich“ sind. Die Optimisten hingegen müssen per se nichts unternehmen, weil doch sowieso schon alles gut ist. Ins Machen kommt deswegen keines dieser beiden Lager, nur gut streiten können sie miteinander.
Ein bekannter Befürworter des modernen Possibilismus war der 2017 verstorbene schwedische Arzt Hans Rosling, eine Ikone der Big-data-Forschung. Possibilisten sind Menschen, die die Augen nicht vor dem Fortschritt der Welt verschließen. Die offen sind für das, was wir als Zivilisation schon geleistet haben, und mehr davon wollen. Es kommt von dem englischen Begriff der possibility, also der Möglichkeit. Die Möglichkeit, dass wir als Menschheit doch nicht dem Untergang geweiht sind, sondern auf kurz oder lang kooperative soziale Wesen sind, die ihre Umwelt und Gesellschaft durchwegs verbessert haben und verbessern werden.

Eine gehörige Dosis Jammerverzicht

Das hat nichts mit blindem Optimismus zu tun, sondern mit Daten. Kindersterblichkeit, Armut, Lebenserwartung, alles Statistiken, die global gesehen durchwegs besser geworden sind. Eine konstruktive Weltsicht, die diese Erfolge anerkennt und sich fragt, welche Möglichkeiten haben wir in unserer jetzigen Krisenphase, um die Zukunft besser zu gestalten. Genau das braucht die Welt – und vor allem Deutschland.
Am Ende ist die Therapie, die uns der Possibilismus lehrt relativ klar: ein Anerkennen unserer Fortschritte, zahlenbasierte Konstruktivität und eine gehörige Dosis Jammerverzicht. Kurzum: Macht was! Genörgelt wird sowieso schon genug.

Tristan Horx ist Trend- und Zukunftsforscher der „Gen Y - Digitale Native“. Er arbeitet als Autor, Dozent, Referent, Podcaster, Kolumnist, Mitgründer und Frontman von „The Future: Project“. Außerdem ist er Dozent an der SRH Hochschule Heidelberg und an der Fachhochschule Wieselburg sowie seit 2019 Kolumnist bei der Kronen Zeitung und Esquire Magazine.

Eine junger Mann in einem Schwarzen Mantel.
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