Afrikanische politische Philosophie. Postkoloniale Positionen
Herausgegeben von Franziska Dübgen und Stefan Skupien
Suhrkamp, Berlin 2015
353 Seiten, 18 Euro
Ina Kerner: Postkoloniale Theorien. Zur Einführung
Junius Verlag, Hamburg 2012
208 Seiten, 13,90 Euro
Transkulturelle Politische Theorie. Eine Einführung
Herausgegeben von Sybille de la Rosa, Sophia Schubert und Holger Zapf
Springer VS, Heidelberg 2016
306 Seiten, 44,99 Euro
Gerechtigkeit aus Sicht des Südens
35:56 Minuten
Reich hilft Arm: Dieses Ideal ausgleichender Gerechtigkeit ist ein Credo der Entwicklungshilfe. Aber Ursachen für Armut werden dabei ausgeblendet, alte Abhängigkeiten zwischen Süd und Nord zementiert, kritisiert die Philosophin Franziska Dübgen.
Ein Kind fällt in einen Teich und droht zu ertrinken. Ein Spaziergänger kommt zufällig vorbei und erkennt die Gefahr. Kaum jemand würde wohl bezweifeln, dass diese Person die Pflicht hat, zu helfen und das Kind zu retten.
In den 1970er-Jahren entwarf der australische Philosoph Peter Singer dieses Szenario, um möglichst eindringlich vor Augen zu führen, dass die Bevölkerung reicher Industrienationen moralisch verpflichtet sei, Menschen im globalen Süden gegen Armut und Hunger Hilfe zu leisten – sei es durch private Spenden oder durch staatliche Hilfsprogramme.
Armut ist kein Unfall
Singers Essay "Hunger, Wohlstand und Moral" wird bis heute viel zitiert, wenn es darum geht, Entwicklungshilfe ethisch zu begründen. Dabei zeuge der Text von einer fragwürdigen Sicht auf das Verhältnis der Länder, die solche Hilfe leisten, zu denen, die sie erhalten, sagt die Philosophin Franziska Dübgen. Schon im Vergleich der Notleidenden mit einem Kind komme eine zutiefst paternalistische Sichtweise zum Ausdruck:
"Das Kind ist vor allem Opfer, es kann sich nicht selbst helfen und bedarf der Hilfe des Erwachsenen. Zudem ist problematisch, dass hier Hungersnot wie ein Unfall dargestellt wird. Wir wissen aus der sozialwissenschaftlichen Literatur, dass Hungersnöte oft ein Produkt von Verteilungskonflikten sind, von militärischen Auseinandersetzungen, auch von einem bewussten Zurückhalten von Hilfe. Und diese komplexen geopolitischen oder auch machtpolitischen Konstellationen werden in einer solchen Analyse überhaupt nicht mitgedacht."
Auch die Frage, inwiefern der "Erwachsene" dazu beigetragen haben könnte, dass es überhaupt zu der Notsituation kam, bleibe in Singers Allegorie außen vor, so Dübgen. Tatsächlich hänge Armut im globalen Süden jedoch oft mit Folgen des Kolonialismus zusammen, ebenso wie mit asymmetrischen Handelsbedingungen und mit aktuellen Regeln, wer welche Grenzen überschreiten dürfe und wer nicht.
"Europa produziert Ungerechtigkeit im Süden mit"
"Wir sind oft durchaus daran beteiligt, Ungerechtigkeiten im globalen Süden zu produzieren", sagt Dübgen, "insofern sollte ein Diskurs der Hungersnot und Armut problematisiert, auch diese eigene Komplizenschaft in Herrschaftsstrukturen mit reflektieren."
Gemeinsam mit der Politikwissenschaftlerin Ina Kerner leitet Franziska Dübgen das DFG-Forschungsprojekt "Diversität, Macht und Gerechtigkeit. Transkulturelle Perspektiven". In Zusammenarbeit mit Universitäten aus Südafrika, Tunesien und Marokko wollen sie wissenschaftliche Debatten über Gerechtigkeit um Perspektiven aus dem globalen Süden erweitern, die dort bisher kaum vorkommen.
