Postmoderne aus Algerien
Boualem Sansal ist der letzte kritische Schriftsteller Algeriens, der sich trotz Morddrohungen weigert, ins Exil zu gehen. Im Mittelpunkt seines Romans "Harraga" stehen eine in Algier lebende Kinderärztin und ein schwangeres Mädchen, das plötzlich verschwindet. Inhaltlich ist das Buch keine leichte Kost, wäre da nicht Sansals genialer Sinn für die Tragikkomödie.
Offiziell ist Algerien eine Demokratie, in Wirklichkeit teilen sich Geheimdienst, korrupte Bürokraten, Militär und Islamisten die Macht; die Lage verschlimmert sich. In Algerien hat eine Auswanderungswelle eingesetzt, ihr Ziel Europa; das sind also jene Menschen, die wir in den TV-Nachrichten als illegale Einwanderer auf Booten im Mittelmeer sehen.
Der letzte kritische Schriftsteller Algeriens, der sich allerdings trotz massiver Morddrohungen weigert, das Land zu verlassen und ins Exil zu gehen, ist Boualem Sansal, Jahrgang 1949, von Beruf eigentlich Ingenieur, bis 2003 ein hoher Beamter im algerischen Industrieministerium, dann wurde er gekündigt. Der Grund dafür waren seine kritischen Romane.
Erst 1999, im Alter von 50 Jahren, begann Sansal zu schreiben, seine vier Romane sind auch auf Deutsch erschienen, sein letzter heißt "Harraga". Die Harragas, das sind jene, die, wörtlich übersetzt, "die Straße hinter sich verbrennen", - also auf Deutsch jene, die hinter sich alle Brücken abreißen. So nennt man in Algerien die Auswanderer, die legal oder eben meist illegal als Bootsflüchtlinge das Land verlassen oder am liebsten verlassen würden, also die meisten der 33 Millionen Algerier, mit Ausnahme jener, die die Macht haben. "Harraga" klingt fast wie Harakiri und ist ebenso schrecklich.
Zwei Hauptfiguren hat der Roman, einmal die Ich-Erzählerin Lamia, eine Kinderärztin, Ende 30, die allein in der Altstadt von Algier lebt. In deren Leben tritt unversehens ein 16-jähriges Mädchen, das Chérifa heißt und im 6. Monat schwanger ist. Die Adresse hat sie vom Bruder der Ärztin bekommen, ein Harraga, der als verschollen gilt. Cherifa nistet sich also für kurze Zeit bei der Ärztin ein, dann verschwindet sie wieder.
Der Roman entwickelt sich zunächst fast unmerklich aber mit starkem Sog zu einer Art Thriller: Die Ärztin versucht das verschwundene Mädchen aufzuspüren, was ihr auch gelingt. Dabei erfährt sie die Geschichte dieses Kindes, das u.a. in der Macho-Welt Algeriens als minderjährige Prostituierte für einflussreiche Freier benutzt worden war.
Inhaltlich ist der Roman keine leichte Kost, wäre da nicht Sansals genialer Sinn für die Tragikkomödie. Mit schwarzem Humor, Zynismus, Ironie, Satire und Situationskomik beschreibt Sansal zum Beispiel jene 16-jährige Schwangere, die sich, - eigentlich eine missbrauchte Minderjährige -, selbst aber wie ein Starlet empfindet:
Ein Alien, Lolita-Typ, Schmollmund, gekleidet wie Mini Maus, eine Kakophonie der Farben, geschminkt bis zum Anschlag, mit einem radioaktiven Parfüm á la Tschernobyl, ein wandelnder Skandal, der auf unerklärliche Weise Allahs Zorn entgangen ist."
In Frankreich wird Sansal als "Erneuerer der Sprache" gefeiert. Er schreibt "postmodern", das heißt, er macht wie "Alice im Wunderland", was er will. Er benutzt Sprache in jeder Form: Lyrik, die an Paul Celan erinnert, Poesie wie aus "1001 Nacht", Umgangssprache und Comic-Lautmalerei, Slapstick, intertextuelle Literaturverweise und auch das Fernsehprogramm.
