"Postislamistische Generation"

Werner Schiffauer im Gespräch mit Jürgen König |
Nach Meinung des Ethnologen Werner Schiffauer bekennt sich eine neue Strömung der islamischen Gemeinschaft Milli Görus offener zur Demokratie. Sie habe verstanden, "dass man hier ankommen muss", sagt der Kulturforscher.
Jürgen König: Milli Görüs ist eine islamische Gemeinschaft, die sich, nach eigener Darstellung, "als kompetenter Ansprechpartner für Gesellschaft und Politik anbietet, um gemeinsam Konzepte und Maßnahmen zum Schutz der Grundrechte der Muslime, der Lösung ihrer Probleme und für die erfolgreiche Integration der Muslime in die europäischen Gesellschaften zu erarbeiten und umzusetzen". Milli Görüs ist in vielen europäischen Ländern aktiv, ist vertreten auch im zentralen Asien, in Australien und Nordamerika. In vielen Ländern ist Milli Görüs wegen islamistischer, auch antisemitischer, antidemokratischer Tendenzen umstritten, in Deutschland, in einigen Ländern, wird Milli Görüs vom Verfassungsschutz beobachtet. "Eine Ethnographie der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs" hat jetzt Werner Schiffauer geschrieben, er ist Professor für Vergleichende Kultur- und Sozialanthropologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder und jetzt unser Gast. Ich freue mich sehr. Willkommen!

Werner Schiffauer: Hallo!

König: "Nach dem Islamismus" haben Sie Ihr Buch überschrieben – danach wäre die Zeit, in der Milli Görüs islamistisch war, vorbei?

Schiffauer: Genaugenommen verweist der Titel "Nach dem Islamismus" auf eine Strömung innerhalb der Milli Görüs, Milli Görüs Europa, um es gleich abzugrenzen, es ist eine transnationale Gemeinschaft, und hier allerdings um eine Strömung, die sehr stark ist, von der die zentralen Leitungsstellen in Europa und auf der Regionalebene die Milli Görüs geprägt wird.

König: Sie schreiben von einer zweiten Generation bei Milli Görüs, ich vermute, das meinen Sie mit dieser starken Strömung, die zwar weiter an einem, wie es heißt, rechtgeleiteten Islam festhalte, die aber, wie Sie schreiben, ihren aggressiven Antisemitismus hinter sich gelassen hätte. Man würde sich viel offener zur Demokratie bekennen, auch zum deutschen Grundgesetz, und sei auf dieser Grundlage dabei, einen europäischen Islam zu erarbeiten. Das ist ja doch, wenn man bedenkt, wie viel Kritik an Milli Görüs geäußert wurde, eine große These. Wo haben Sie recherchiert, mit wem gesprochen, welche Belege gefunden, dass Sie das so sagen können?

Schiffauer: Also, ich habe meine Recherchen in der Milli Görüs um 2000 aufgenommen, also vor dem 11. September, und ich habe seitdem in den vergangenen zehn Jahren immer wieder mit Vertretern der Milli Görüs auf den verschiedensten Ebenen gesprochen, also mit der Führungsspitze in Köln, auf der Regionalleiterebene und in den einzelnen Gemeinden, und habe in dieser Zeit mir ein Bild von den Strömungen erarbeitet, die in der Milli Görüs im Augenblick vorherrschend sind. Und da ist nun eine starke Strömung, die von der zweiten Generation – von den Intellektuellen der zweiten Generation, um genauer zu sein – getragene postislamistische Strömung. Sie lässt sich erklären als eine Strömung, die in der ganzen islamischen Welt verbreitet ist. Also, der Postislamismus ist kein europäisches Phänomen, er ist überall verbreitet, er ist verbunden mit einer Skepsis an dem ursprünglichen, islamistischen Programm, einen islamischen Staat errichten zu wollen. Das waren nicht zuletzt die Entwicklungen im Iran, die zu den Zweifeln beigetragen haben. Die Beobachtung war, dass eine Tugendrepublik, die ein islamischer Staat ist, nicht in der Lage ist, die Gläubigen zu überzeugen. Es gab eine Desillusionierung, die an der Verbandelung von Islam und Macht, politischer Macht zusammenhängt. Und das hat diese postislamistische Generation dazu gebracht, nach Alternativen zu suchen, unter anderem die jungen Mitglieder der zweiten Generation der Milli Görüs, und die Modelle, die sie nun für einen säkularen Staat hatten, da war ihnen nun oft die Verfassung der Bundesrepublik interessant erschienen, einfach wegen der positiven Religionsneutralität, die – anders als die französische Verfassung – einen Raum für Religion in der Öffentlichkeit vorsieht.

König: Sie haben vorhin gesagt, Herr Schiffauer, dass Sie auf vielen Ebenen der islamischen Gemeinde Milli Görüs Gespräche geführt hätten. Ein Kritiker, Eberhard Seidel, in der "TAZ", hat Ihnen vorgeworfen, Sie würden, wie er es nennt, auf schmaler empirischer Basis arbeiten, weil Sie im Wesentlichen, wie er schreibt, vor allem den Generalsekretär Oguz Ücüncü und seinen Stellvertreter Mustafa Yeneroglu sowie Mehmet Sabri Erbakan, die Neffen des Gründers der Bewegung, befragt hätten, und er fragt sich, also Eberhard Seidel, inwieweit das tatsächlich ausschlaggebend oder aussagekräftig sein kann hinsichtlich der Verbreitung dieser Gedanken der zweiten Generation, wie Sie sie benannt haben, ob nicht die Grundorganisation letztlich doch die alte geblieben sei. Was würden Sie antworten?

