Chile nach den Protesten

Neuanfang im Präsidentenpalast?

23:27 Minuten
Menschen demonstrieren mit Flaggen und Schildern.
Zwei Jahre nach dem Beginn einer Protestbewegung für mehr soziale Gerechtigkeit, 2019, sind in Chile erneut Tausende Menschen auf die Straße gegangen. © picture alliance / NurPhoto / Fernando Lavoz
Von Anne Herrberg und Viktor Coco |
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Chile wählt einen neuen Präsidenten. Vor zwei Jahren rebellierten Jugendliche bei Massenprotesten gegen die Etablierten. Jetzt enthüllen die Pandora Papers zweifelhafte Geschäfte des konservativen Noch-Präsidenten Piñera. Wählt Chile also links?
Ein roter Teufel wirbelt durch die Wüste, ein grüner Faun stampft durch den Staub. Dann kommen die Gauklerinnen, tanzen und drehen sich, schwingen ihre sonnen-gelben Röcke zum treibenden Rhythmus der Trommeln.

Piñera und die Pandora Papers

Der farbenfrohe Umzug ist eine Protestaktion gegen das Bergbau-Projekt Minera Dominga. Denn die geplante Eisenerz- und Kupfermine samt dazugehörigem Exporthafen soll an einer der artenreichsten Küsten des Landes entstehen: nahe dem Humboldt-Archipel, wo Pinguine brüten und Finnwale rasten.
"Die Regierung der Präsidentin Bachelet hatte alles in die Wege geleitet, um ein großes maritimes Schutzgebiet zu schaffen", sagt Carlos Villarroel. Er ist Taucher und Dokumentarfilmer. "Es ging um fast 3500 Quadratkilometer, ein richtig großes Areal!"
Das landete dann auf dem Schreibtisch ihres Nachfolgers, Sebastián Piñera, der eigentlich nur noch unterschreiben musste. Aber der nahm es von der Agenda, was sich irgendwie keiner erklären konnte. Bis vor Kurzem die Pandora Papers veröffentlicht wurden."
Proteste gegen die Regierung in Chile: Demonstrationsmenge, ein Mann schwenkt eine Flagge.
Proteste gegen die Regierung 2019. Auch nachdem sich die Parteien darauf geeinigt hatten, eine neue Verfassung auszuarbeiten, dauerten die Demonstrationen weiter an. © picture alliance / dpa / Denis Düttmann
Die Pandora Papers, ein riesiges Daten-Leak. Auch chilenische Journalisten arbeiteten mit an der weltweiten Gemeinschaftsrecherche. Sie deckten dabei Offshore-Geschäfte rund um den Verkauf der Dominga-Mine auf. Darin verwickelt: niemand geringerer als Sebastian Piñera, damals Hauptaktionär, heute Präsident von Chile. Milliardär und zweitreichster Mensch des Landes.
Er verkaufte 2010 an einen Schulfreund. Die Zahlung lief großteils über die Virgin Islands, ein Steuerparadies, und war an die Bedingung geknüpft, dass dem Projekt kein Umweltschutzgebiet in die Quere kommt.

Profit vor Pinguinen

Profit vor Pinguinen. Piñera streitet das ab. Die Staatsanwaltschaft ermittelt. Der Fall steht für viele Chilenen exemplarisch für all das, was seit Jahren falsch läuft im Land. "Ich glaube, dass die Politiker alle Ressourcen des Landes nur als ein Geschäft sehen", meint Carlos Villarroel. "Etwas, aus dem man Profit schlagen kann, ohne dafür etwas zu geben."
Letztendlich sei es die Militärdiktatur gewesen, die mit der Verfassung von 1980 die Wege für diese Politik eingeleitet habe. "Gerade deshalb hat es hier in Chile ja zuletzt auch das große soziale Aufbegehren gegeben."

