Frauenpower für einen politischen Wandel
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Drei Kandidatinnen werben für ein neues Belarus, gegen Dauer-Amtsinhaber Lukaschenko. Sie sind die Antwort darauf, dass drei oppositionelle Männer nicht kandidieren durften. Zu ihren Wahlkampfauftritten kommen Tausende. Reicht das für den Machtwechsel?
Am Ende des Abends wird es dunkel in der Stadt Gomel in Belarus. Tausende Menschen halten die Taschenlampen ihrer Handys in die Höhe. Es wird später Luftbilder geben, die so aussehen, als sei der Sternenhimmel auf den Erdboden herabgesunken – und als bewege er sich immer im Takt von rechts nach links.
Das Lied Mury, gesungen in belarussischer Sprache, erzählt von der Zerstörung eines Gefängnisses, in dem die Menschen leben müssen. "Wenn du Freiheit willst, nimm sie dir. Die Mauer wird bald fallen." Mury wurde in Belarus auch schon im Jahr 2010 gesungen. Damals, nach einer Präsidentschaftswahl, die Alexander Lukaschenko nur durch massive Wahlfälschung gewann, knüppelten Spezialkräfte die Demonstranten auseinander.
Protest-Hymne von fallenden Mauern
Nun also wird wieder von fallenden Mauern gesungen. In Gomel kamen zehntausend Menschen, um auf der kleinen Bühne ein Frauen-Trio zu sehen und zu hören, das die langjährige politische Stille durchbricht. Hauptfigur ist Swetlana Tichanowskaja, sie ist die einzige wirkliche Oppositionskandidatin. Bis vor Kurzem war sie Übersetzerin, Mutter, Hausfrau. Politisiert wurde sie durch die Arbeit ihres Mannes, Sergej. Der stammt von hier, aus Gomel, das im südöstlichen Zipfel von Belarus liegt. Sergej Tichanowskij produzierte über das oft arme und stagnierende Leben in belarussischen Regionen einen populären Videoblog. Er dichtete auch einen Teil des Liedtextes von Mury neu – und sitzt nun in Untersuchungshaft.
Als Swetlana Tichanowskaja in Gomel ihre Rede hielt, waren ihre beiden Kinder gerade in ein Land der Europäischen Union ausgereist, um dem Zugriff des Sicherheitsapparats zu entgehen.
"Ich war gezwungen, nach diesen Bedrohungen, meine Kinder wegbringen zu lassen, weil ich weiß, dass die Staatsmacht vor nichts Halt macht. Wissen Sie, ich habe meinem Sohn, der ist der ältere, die Tochter ist noch klein, ich habe ihm nichts erzählt. Nur: Papa ist auf Dienstreise, wir malen Bilder und schicken sie ihm. Und Briefe. Papa kommt bald wieder. Aber jetzt hat mein Sohn alles verstanden und hat mir gestern eine Nachricht geschickt, die meine Welt noch einmal auf den Kopf gestellt hat und mich davon überzeugt hat, dass wir bis zum Sieg weitermachen müssen. Ich lese sie Ihnen vor: ‚Mama, ist alles in Ordnung bei Dir? Du tust mir leid. Und ich habe Angst um Dich.‘ Kindermund tut Wahrheit kund: Unsere Kinder haben Angst."
Ihr Auftreten unterscheidet sich von dem der Männer
Tichanowskaja wirbt mit zwei weiteren Frauen für den Wandel in Belarus: Weronika Zepkalo ist Ehefrau eines anderen Oppositionellen, der zur Wahl nicht zugelassen wurde. Und Maria Kolesnikowa wollte den Wahlkampf von Viktor Babariko managen. Dem früheren Banker wird Geldwäsche vorgeworfen, auch er sitzt in Untersuchungshaft. Alle drei geben an, ihren Wahlkampf vorrangig aus Spenden zu bestreiten.
Das Auftreten der drei Frauen ist etwas Neues in Belarus. Ihre Sprache, ihr Gestus. Die eine zeigt immer ein Victory-Zeichen, die zweite reckt die linke Faust, die dritte formt ihre Hände zu einem Herzen. Tichanowskaja gibt nur ein Wahlversprechen, wie hier in einer Fernsehansprache, die ihr als registrierter Kandidatin im staatlichen Kanal gestattet wurde:
"Mein wichtigstes Ziel: Ehrliche Wahlen zu organisieren, an denen alle alternativen Kandidaten teilnehmen können. Stimmen Sie für mich, stimmen Sie für neue, ehrliche und gerechte Wahlen."
Bis dahin will die 37-Jährige alle politischen Gefangenen freilassen und die Verfassung von 1994 wiedereinsetzen. Die begrenzt die Amtszeiten des Präsidenten. Das hatte Lukaschenko für sich abgeschafft.
Lukaschenko setzt auf Stabilität und Angst
Auch Alexander Lukaschenko ist viel in Belarus unterwegs. Auf den Videos, die das staatliche Presseamt veröffentlicht, wirken seine Auftritte staatsmännisch und gut organisiert. Er besucht Betriebe, herzt Kinder, verspricht Stabilität auch für die nächsten Jahre.
Der 65-Jährige regiert das Land seit 26 Jahren. Gewaltenteilung, faire und freie Wahlen, eine freie Presse – all das gibt es unter ihm nicht mehr. Dass Frauen Anspruch auf politische Führung erheben, hat er mit Spott bedacht. Sie seien grundsätzlich nicht zu einem Amt wie dem seinen befähigt, ließ er wissen.
Sein Sicherheitsapparat schüchtert ein, will Angst verbreiten: Es gibt willkürliche Festnahmen. Auf Versammlungen werden Menschen von Beamten in Zivil in schwarze Vans geschleppt, Sondereinheiten der Polizei zücken den Schlagstock. Lukaschenko warnt vor Instabilität. Auffallend häufig lässt er sich im Gespräch mit seinen Sicherheitseinheiten zeigen. Sie sind wichtiger Pfeiler seiner Macht.
