Präsidentschaftswahl in Portugal

Rechtspopulisten im Aufschwung

22:56 Minuten
Demonstrantinnen am 27.6.2020 in Lissabon
Im Sommer brachte CHEGA viele Menschen auf die Straße. Der Präsidentschaftswahlkampf dagegen findet wegen Corona fast nur online statt. © picture alliance / Paulo Alexandrino / Global Imagens
Von Tilo Wagner |
Audio herunterladen
Portugal galt lange als eines der wenigen europäischen Ländern, in denen Rechtspopulisten keine Chance haben. Das könnte sich jetzt ändern. Bei der Wahl am Sonntag tritt mit André Ventura auch ein Rechtspopulist an. Sein Ziel: Platz zwei.
Der Wahlkampf in Portugal steht ganz im Zeichen der Pandemie: keine Massenkundgebungen, keine Wahlkampf-Straßenfeste, kein Händeschütteln, keine Selfies. Die sieben Kandidaten, die sich um das Amt des Staatspräsidenten bewerben, präsentieren sich fast ausschließlich im Internet und in 21 TV-Duellen im portugiesischen Fernsehen.
Der konservativ-liberale Amtsinhaber Marcelo Rebelo de Sousa investiert für seine Wiederwahl ganze 25.000 Euro. In aktuellen Umfragen liegt er mit 60 Prozent scheinbar uneinholbar vor seinen Mitstreitern. Und trotzdem ist dieser Wahlkampf ein Testlauf für das politische System in Portugal. Nicht nur, weil wegen der Pandemie mit einer sehr niedrigen Wahlbeteiligung gerechnet wird.
Sondern weil zum ersten Mal ein aufstrebender Rechtspopulist die Präsidentschaftswahlen nutzt, um für sein polemisches politisches Projekt zu werben.

"Gott hat mich ausgesucht, diese Mission zu erfüllen"

"Ich bin mir sicher, dass meine Partei Chega in zehn Jahren in Portugal die Regierung stellt. Gott hat mir gesagt, dass ich die politische Führung des Landes übernehmen werde. Ich glaube, dass Gott mich ausgesucht hat, diese Mission zu erfüllen", sagt André Ventura.
Ein lächelnder Mann mit dunklem Vollbart und roter Krawatte und verschränkten Armen.
Wolf im Schafspelz? - der rechte Abgeordnete André Ventura kandidiert für das Amt des Staatspräsidenten Portugals.© Deutschlandradio / Tilo Wagner
Ventura sitzt im kalten Neonlicht in einem kargen Raum seiner Parteizentrale gegenüber dem portugiesischen Parlament. Gebräunter Teint, wellige Haare und kurz geschnittener Backenbart. Der 38-Jährige ist, wenn er will, ein sympathischer Mensch: höflich, lächelnd, in Anzug und Krawatte.
Doch wenn er über die Schwächeren der Gesellschaft spricht, dann hört die Sympathie schnell auf:
"Ich werde nicht der Präsident sein von denen, die Verbrechen begehen, die dem Staat zur Last fallen, die nie arbeiten oder Steuern bezahlen. Und auch nicht von den Minderheiten, die denken, über dem Gesetz zu stehen. Ich werde der Präsident der Anderen sein, der großen schweigenden Mehrheit."
Vor knapp zwei Jahren war Portugal noch einer der ganz wenigen europäischen Staaten, in dem es keine rechtspopulistische Partei gab. Bei den Parlamentswahlen im Oktober 2019 gewann André Venturas Partei Chega – übersetzt: "Es reicht!" – 68.000 Stimmen bei 10,8 Millionen Wahlberechtigten. Das reichte im portugiesischen Wahlsystem trotzdem gerade so für einen Sitz im Parlament.
Ein Mann mit kurzen grauen Haaren und Brille sowie olivgrünem Pulli steht in einer Wohnung am Fenster.
"Das Phänomen Ventura ist auch durch die Medien entstanden" - Der portugiesische Politologe Riccardo Marchi.© Deutschlandradio / Tilo Wagner
Und damit setzte eine Entwicklung ein, die für den Umgang mit rechtspopulistischen Parteien in Europa nicht ungewöhnlich sei, sagt der Politologe Riccardo Marchi von der Universität Lissabon:
"In den vergangenen 45 Jahren der portugiesischen Demokratie ist André Ventura der erste Abgeordnete einer als rechtsextrem klassifizierten Partei, der ins Parlament eingezogen ist. Das ist etwas Neues. Und es hat dazu geführt, dass die portugiesischen Linksparteien und die Medien ihre Aufmerksamkeit auf André Ventura gerichtet haben.
Das heißt, das Phänomen André Ventura ist eigentlich erst durch die übertriebene Zurschaustellung durch seine politischen Widersacher und durch die Medien entstanden."

