"Präsident Putin regiert wie die Zaren des 19. Jahrhunderts"

Von Barbara Lehmann · 07.09.2005
Vor dem Deutschlandbesuch des russischen Präsidenten Wladimir Putins haben russische Oppositionelle und Intellektuelle scharfe Kritik an Putins Regierungsstil geübt. Russland sei ein Polizeistaat und ein faschistisches Regime, sagte der russische Autor Eduard Limonow. Die Politik der Unterstützung Putins durch Bundeskanzler Schröder sei verheerend, so Limonow weiter.
Eduard Limonow: " Russland ist ein Polizeistaat, ein faschistisches Regime. Putins Politik hat viel Unglück hervorgebracht: den Krieg in Tschetschenien, die daraus resultierenden terroristischen Anschläge wie die Geiselnahmen im Moskauer Nord-Ost-Theater und in Beslan. All dies hat die Unfähigkeit des Staates bewiesen, Krisen angemessen zu lösen. In vielem weist das heutige System Züge des russischen Staates vor 1917 auf. Präsident Putin regiert wie die Zaren des 19. Jahrhunderts. "

Herzlich willkommen in Deutschland. Zar Putin trifft auf Duzfreund Gerhard, um noch schnell vor dessen wahrscheinlicher Abwahl die Verträge zwischen Gasprom und Ruhrgas zu signieren. Doch ist es opportun, Geschäfte mit einem Land zu machen, das immer mehr den Boden der Rechtsstaatlichkeit verlässt? Wir haben uns umgehört bei russischen Künstlern und Intellektuellen: Der Schriftsteller und Oppositionsführer Eduard Limonow über die Stimmung am Vortag des Putin Besuches:

Eduard Limonow: " Es herrscht die Ideologie der Unterordnung. Alles erfolgt nach dem jahrhundertlang erprobten Schema: Wir, die Kinder, rebellieren, Vater Staat bestraft uns dafür. Es gibt weder politische noch persönliche Freiheiten, keine Freiheit der Gerichte, keine freie Presse. Putin und seine Leute verletzen ständig die verfassungsmäßig garantierten Rechte, sie regieren als eine Art Küchenkabinett. Der aktive Teil der Bevölkerung ist gegen Putin, vor allem die Intelligenzia. Keiner glaubt an die Zukunft. Die Politik Gerhard Schröders, der diesen Polizeistaat unterstützt, ist verheerend. Putins Regierung müsste man boykottieren. "

Eduard Limonow, Führer der anarchistischen nationalbolschewistischen Partei, der jahrelang selbst mit linksfaschistischem Ideengut liebäugelte, ist inzwischen zu einem Dissidenten alter Couleur geworden, der für Freiheit und Demokratie kämpft. Aufgrund einer falsifizierten Anklage von Putins Geheimdienst saß Limonow zwei Jahre lang in Untersuchungshaft. Seine Partei ist verboten, zahlreiche Parteigenossen sind inhaftiert oder warten auf ihre Verurteilung. Sind Limonows Ansichten womöglich die eines durchgeknallten Außenseiters oder spiegeln sie allgemeine Tendenzen? Der Soziologe Juri Lewada:

"Alles existiert nebeneinander. Es gibt Elemente der Demokratie, der gelenkten Demokratie, der Diktatur. Vorherrschend sind Willkür und Chaos. Denn ungeachtet der groß angekündigten Bestrebungen des Putin-Regimes, die Macht zu konsolidieren, herrschen Korruption und Ineffektivität. Das Bemühen, alles in der Hand haben zu wollen, führt genau zum Gegenteil, zum Fehlen von Kontrolle. Eine Ideologie gibt es nicht, es gibt nur Zynismus. Jegliche Normen, auch die des Rechtsstaates, werden nicht beachtet. "

Auch der Philosoph und Verleger Alexander Iwanow, der die Bücher Eduard Limonows und Vladimir Sorokins verlegt, geriet in den letzten Jahren mehrfach ins Schussfeld der Putin-Administration. Bis heute flattern ihm Klagen der Staatsanwaltschaft wegen der Herausgabe vorgeblich staatszersetzender Schriften ins Haus.

Alexander Iwanow: "Es gibt keine Politik in Russland. Alle politische Macht ist im Kreml konzentriert, die Schaukämpfe dort werden über das Fernsehen ausgetragen. Es gibt keine alternative Politik, auch die Opposition wird vom Kreml unterstützt. Deshalb kann die Opposition überall sein, meinetwegen auch bei Putins Frau. Seit dem Ende des letzten Jahres ist das Putin-Regime nervös geworden: Es fürchtet die Revolutionen, so wie sie in der Ukraine, in Georgien, in Zentralasien stattgefunden haben, es hat Angst vor aufrührerischen Gedanken. Einerseits herrscht die Stille eines Leichenschauhauses, andererseits sind die Machthaber paranoid, überall wittern sie Gefahr."

Doch die Wirtschaft boomt. Russland verzeichnet Exportüberschüsse, nicht zuletzt dank der gestiegenen Rohölpreise.

