Potpourri der Erzählmittel

Von Christian Gampert · 10.11.2010
Der berühmte Roman "Stiller" von Max Frisch über die Identität ist eine große Selbstbefragung – und als solche nicht so einfach auf die Bühne zu übertragen. Die junge Regisseurin Heike Goetze hat das in Zürich aber ganz achtbar hinbekommen.
Ein Problem junger Regisseure scheint es zu sein, dass sie ständig eine Vielzahl von Stilmitteln vorzeigen müssen, wie beim Bewerbungsgespräch: Dauernd soll man sehen, was sie alles drauf haben. Während Frischs Stiller sagt, er sei nicht Stiller, sagt die Regisseurin abendfüllend: Ich bin Heike Goetze, und ich kann fast alles – von Video bis Maskenspiel, vom Chorsprechen bis zum musikalischen Leitmotiv. Das ist schön, verrät aber auch eine große Unsicherheit, welches denn nun die adäquaten Erzählmittel wären.

Die Bühnenbildnerin Bettina Meyer, die über etwas mehr Erfahrung verfügt, hat als Grundsituation einen wunderbaren, Marthalerschen Wartesaal gebaut, das muffige Foyer eines 50er-Jahre-Hotels mit Sesseln und Stehlampen, irgendwo da oben in Davos – Stillers spröde Ehefrau Julika muss ja zur Kur in die Berge. Hinter den Sesseln eine Betonwand mit Zelle, wo der identitätsflüchtige Stiller festgehalten wird, darüber Andeutungen von Schwimmbad und Familienbungalow und ein Alpenpanorama.

Hier untersuchen nun trübe helvetische Funktionäre, ob es sich bei dem festgenommenen Amerikaner James Larkin White um den Schweizer Staatsbürger Anatol Stiller handelt. Der Gefängniswärter spricht Schwyzerdütsch, spielt aber nebenbei virtuos Klavier, der Anwalt ist eine hochgedrehte Juristen-Karrikatur, der Staatsanwalt ein braver Anpasser. Die bürokratische Ebene des Wer-ist-wer wird aber relativ bald abgehakt, die Inszenierung mischt die Zeitebenen und taucht ein in das Spiel mit der Erinnerung.

Stiller – der sehr präsente Frank Seppeler - wird in Zürich nicht als einsamer Selbstsucher gezeigt, sondern als einer, der in ein Geflecht von Beziehungen eingebunden ist – und sich darin neu zu erfinden hofft. Und der sich ständig fragt: Warum war und bin ich so jämmerlich? Warum kann ich in Beziehungen nicht leben?

Die Julika der Ursula Doll ist in Zürich quasi von Anfang an lungenkrank, ein sphärisches, engelhaftes Wesen – das macht die Figur kleiner, als sie sein könnte. Ihre Tbc-Röntgenbilder werden von der Regie so hintereinandergeschnitten, dass aus den Lungenflügeln tatsächlich der Flügelschlag eines – Benjaminschen? - Engels zu entstehen scheint. Zu allem Überfluss muss sie, die von Beruf Tänzerin ist, ständig sinnlos-balletteus durch die Gegend schweben.

Stillers Geliebte Sibylle dagegen ist bei Julia Kreusch eine energische Frau, die auch erotisch zupacken kann – also eine echte Alternative. Julikas biblische Aufforderung an den Ehemann – "Du sollst dir kein Bildnis machen", also: du sollst mich, meine Identität, nicht in deine vorgefertigten Meinungen über mich pressen – diese Aufforderung wird von der Regisseurin leider nicht beachtet: Aie erfindet immer neue Schau- und Sinnbilder, um uns die Beziehungen moralisch zu erklären.

Nur selten ergeben sich daraus szenisch bezwingende Situationen – wie jene, in der Stiller und seine Affäre Sibylle sich erotisch zu umarmen beginnen, die leidende Ehefrau aber im Raum präsent ist. Andere Szenen dagegen sind nur gutgemeinte Zitate: Wenn Stiller und Julika mit den Gliedmaßen insektoid nacheinander greifen, sich aber nicht erreichen können, dann ist das zwar eine schöne, expressionistisch zeigefingernde Metapher – aber sie ist nicht psychologisch erspielt.

Lars-Ole Walburg hat vor sechs Jahren in Basel den Stiller-Roman ganz auf die Schweizer Enge und Engstirnigkeit bezogen, der Stiller entfliehen wollte – so sehr, dass am Ende ein Schweizer Kreuz als Grab in die Bühne gefräst wurde. Diesen Fehler macht Heike Goetze nicht. Die Enge ist schon da – aber am Ende kämpft der Bildhauer Anatol Stiller, in einem balladesken Pop-Song, doch mehr mit sich selbst und den Bergen, die er nicht bezwingen kann.

"Ich habe keine Sprache für die Wirklichkeit", sagt Stiller. Die Regisseurin dagegen hat – vom Lichtbildervortrag bis zur impressionistischen Klavier-Phrase – zwar viele Ideen, aber keine wirkliche Dramaturgie für den Frisch-Roman. Mit etwas Sarkasmus könnte man die Züricher Inszenierung als nette Familien-Aufstellung bezeichnen, als De- und Rekonstruktion. Aber auch das greift zu kurz: Über weite Strecken besitzt die Aufführung nämlich eine ganz eigene, verzweifelte Atmosphäre – und einen gebrochenen Charakter als Hauptfigur, der (wie die Regie) erkennen muss: Sich selbst, seinen eigenen Schwächen, entkommt man nicht.