Jurek Becker: "Am Strand von Bochum ist allerhand los"
Postkarten
Herausgegeben von Christine Becker
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018
398 Seiten, 32,00 Euro
"Mein Fischbrötchen, du alte Berghütte"
Weltbekannt wurde der Autor Jurek Becker mit seinen Romanen wie "Jakob der Lügner". Er war aber auch ein leidenschaftlicher Postkartenschreiber. Seine Witwe Christine Becker hat viele davon gesammelt und jetzt rund 400 veröffentlicht.
Im Zeitalter des weltweiten, täglichen Emailverkehrs kaum noch vorstellbar: da schreibt einer regelmäßig Postkarten. Und zwar nicht von exotischen Stränden, wo es kein WLAN gibt, sondern von jeder Reise und häufig auch aus dem Zimmer nebenan.
Der Schriftsteller und Drehbuchautor Jurek Becker war ein obsessiver Kartenschreiber. Er adressierte sie an seine Freunde, an seine Familie und literarischen Wegbegleiter. Beckers Ehefrau Christine hat nun einen Band mit den Postkarten ihres verstorbenen Mannes herausgegeben. "Am Strand von Bochum ist allerhand los" heißt er und Carsten Hueck hat die Herausgeberin getroffen. Gemütlich – wie einst in der Fernsehserie "Liebling Kreuzberg" – geht es auch in Berlin Steglitz zu. Christine Becker wohnt in einer ruhigen Straße. Ein großzügiger Aufgang, Holztreppe, eine Flügeltür.
Stapel von Postkarten
"Hallo, kommen Sie rein, ich freue mich sehr", sagt Christine Becker. Die Endfünfzigerin, in Jeans und weißer Bluse, wirkt ausgesprochen jugendlich. Sie ist schlank, ihr dunkles Haar hat sie hochgesteckt. Die studierte Germanistin war seit 1986 mit dem Erfinder von "Jakob der Lügner", "Der Boxer", "Amanda herzlos" und eben auch "Liebling Kreuzberg" verheiratet. "Ich mach uns nen Tee", sagt sie. "Oder war das eher ne Metapher, als Sie mir geschrieben haben, wir wollen uns beim Tee zusammensetzen? Earl Grey? Und hier liegen schon alle Karten."
Auf dem großen Esstisch, in fein säuberlich sortieren Stapeln, liegen die Postkarten, die Jurek Becker in den Jahren von 1978 bis sechs Wochen vor seinem Tod im März 1997 geschrieben hat. "Das sind die veröffentlichten", sagt Becker. "Da staunt man, wie wenige das sind. Im Vergleich zu diesen hier, das sind die nicht veröffentlichten."
Von 960 erhaltenen Karten hat Christine Becker ungefähr 400 für das Buch ausgewählt. Das Bildmotiv ist jeweils abgedruckt, Beckers Texte stehen transkribiert daneben. Sofort spürt man, dass dem Autor hier etwas ganz Unnachahmliches gelungen ist. Auf kleinstem Raum entwirft er vergnügliche Geschichten. Beispielsweise sieht man drei mit Badeanzügen bekleidete Damen aus den 50er Jahren übereinander in Hängematten.
Daneben, an die Ehefrau adressiert, ist zu lesen: "Du alter Mietspiegel, Heidelberg ist ein seltsamer Ort. Zuerst habe ich ihn nicht gefunden, dann habe ich mein Hotel nicht gefunden. Dann haben die mich zu einem Parkhaus geschickt, das ich nicht gefunden habe, und aus Rache habe ich danach den Hotelschlüssel verloren. Es ist möglich, dass die Leute bei der Lesung Günter Grass erwarten aber das macht nichts – dann beiße ich die Zähne zusammen und lese Homo Faber. Dein Spätheimkehrer J."
Private Komposition
Jurek Becker komponierte seine Postkarten. Sie waren privat, doch ebenso schriftstellerische Arbeit. Er schrieb den Text in Schulhefte – und übertrug ihn dann auf die Karten, die er auf Vorrat kaufte und auch mit auf seine Reisen nahm. Weil er nicht sicher war, auch unterwegs ein entsprechend skurriles, eigenartiges und amüsant-nachdenkliches Motiv zu finden.
Dazu Christine Becker: "Jahrelang habe ich so daneben gestanden, wenn er diese Kartenständer gedreht und gewendet hat, bis er endlich irgendwas fand, was Seltsames, manchmal so ein bisschen Zurückgelassenes. Die übliche Ansichtskarte, die hat er gemieden. Es sei denn sie war wirklich ganz, ganz grauslich oder auffallend scheußlich oder kitschig."