"Nichts an ihm ist wirklich wahrhaftig"

Eine Folge: Die Zustimmung der Bevölkerung für Chega hat im vergangenen Jahr deutlich zugenommen. Laut jüngsten Umfragen kann die Partei bereits mit sieben bis acht Prozent der Stimmen rechnen und wäre damit die drittstärkste Kraft hinter den regierenden Sozialisten und der Mitte-Rechts-Partei PSD. Marina Costa Lobo vom Lissabonner Institut für Sozialwissenschaften ICS hält Ventura vor allem für einen Opportunisten:
"Nichts an ihm ist wirklich wahrhaftig. Auf der einen Seite sagt er, dass Gott ihn auf diesen Weg gebracht hat, aber auf der anderen Seite will er das staatliche Gesundheits- und Bildungssystem abwickeln. Also eine ultraliberale Haltung, die in starkem Widerspruch zur Position der katholischen Kirche steht.
Er will sich herausstellen, er will schockieren. Und selbst wenn er so tut, als ob er etwas Wahrhaftiges sagen würde, ist er trotzdem nur ein Opportunist, der nur ein Ziel vor Augen hat: er will an die Macht kommen."

Der Kampf gegen die Korruption im Mittelpunkt

Auf den großen Wahlplakaten an Straßenkreuzungen in Lissabon stellt André Ventura den Kampf gegen die Korruption in den Mittelpunkt seiner politischen Botschaft. Es ist ein sensibles Thema. In den vergangenen Jahren hat die portugiesische Justiz eine Reihe von hochkarätigen Korruptionsfällen in Politik und Wirtschaft aufgedeckt. Doch das portugiesische Prozessrecht räumt den Beschuldigten scheinbar zu viele Möglichkeiten ein, die Verfahren auszubremsen. Und es fehlen Fachkräfte bei der Aufklärung komplexer Wirtschaftskriminalität.

Der ehemalige sozialistische Premierminister José Sócrates wurde im November 2014 wegen schwerem Korruptionsverdacht festgenommen. Doch auf die Anklage wartet er bis heute. Das öffnet in Teilen der Bevölkerung die Tür zu einem allgemeinen Misstrauen gegenüber Justiz und Politik. Und davon will André Ventura profitieren.

Ventura hat selbst Interessenskonflikte

"Die Partei Chega spricht zwar viel von Korruption, aber sie bringt nur ganz wenige konkrete Vorschläge, wie die Korruption bekämpft werden kann. Und wenn, dann schlagen sie nur härtere Strafen vor", sagt Susana Coroado, Präsidentin der Antikorruptionsagentur "Transparência e Integridade".
"Die Partei bringt keine Idee ein, wie Korruption präventiv verhindert werden kann. Und der Vorsitzende von Chega, André Ventura, hat eigene Interessenskonflikte wegen seiner doppelten Funktion als Abgeordneter und gleichzeitig Rechtsberater."
Marine Le Pen und André Ventura, beide mit Mund-Nasen-Schutz auf der Straße in Lissabon.
Wahlkampfunterstützung aus Frankreich: Die französische Rechtspopulistin Marine Le Pen bei ihrem Besuch in Lissabon am 8. Januar mit André Ventura.© imago / Globallmagens / Gerardo Santos
Chega hat sich im Juli 2020 der Fraktion des Europaparlaments "Identität und Demokratie" angeschlossen. Anfang Januar war Marine Le Pen in Lissabon, um Ventura im Wahlkampf zu unterstützen. Ähnlich wie andere europäische Rechtspopulisten wettert Chega gegen eine liberale Migrations- und Flüchtlingspolitik und warnt vor einer angeblichen muslimischen Überfremdung Europas.
Diese Ideen scheinen in Portugal jedoch weit weniger Brisanz zu haben, weil das Land fern der Flüchtlingsrouten liegt, nur 50.000 Muslime im Land leben und der Anteil der Migranten nicht mehr als 6 Prozent der Bevölkerung beträgt.
Portugals Rechtspopulisten versuchen deshalb noch auf einem anderen Feld zu punkten: Sie bemühen sich um eine nationalistische Auslegung der portugiesischen Kolonialgeschichte. Die Debatte um Dekolonisierung und Rassismus ist auch in Portugal hochgeschwappt.
"In Portugal hat sich in den vergangenen Jahren eine einflussreiche Bewegung afrikanischstämmiger Bürger herausgebildet, die Rechte einfordern, die eine politische Agenda haben und die eine Debatte über Erinnerung, über die Kolonialgeschichte und über einen strukturellen Rassismus in der portugiesischen Gesellschaft anstoßen", sagt Riccardo Marchi. "Das sind alles Themen, die die alteingesessenen Parteien am Rande oder außerhalb der politischen Debatte halten wollten – einfach, weil es sehr heikle Themen sind."