Das ist Literatur, die einen schwindlig macht, - ein unglaublicher Genuss. Sansals Sprache erinnert an die der großen Südamerikaner, besonders an die des "magischen Realismus" von Gabriel García Márquez.
Boualem Sansal: "Harraga"
Übersetzt von Riek Walter
Merlin Verlag 2007
280 Seiten. 22,90 €
Der letzte kritische Schriftsteller Algeriens, der sich allerdings trotz massiver Morddrohungen weigert, das Land zu verlassen und ins Exil zu gehen, ist Boualem Sansal, Jahrgang 1949, von Beruf eigentlich Ingenieur, bis 2003 ein hoher Beamter im algerischen Industrieministerium, dann wurde er gekündigt. Der Grund dafür waren seine kritischen Romane.
Erst 1999, im Alter von 50 Jahren, begann Sansal zu schreiben, seine vier Romane sind auch auf Deutsch erschienen, sein letzter heißt "Harraga". Die Harragas, das sind jene, die, wörtlich übersetzt, "die Straße hinter sich verbrennen", - also auf Deutsch jene, die hinter sich alle Brücken abreißen. So nennt man in Algerien die Auswanderer, die legal oder eben meist illegal als Bootsflüchtlinge das Land verlassen oder am liebsten verlassen würden, also die meisten der 33 Millionen Algerier, mit Ausnahme jener, die die Macht haben. "Harraga" klingt fast wie Harakiri und ist ebenso schrecklich.
Zwei Hauptfiguren hat der Roman, einmal die Ich-Erzählerin Lamia, eine Kinderärztin, Ende 30, die allein in der Altstadt von Algier lebt. In deren Leben tritt unversehens ein 16-jähriges Mädchen, das Chérifa heißt und im 6. Monat schwanger ist. Die Adresse hat sie vom Bruder der Ärztin bekommen, ein Harraga, der als verschollen gilt. Cherifa nistet sich also für kurze Zeit bei der Ärztin ein, dann verschwindet sie wieder.
Der Roman entwickelt sich zunächst fast unmerklich aber mit starkem Sog zu einer Art Thriller: Die Ärztin versucht das verschwundene Mädchen aufzuspüren, was ihr auch gelingt. Dabei erfährt sie die Geschichte dieses Kindes, das u.a. in der Macho-Welt Algeriens als minderjährige Prostituierte für einflussreiche Freier benutzt worden war.
Inhaltlich ist der Roman keine leichte Kost, wäre da nicht Sansals genialer Sinn für die Tragikkomödie. Mit schwarzem Humor, Zynismus, Ironie, Satire und Situationskomik beschreibt Sansal zum Beispiel jene 16-jährige Schwangere, die sich, - eigentlich eine missbrauchte Minderjährige -, selbst aber wie ein Starlet empfindet:
Ein Alien, Lolita-Typ, Schmollmund, gekleidet wie Mini Maus, eine Kakophonie der Farben, geschminkt bis zum Anschlag, mit einem radioaktiven Parfüm á la Tschernobyl, ein wandelnder Skandal, der auf unerklärliche Weise Allahs Zorn entgangen ist."
In Frankreich wird Sansal als "Erneuerer der Sprache" gefeiert. Er schreibt "postmodern", das heißt, er macht wie "Alice im Wunderland", was er will. Er benutzt Sprache in jeder Form: Lyrik, die an Paul Celan erinnert, Poesie wie aus "1001 Nacht", Umgangssprache und Comic-Lautmalerei, Slapstick, intertextuelle Literaturverweise und auch das Fernsehprogramm.
Das ist Literatur, die einen schwindlig macht, - ein unglaublicher Genuss. Sansals Sprache erinnert an die der großen Südamerikaner, besonders an die des "magischen Realismus" von Gabriel García Márquez.
Boualem Sansal: "Harraga"
Übersetzt von Riek Walter
Merlin Verlag 2007
280 Seiten. 22,90 €