Chile ist aufgewacht

Oktober 2019: "Chile despertó", rufen sie, "Chile ist aufgewacht". Hunderttausende sind auf den Straßen, fordern Reformen und eine neue Verfassung. Denn die alte stammt noch aus der Diktatur von Augusto Pinochet. Der ließ nicht nur foltern und morden, sondern machte Chile auch zum neoliberalen Versuchslabor.
Eine Frau mit Sonnenbrille hält mitten in einer Menge ein beschriftetes Pappschild hoch.
"Das ist unser Geheimnis: Wir sind bereits 30 Jahre wütend" – Viele Menschen kamen mit selbstgemalten Pappschildern zu den Protesten in Santiago de Chile im Herbst 2019.© ARD-Studio Rio de Janeiro / Anne Herrberg
Fast alles liegt in privater Hand: Renten, Strom, selbst die Wasserversorgung. Doch das soll sich ändern. Vor einem Jahr, im Oktober 2020, stimmte eine überwältigende Mehrheit der Chilenen für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung.
Am 5. Juli 2021 erklingt im alten Kongresspalast von Chile der Ruf der Trutruka, der traditionellen Trompete des indigenen Mapuche-Volkes. Mit der blau-rot-grünen Wenufoye-Flagge in der Hand beginnt Elisa Loncon ihre erste Ansprache als Präsidentin des chilenischen Verfassungskonvents.

"Wir werden eine neue Verfassung schreiben"

Besetzt ist es zur Hälfte mit Frauen, zur Hälfte mit Männern, dazu eine Quote für Chiles indigene Völker, die in der alten Verfassung gar nicht auftauchen. Loncon spricht auf Mapudungun, der Sprache der Mapuche, und auf Spanisch.
"Wir werden eine neue Verfassung schreiben, in der die Rechte von allen Chilenen garantiert werde, aus allen Regionen, von allen Völkern", sagt sie. "Wir wollen Geschlechterparität und Plurinationalität, die Anerkennung der Rechte der indigenen Völker und der Rechte der Mutter Erde, öffentliche und qualitative Bildung, würdevolle Renten. Für all das haben die Menschen protestiert."
Es sind vor allem unabhängige Kandidaten, die bei der Wahl zur verfassungsgebenden Versammlung überzeugen konnten – wie Patricio Fernandez, Gründer der kritischen Zeitschrift "The Clinic".
"Chile sucht hier auch einen demokratischen Weg, auf die politische Zersplitterung zu reagieren", hebt er hervor. "Auf das Misstrauen gegenüber den Institutionen und die Politikverdrossenheit, auf die soziale Ungleichheit und Marginalisierung. Hier finden zwei Prozesse statt: Es wird ein neuer Gesellschaftsvertrag geschrieben, aber gleichzeitig auch Chiles politische Landkarte neu ausgerichtet."

"Habt keine Angst vor der Jugend"

"Habt keine Angst vor der Jugend, denn wir haben die Erfahrung derer, die vor uns gekämpft haben, wir lernen aus ihren Fehlern und Erfolgen. Und wir sagen heute voller Hoffnung: Wenn Chile die Wiege des Neoliberalismus war, dann kann es auch das Grab sein. Aber eines, auf dem alle Blumen blühen", so Gabriel Boriç im Juli. Überraschend gewann er damals die internen Vorwahlen der linken Koalition Apruebo Dignidad. Nun will er Präsident von Chile werden – mit 35 Jahren.
Ein junger Mann mit Vollbart und Brille lacht auf einer Bühne vor klatschendem Publikum.
Klimaschutz und Feminismus als Themen: Der linke Kandidat Gabriel Boriç bei einer Wahlkampfveranstaltung.© Deutschlandradio / Carolina Guiomar Trejo
Schwarze Röhrenjeans, tätowierte Unterarme, Vollbart. Boriç wurde bekannt als Anführer der Studentenproteste von 2011, drei Jahre später zog er ins Parlament ein und gründete 2017 die Bürgerkoalition Frente Amplio mit.