Schiffauer: Ich habe außer mit den dreien, die eine der wichtigen Quellen waren – und das war ganz klar, denn sie vertreten sozusagen die Milli Görüs in Deutschland an maßgeblicher Stelle – qualitative Interviews mit etwa 50 Personen der zweiten Generation geführt und mich in den Gemeinden in Berlin, Köln, Bremen, Hamburg umgeschaut näher und dann eben in mehreren kleinen, Stuttgart, umgeschaut und dort auch einen Eindruck von dem Geschehen vor Ort gehabt. Es ist wahr, dass in den Lokalgemeinden oft eine Honoratiorenschicht der ersten Generation noch das Sagen hat. Das ist die Schicht, die die Gemeinde gegründet hat und auch finanziell trägt. Es ist aber ebenso wahr, dass sich sozusagen auf Regional- wie auf europäischer Ebene, also auf der Ebene des Dachverbands, diese postislamistische Generation durchgesetzt hat, sehr zum Leidwesen vom damaligen Vorsitzenden Mehmet Erbakan, Erbakan in der Türkei, der immerhin drei Mal versucht hat, diese Leitungsspitze loszuwerden. Was Eberhard Seidel nicht erklären kann, ist, warum das nicht geglückt ist. Und das zeigt, dass diese postislamistische Führungsgeneration doch verankert ist, doch ihre Machtbasis hinter sich hat und vor allem diejenigen vertritt, die sozusagen die Eliten dieser Gemeinde sind. Sie macht das in Einvernehmen und mit stillschweigender Billigung auch der konservativen Kreise, der ersten Generation, die nach wie vor Erbakan-Anhänger sind, aber auch verstanden haben, dass man hier ankommen muss.

König: Seidel schreibt auch, dass doch möglicherweise diese zweite Generation im Grunde genommen genau dasselbe wolle wie die erste, nur eben heute sehr viel eloquenter auftreten könne, er nennt das einmal sogar, wie Wölfe im Schafspelz daherkommen. Dem würden Sie vermutlich hart widersprechen?

Schiffauer: Nun, das ist die klassische Figur, die in dieser postislamistischen Generation die schöne Fassade sieht, die gegenüber der deutschen Öffentlichkeit auftritt. Dieses Bild scheint mir schlicht falsch zu sein. Es handelt sich um harte Richtungskämpfe zwischen zwei Gruppen, und dass es sich um Richtungskämpfe handelt, zeigt allein die Versuche, diese Gruppe loszuwerden und diese Führungsspitze auszutauschen. Eine schöne Fassade lässt man vor dem Gebäude kleben, sie ist nützlich.

König: Aber gilt nicht weiterhin, dass Milli Görüs eine gerechte Ordnung anstrebt, die auf dem Islam basiert und alle Lebensbereiche umfasst? Will sagen: Lassen sich traditioneller Islam und Demokratie mit all ihren Mechanismen und Prinzipien wirklich fusionieren?

Schiffauer: Gerade dieses Unbehagen an dieser Detailarbeit, wie denn ein islamischer Staat nun aussehen sollte in einer Zeit, in der jeder real existierende, islamische Staat nicht die Hoffnung nach mehr Gerechtigkeit transponiert, die diese Generation damit verbunden hat – diese Frage war nun ein Anlass für diese zweite Generation, nachzudenken und neu sozusagen Konzepte wie Demokratie, säkularer Staat, Rechtsstaatlichkeit et cetera zu entdecken. Und das war sensationell, denn diese Entdeckung wurde ja zunächst mal intern eingebracht, in die innerislamischen Diskussionen. Es war kein Lippenbekenntnis gegenüber der deutschen Öffentlichkeit, die interessierte damals gar nicht, sondern innerhalb der islamischen Diskussion wurde dann das eingebracht und das war ungefähr so sensationell, wie wenn der CSU-Jugendverband auf einmal die islamische Finanzordnung entdecken würde als Heilmittel gegen die Finanzkrise gegenwärtig. Das Befremden aufseiten der Honoratioren bei der CSU wäre genauso groß, wie das aufseiten der Honoratioren in der Milli Görüs es war.

König: Milli Görüs hat ja viele Negativschlagzeilen gemacht. Da wurde berichtet, Aussteiger würden unter Druck gesetzt, seien körperlich misshandelt worden; Mitglieder würden von islamischen Holdings mit tatkräftiger Unterstützung von Milli-Görüs-Funktionären um ihre Ersparnisse geprellt; Journalisten, die da berichten wollten, seien auch unter Druck gesetzt worden, mit Prozessen überzogen worden. Sie gehen auf das, soweit ich gesehen habe, gar nicht ein, zitieren auch keine Kritiker von Milli Görüs.

Schiffauer: Ich gehe auf circa 20 Seiten ziemlich detailliert auf die verschiedenen Sachen ein. Die große Frage bei solchen Sachen ist mir, wie sich der Zentralverband dazu stellt. Also, man muss all diese Facetten ... Wenn man sie im Detail anschaut, so erscheint ein Netz von Sachen, wo sich mit Sicherheit seitens der Milli Görüs auch problematisch sich verhalten würde, kein Zweifel darüber, aber auf der anderen Seite die Dämonisierung, die dann wieder betrieben wurde von der anderen Seite, doch ziemlich relativiert wird.

König: "Nach dem Islamismus: Eine Ethnographie der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs", das neue Buch von Werner Schiffauer ist jetzt im Suhrkamp Verlag erschienen. Herr Schiffauer, ich danke Ihnen!
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