Portugal kämpft mit latentem Rassismus

Dieses Vakuum haben die Rechtspopulisten genutzt und sich deutlich gegen eine kritische Reflexion über das Erbe der portugiesischen Kolonialgeschichte gestellt. Unter dem Motto "Portugal ist nicht rassistisch" organisierten André Ventura und seine Parteifreunde im vergangenen Sommer zwei Demonstrationen in Lissabon mit jeweils mehreren hundert Teilnehmern.
Es geht dabei jedoch um mehr als bloß Erinnerung. Portugal hat mit einem latenten Rassismus zu kämpfen, der sich auch in den Institutionen und Behörden widerspiegelt.
Seit 2017 können Bürger, die Opfer von Rassismus geworden sind, sich bei einer unabhängigen Kommission melden. Die Zahl der Beschwerden ist kontinuierlich gewachsen, doch nur für einen Bruchteil der Täter hat das tatsächlich Konsequenzen.
Das gilt auch für die portugiesischen Sicherheitskräfte. Die EU-Kommission mahnte bereits vor zwei Jahren, dass in Reihen der portugiesischen Polizei Gewaltexzesse und rassistisches Verhalten auftreten würden. Damit hat Anabela Rodrigues tagtäglich zu kämpfen.
Eine lächelnde junge Frau mit Schal und Pulli sitzt mit hochgebundenem dunklem Haar am Fenster ihrer Wohnung.
"Die Polizei umstellt immer wieder das ganze Viertel" - Theaterfrau Anabela Rodrigues in Lissabon.© Deutschlandradio / Tilo Wagner
Rodrigues leitet in dem überwiegend von schwarzen Portugiesen und Afrikanern bewohnten Viertel Cova da Moura vor den Toren Lissabons eine Theatergruppe:
"Wenn ich meine Mutter in dem Viertel besuche, dann umstellt die Polizei immer wieder das ganze Viertel. Ich muss meinen Personalausweis vorzeigen, muss darauf antworten, was ich machen würde und mit wem ich zu tun habe.
Das sind dann nicht ein oder zwei Polizisten, sondern ganze Mannschaften, die an allen Ein- und Ausgängen des Viertels kontrollieren. So etwas gibt es in keinem anderen Viertel in Lissabon. Aber in Wohngegenden, in denen Migranten oder Menschen mit afrikanischem Migrationshintergrund leben, passiert das andauernd."

"Viele Polizisten mögen Chega"

Bei einer dieser Polizeiaktionen wurden im Februar 2015 in dem Viertel Cova da Moura Jugendliche festgenommen, auf einer Wache grundlos festgehalten und immer wieder verprügelt. Die Polizisten wurden angeklagt und schließlich wegen Gewaltexzessen und widerrechtlicher Verhaftung verurteilt. Doch das war auch die Geburtsstunde einer Protestbewegung von Polizisten, die sich im Internet formierten und die Verurteilung der Kollegen als Schande für den portugiesischen Staat bezeichneten.
Scheinbar führungslos marschierten 13.000 Sicherheitskräfte im November 2019 durch Lissabon. Auf einer Kundgebung vor dem Parlament sprach dann als einziger Politiker André Ventura. Den Vorwurf, Sprecher der Polizistenbewegung zu sein, weist der Rechtspopulist jedoch zurück:
"Das ist eine unorganische Bewegung, die formell nicht zu Chega gehört. Aber viele Polizisten aus der Bewegung unterstützen und mögen Chega und wählen uns. Viele Polizisten glauben, dass wir ihre einzige Stimme sind.
Weil wir die einzigen sind, die die Probleme der Sicherheitskräfte ansprechen. Sie fühlen Folgendes: Wenn es eine Polizeiaktion in einem Viertel mit Minderheiten gibt, werden die Polizisten am nächsten Tag des Rassismus beschuldigt. Chega ist die einzige Partei, die dann aufsteht und die Polizisten verteidigt. Alle anderen schweigen, weil sie Angst haben."

Das Ziel: Platz zwei bei der Staatspräsidentenwahl

Der promovierte Jurist Ventura hat Law and Order zu einer festen Säule seiner Ideologie gemacht. Da spielt es keine Rolle, dass Portugal zu einem der friedlichsten Länder der Welt gehört und die Kriminalität seit 2008 deutlich zurückgegangen ist.
Der Ruf nach einem autoritäreren Staat zahlt sich auch finanziell für Chega aus: Finanzstarke Unternehmer mit einem besonderen Faible für die Polizei, wie etwa der ehemalige portugiesische Honorarkonsul in Miami, gelten als wichtige Geldgeber der Partei.
Auf den Azoren unterstützt Chega seit Oktober eine Minderheitsregierung aus der PSD und zwei anderen gemäßigten Rechtsparteien. Für die Präsidentschaftswahlen hat sich André Ventura ein hohes Ziel gesteckt. Er will hinter dem amtierenden Staatspräsidenten Rebelo de Sousa auf Platz zwei kommen. Und wenn er das nicht schafft, sagt er, will er zurücktreten.
Diese Ankündigung nimmt in Portugal niemand richtig ernst. Denn seine intern zerstritten Partei würde den Abgang ihres Anführers wohl nicht verkraften.
Mehr zum Thema