Denn bisher werden liberale Gerechtigkeitstheorien, die eine bestimmte Art von Nord-Süd-Politik legitimieren, immer noch vor allem in Europa und den USA geprägt. Daraus ergeben sich blinde Flecken, sagt Dübgen: "Der Erfahrungshorizont der Versklavung, der Ausbeutung, aber auch vor allem der starken kulturellen Abwertung wird in diesen Gerechtigkeitstheorien nicht angemessen reflektiert."
Ubuntu: eine Philosophie des Gemeinsinns
Alternative Konzepte von Gesellschaft und Gerechtigkeit könnten unser westliches Verständnis von Individualismus produktiv herausfordern, sagt Franziska Dübgen. So sehe etwa die südafrikanische Ubuntu-Philosophie den Menschen viel stärker eingebunden in Beziehungen zu anderen Menschen und verstehe uns als Teil der Natur, auf die wir angewiesen sind. Daraus ergeben sich auch andere Vorstellungen von Gerechtigkeit, so Dübgen:
"In der Ubuntu-Philosophie wird es als erstrebenswert erachtet, wenn in einer Gesellschaft nicht zu große soziale Unterschiede herrschen, ein idealer Horizont ist eine möglichst hohe sozioökonomische Gleichheit. Insofern sollte gerechtigkeitsorientierte Politik sich auf die faktischen Bedingungen von gleicher Teilhabe konzentrieren: Wohnraum, Gesundheitsvorsorge, Bildung."
Ein wesentliches Prinzip der Ubuntu-Philosophie sei zudem die möglichst breite Beteiligung an Entscheidungen, die die Gemeinschaft betreffen. "Oft wird das vorgestellt als die traditionelle Dorfgemeinschaft, wo sich alle zusammensetzen und über die Probleme vor Ort diskutieren", erklärt Dübgen. Anders als in unserer Parteiendemokratie gelte dabei häufig nicht das Mehrheitsprinzip, sondern es werde ein Konsens gesucht, um sicherzustellen, "dass möglichst viele Interessen berücksichtig werden."
Konsensdemokratie - ein Modell für den Westen?
Der ghanaische Philosoph Kwasi Wiredu hat aus dieser Tradition den Entwurf einer "Konsensdemokratie" abgeleitet, die auch auf der Ebene von Nationalstaaten funktionieren soll. Als Ghana sich Anfang der 1990er-Jahre eine neue Verfassung gegeben hat, seien solche Ideen in das Verfahren mit eingeflossen, erklärt Franziska Dübgen, "indem etwa traditionelle Sprecher, die Chiefs, als Ansprechpartner von Recht und Politik institutionell verankert werden sollten." Heute verfügt Ghana über einen Nationalen Rat der Chiefs und zahlreiche regionale Räte.
In dem von Dübgen mit herausgegebenen Band "Afrikanische politische Philosophie" empfiehlt Kwasi Wiredu sein stärker auf Kooperation statt Konfrontation setzendes Konzept der Konsensdemokratie als ein Modell, das auch für westliche Demokratien fruchtbar werden könnte. Die im deutschsprachigen Raum erst beginnende Diskussion über solche Ideen wollen Franziska Dübgen und Ina Kerner durch den verstärkten Austausch mit wissenschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren aus dem globalen Süden weiter fördern.
(fka)
Außerdem in dieser Ausgabe von "Sein und Streit":
Kommentar: Malerin Angelika Kauffmann - eine Influencerin avant la lettre?
"Künstlerin, Powerfrau, Influencerin", so kündigt der Düsseldorfer Kunstpalast Angelika Kauffmann an. Interessantes Detail: Die Malerin lebte im 18. Jahrhundert. Und war deshalb ganz bestimmt keine "Influencerin", ärgert sich Andrea Roedig.
"Weltbilder"-Salon Sophie Charlotte: Die Aktualität kolonialer Grenzen
Im 19. Jahrhundert haben Europäer weite Teile Afrikas unter sich aufgeteilt. Dabei haben sie viele Grenzen neu gezogen. Wie groß die Auswirkungen bis heute sind, unterschätzen wir häufig. Constantin Hühn berichtet von einem Berliner Salongespräch zum Thema.