Zum Kreis der Adressaten, die Jurek Beckers lakonischen Witz schätzten, gehörten sein langjähriger Freund, der Schauspieler Manfred Krug, Elisabeth Borchers, seine Lektorin im Suhrkamp Verlag, der Verleger Siegfried Unseld und seine Sekretärin Burgel Zeeh, ein alter Schulfreund, Beckers geschiedene Frau, die Söhne aus erster Ehe, dann Christine Becker und der gemeinsame Sohn Jonathan.
"Günter Grass, der hat nicht eine einzige Postkarte gekriegt, der hätte nicht sagen können, dass Jurek ein passionierter Postkartenschreiber war", sagt Christine Becker. "Wahrscheinlich war sich Jurek nicht sicher, ob sein Humor dort an die richtige Stelle gerät."
Spass für Autor und Adressat
Beckers Karten sollten unbedingt Spaß machen, dem Adressaten wie dem Autor. Manchmal schrieb er sogar aus dem Arbeitszimmer an seine Frau, trug die Karte zur Post und Christine Becker fand sie am nächsten Morgen im Briefkasten. Eine ihrer Lieblingskarten schrieb er auf einer gemeinsamen Reise. Sie sagt: "Also da sitzt so ne Dame, ich glaube, wir befinden uns in den 50er-Jahren, tippe ich mal von dem Mobiliar, und das ist offenbar ein Empfangsdame irgendeines Lebensmittelkonzerns, und die sitzt da quietschvergnügt hinter ihrem Tresen mit ganz gräuslichen Topfpflanzen und über ihr hängt ein Globus, aber das Witzige an dem Globus ist, der ist völlig aus der Form geraten, der hat irgendwie mehr was von einem Ei, und dann rund um diesen Globus spannt sich die Produktekette der Firma.
Ich finde es irrsinnig komisch. Wollen wir mal den Text testen, ob der auch so komisch ist: ok, die ist also an mich: ´Du alte Brummfiedel. Heute sind wir den halben Tag durch Hawai gefahren und es hat irrsinnig geregnet. Du hast dich nicht wohl gefühlt und pausenlos so getan, als ob ich regne. Ich liebe dich trotzdem.` Ist doch komisch."
Dialog mit Jurek Becker
Durch die Zusammenstellung des liebevoll edierten Bandes ist Christine Becker, mehr als 20 Jahre nach Jurek Beckers Tod, immer noch in einem zärtlich-witzigen Dialog mit dem Schriftsteller. Auch wenn sie sich manchmal ärgert. Karten halten eben länger als Emails.
"Da geht’s los! Das ist die erste, wo er mich so blöd anredet, muss ich jetzt mal sagen. Wenn wir jetzt ins Jahr 85/86 gehen, da heiße ich noch ´Liebste, sehr geehrtes Schätzchen, hochverehrtes Schätzchen`, und irgendwann kommt er doch auf die Idee, dass er mich nicht mehr nennen kann ´meine Liebste` oder ´liebste Christine` oder ´du Süße`, sondern jetzt muss es irgendwas irrsinnig Originelles sein, nämlich "du alte Brummfidel", und ab da kriege ich nicht mehr eine einzige Karte mit einer vernünftigen Anrede. Ich kann beim besten Willen nicht finden, dass "Du liebes Eisbein" ein Kosename ist. ´Mein Fischbrötchen, du alte Berghütte, du altes Silberputztuch`, na vielen Dank!"
"Da geht’s los! Das ist die erste, wo er mich so blöd anredet, muss ich jetzt mal sagen. Wenn wir jetzt ins Jahr 85/86 gehen, da heiße ich noch ´Liebste, sehr geehrtes Schätzchen, hochverehrtes Schätzchen`, und irgendwann kommt er doch auf die Idee, dass er mich nicht mehr nennen kann ´meine Liebste` oder ´liebste Christine` oder ´du Süße`, sondern jetzt muss es irgendwas irrsinnig Originelles sein, nämlich "du alte Brummfidel", und ab da kriege ich nicht mehr eine einzige Karte mit einer vernünftigen Anrede. Ich kann beim besten Willen nicht finden, dass "Du liebes Eisbein" ein Kosename ist. ´Mein Fischbrötchen, du alte Berghütte, du altes Silberputztuch`, na vielen Dank!"