Ukraine dient als Chiffre für Chaos und Zerfall
Seine politischen Gegner planten einen Maidan, erklärt er. Der Maidan, der in der benachbarten Ukraine zum Zentrum einer Revolution wurde, steht für Machthaber wie Lukaschenko seitdem als Chiffre für Chaos und Zerfall. In Minsk und andernorts gab es in den vergangenen Wochen gegen die Festsetzung Oppositioneller Proteste, und dabei auch einzelne tätliche Auseinandersetzungen. Der Präsident bestärkte die Sicherheitskräfte.
"Das dürfen Sie nicht zulassen. Niemand darf unsere Polizisten in ihrem eigenen Land mit Füßen treten. Sie dürfen sich unter keinen Umständen provozieren lassen, aber niemand darf Sie beleidigen. Sonst kommt es noch so weit, dass wir auf Demonstranten wie im Kindergarten aufpassen werden."
Lukaschenko inszeniert sich zudem als Hüter der Souveränität seines Landes. Russland wirft er Einmischung vor. Dazu passt, dass vergangene Woche bekannt gegeben wurde, Dutzende Söldner der russischen Wagner-Gruppe seien in der Nähe von Minsk festgenommen worden. Ihre Pässe wurden ausführlich im Fernsehen gezeigt. Die Wagner-Gruppe ist dafür bekannt, ein Instrument Moskaus zu sein. Die paramilitärische Miliz soll in der Ukraine, in Libyen, dem Sudan, Syrien und anderen Ländern operieren. Und nun im Nachbarland, obwohl doch beide in einer Union eng miteinander verbunden sind?
Es gibt viele Ungereimtheiten. Möglich ist, dass der belarussische Präsident die Geschichte inszenieren ließ. Das könnte ihm Stimmen von denen bringen, die nun um die Eigenständigkeit und den Frieden im Land fürchten. Das Beispiel der Ukraine steht ja allen vor Augen.
Lukaschenko hat Anhänger im Volk
Denn Alexander Lukaschenko hat auch Anhänger. Sie sind nicht leicht zu finden, viele möchten nicht in der Öffentlichkeit sprechen. Aber das russischsprachige Medium Meduza hat mit Unterstützern gesprochen. Zum Beispiel mit Dmitrij, 25 Jahre alt, der als Fahrer in einem staatlichen Unternehmen arbeitet.
"Unter Lukaschenko fühle ich mich, fühlen sich meine Familie und meine Angehörigen nicht schlecht. Alle haben die Möglichkeit zu arbeiten, einen grundsätzlich anständigen Lohn zu bekommen, sodass es zum Leben reicht. Man kann sogar etwas zurücklegen für den Urlaub im Ausland am Meer. Ich war im vergangenen Jahr in Italien. Oppositionsmedien sagen, wir hätten niedrige Löhne. Also, ich arbeite als gewöhnlicher Fahrer und verdiene monatlich umgerechnet etwa 300, 350 Dollar. Alle haben ein Auto, eins oder sogar zwei."
Wie viel Rückhalt der amtierende Präsident wirklich hat, kann nicht eingeschätzt werden, weil es keine unabhängigen Umfragen gibt. Unbekannt ist auch, wie die Coronapandemie das Land wirklich getroffen hat. Der Präsident hat die Gefahr stets heruntergespielt. Weil er es so wollte, wurden Kontaktbeschränkungen nie flächendeckend durchgesetzt. Lukaschenko überraschte vor wenigen Tagen:
"Verehrte Freunde, ich bitte um Entschuldigung für meine Stimme. In der letzten Zeit musste ich sehr viel reden. Aber das Erstaunlichste ist: Sie treffen heute einen Menschen, dem es gelungen ist, das Coronavirus zu überstehen, ohne im Bett zu liegen. Das ist der Befund meiner Ärzte. Ohne Symptome. Wie ich sagte: 97 Prozent der Bevölkerung bei uns übersteht die Ansteckung ohne Symptome, und Gott sei Dank bin auch ich Teil dieser Kohorte."
Wer gewinnt, scheint diesmal weniger eindeutig
Dass der Präsident Statistiken nennt, die keiner Wissenschaft standhalten, ist lang bekanntes Muster. Dass es bei der heute beginnenden Stimmabgabe und am Wahlsonntag selbst zu Fälschungen kommen wird, wäre ebenfalls keine Überraschung. Aber anders als in den vergangenen Jahren scheint sich die Stimmung von immer mehr Menschen gegen den Präsidenten zu wenden.
"Wir sind so müde, in einer so unfassbaren Diktatur zu leben. Mehr als die Hälfte meines Lebens. Und dabei ist uns ja klar, wie es eigentlich sein müsste, wir sind ja Europäer, gebildet und klug."
Das sagt Anna Sewerinez, sie ist Lehrerin und Schriftstellerin. Kurz zuvor hatte sie ein Gedicht über den Präsidenten gepostet, und ihr Vertrag an einer staatlichen Schule wurde daraufhin nicht verlängert. Sie wird nun ab September an einer privaten Schule in Minsk unterrichten. Warum sie diesen Aufruf nicht schon vor anderen Wahlen verfasst hat?
"Tatsächlich aus Blödheit. Auf der einen Seite hatte ich nicht so eine innere Kraft. Ich fand keine Worte, kein inneres Pathos. Und wenn ich ehrlich bin, hatte ich nie das Gefühl, dass wir, die zum Protest neigenden Belarussen, in der Mehrheit sind. Wir sind immer sehr lange sehr geduldig."