Alexander Iwanow: "In einem Lied von Madonna ist von einem "material girl" die Rede. Putin ist ein material boy, ihn interessiert nur das Geld. Das Putin Regime ist völlig pragmatisch. Es gibt keine anderen Ziele außer der ökonomischen. So fehlen auch soziale Projekte, es gibt keine Modernisierung des Landes. Man will einzig und allein den status quo bewahren, den im Kern kriminellen Oligarchen-Kapitalismus, so wie er sich in den 90er Jahren herausgebildet hat. "

Vom großen Boom des Öls profitiert nur eine hauchdünne Schicht der neuen Reichen. Moskau, der Moloch, protzt mit Schwindel erregenden Wolkenkratzern, schweren Limousinen, Luxusboutiquen Nachtclubs und Casinos, in denen die Geldströme fließen wie in Monte Carlo.

Alexander Iwanow: "Einerseits gibt es die Gesellschaft, andererseits das Parlament, den Kreml, die Gerichte. Es sind parallele Welten. Völlig verschwunden ist das Gefühl der 90er Jahre, dass von der persönlichen Meinung des Einzelnen etwas abhängen könnte. Macht ihr da unten nur eure kleinen Geschäfte, sagen die Machthaber, wir da oben machen die große Politik. Die Situation ist ohne Perspektive. Die Gesellschaft hat jedes Vertrauen in die Politik verloren. "

Die Meinungsumfragen sind widersprüchlich. Einerseits, so sagen die Forschungsinstitute, wollen 70% der Bevölkerung, dass Putin auch über eine zweite Amtszeit hinaus weiterregiert. Anderseits sind die meisten Russen unzufrieden mit der Regierungspolitik. Der Soziologe Alexej Lewinson:

Alexej Lewinson: " Es gibt keine Ideologie. Aber es gibt das Bestreben, Russland als mächtigen Staat wieder ins Spiel der Weltpolitik zu bringen. Das wird von einem Großteil der Bevölkerung unterstützt, vor allem der älteren Bevölkerung, die den Verlust der Sowjetunion nicht verwinden kann. "

Russland, der eurasische Kontinent, schlingert nach wie vor zwischen Asien und Europa. Einerseits demonstriert das Putin-Regime seit Neuestem Nähe zum einstigen Erzfeind China, gemeinsam werden Militärparaden durchgeführt. Andererseits, so Alexej Lewinson, begrüßen die Russen gute Beziehungen zum Westen, vor allem zu Deutschland, dem nach wie vor beliebtesten westlichen Land.

Alexej Lewinson: "In den letzten Jahren haben sich die Beziehungen Russlands zu anderen westlichen Partnern, vor allem den USA und England, verschlechtert. Deshalb dienen die guten Beziehungen zu Deutschland auch dazu, das ausgleichen. Deutschland ist zudem der wichtigste Handelspartner. Gleichzeitig benutzt das politische Establishment die Beziehungen zum Westen, um die eigene Machtpolitik zu konsolidieren. Damit gibt Schröder Putin die Hände frei für seine Politik."

Das heutige Chaos wirbelt alles durcheinander. Aus Freunden werden Feinde, Feinde werden zu Freuden. Die skandalumwitterte Dichterin Alina Wituchnowskaja war jahrelang eine Gegnerin des Putin-Regimes. Wegen angeblichen Drogenhandels kam sie dafür zwei Jahre hinter Gitter. Jetzt kritisiert sie die Mythen und Glaubenssätze der marginalen Opposition, ihrer einstigen Weggenossen:

Alina Wituchnowskaja: " Natürlich hat die Situation heute nichts mit dem Terror der Stalinzeit zu tun, obwohl es unter linken Kräften derzeit modisch ist, das zu behaupten. Wir haben nicht das Jahr 37, sonst würde nämlich Angst herrschen. Es gibt keine Angst vor starken Machthabern, es gibt höchstens die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, das Geld, den sozialen Status. Aber es gibt keine Allmacht der Ideologie, der Gewalt, des Gulags oder der Gefängnisse. "

Alina Wituchnowskaja, einst eine Weggefährtin Eduard Limonows und seiner nationalbolschewistischen Partei, belächelt nun die derzeitigen Bemühungen, eine schlagkräftige Opposition aus Demokraten und links- und rechtsradikalen Kräfte zu schmieden. Kein Ausweg also, nirgends?

Alina Wituchnowskaja: " Eine Machtübernahme der Oligarchen, etwa der Kräfte um Chodorkowskij, würde nichts verändern. Das Putin-Regime hat Russland innerhalb mehrerer Jahre ausgeraubt, die so genannte Opposition würde dies innerhalb von zwei Stunden tun. In der Gesellschaft herrschen Chaos und Anarchie. Die Bürger sind indifferent, amorph, noch immer geprägt von ihrer Sozialisation unter dem Sowjetregime. Es gibt derzeit in Russland keine Alternative. "
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