Fremdenhass und Einwanderung

Seine Themen: Klimaschutz und Feminismus, Mittelstand statt Mega-Bergbau und mehr Gewicht für die Regionen. Boriç steht für eine neue Linke, geht auf Distanz zu Venezuela, Kuba und Nicaragua, gibt sich undogmatisch.
Doch wie will er das finanzieren, wie umsetzen, mit welcher Erfahrung und vor allem: mit wem im Bündnis? Nach dem Auftritt wird Boriç von den Medien umringt. "Die nächste Regierung, wen auch immer die Chilenen wählen, wird es nicht einfach haben", meint er. "Das wissen wir. Aber keine Veränderung vorzunehmen, sich gegen den Wandel zu stellen, das birgt ein Risiko."
Ein junger Mann mit Vollbart und Mundschutz wird umringt von Journalisten, die ihm ihre Mikrofone entgegenstrecken.
Der 35-jährige Gabriel Boriç ist der jüngste Präsidentschaftskandidat aller Zeiten in Chile und steht für eine neue Linke.© Deutschlandradio / Carolina Guiomar Trejo
Die Herausforderungen sind groß. Chile wurde hart von der Coronapandemie getroffen. Die sozialen Probleme im Land hat das noch einmal verschärft. Armut und Ungleichheit haben zugenommen – und auch der Fremdenhass im Land, das in den letzten Jahren mehr als eine halbe Million Venezolaner und Haitianer aufgenommen hat.
Die Spannungen nehmen zu, vor allem in den Grenzregionen im Norden des Landes, wo fast täglich Hunderte illegal über die Grenze kommen.

Ein Graben gegen illegale Einwanderung

Nun steht ein blonder Mann in Windjacke im Altiplano, der Hochebene an der Grenze zu Bolivien, und präsentiert einen Plan gegen die Illegale Einwanderung.
"Die Lösung für dieses dringende Problem ist ein Graben von drei Meter Breite und drei Metern Tiefe entlang der kritischen Punkte unserer Grenzen."
Keine Mauer, ein Graben – José Antonio Kast ist Chiles Antwort auf Trump. Er unterstützt Bolsonaro, unterhält Kontakte zur Vox-Partei in Spanien und verteidigt die Diktatur von Augusto Pinochet.
Mehrere Menschen mit Mundschutz stehen hinter einem Mann mit Mundschutz, der in ein Mikrofon redet,
Will einen Graben, statt einer Mauer: Präsidentschaftskandidat José Antonio Kast ist das chilenische Trump-Double.© Deutschlandradio / Viktor Coco
Nun hat er beste Chancen, gegen die Linke in die Stichwahl einzuziehen. Kast, neuntes Kind deutscher Nachkriegseinwanderer, ist Jurist, selbst Vater von neun Kindern und Hundeliebhaber.

Ein Rechtsextremist, der die Umfragen anführt?

Zum Frühstück mit der internationalen Presse gibt es trockene Kekse und Baseballkappen mit seinem Slogan „Atravéte“, „Trau dich“.
Der Diskurs ist in den letzten Monaten moderater geworden, es seien die Medien, die ihn als rechtsextrem abstempeln. "Wir werden die traditionellen politischen Grenzen aufbrechen. Wie kann jemand, den die Presse als Rechtsextremist definiert, die Umfragen anführen? Sind alle Chilenen, die mich wählen, Rechtsextremisten?" Das stimme nicht. "Das sind Menschen mit gesundem Menschenverstand, die ihre Freiheit zurückwollen!"

Ob die Linken siegen, ist unklar

Kasts Wahlkampfzentrale liegt in Las Condes, einer Bastion der Konservativen in Santiago. Dem einzigen Bezirk, bei dem die Rechte vergangenes Jahr auch die Wahl zur verfassungsgebenden Versammlung gewonnen hat.
"Boriç würde ein kommunistisches Regime bedeuten, und die verfassungsschaffende Versammlung würde die Grundlage für eine linke Diktatur schaffen. Ein allmächtiger Präsident mit unbegrenzter Wiederwahl."
Sagten Beobachter vor einigen Monaten noch einen deutlichen Sieg der Linken bei der Wahl voraus, scheint das längst nicht mehr so klar. Patricio Fernández, Journalist und Vertreter des Verfassungskonvents wundert das nicht. "Wir stehen vor einer Wahl mit sehr ungewissem Ausgang. Das Szenario hat sich gedreht im Vergleich zu letztem Jahr, als die Euphorie über die verfassungsgebende Versammlung überwog."

Ein Wandel mit ungewissem Ausgang

Damals sei es undenkbar gewesen, dass die Rechte die Wahlen gewinnen könnten, "und dann noch mit einem so extremen Kandidaten wie Kast, der sagt, Pinochet hätte ihn gewählt". Das heißt: Es sei alles im Fluss. "Wir haben einen Moment der großen Transformation erlebt. Wir erleben jetzt aber auch die Ängste, die der Wandel und all die Veränderungen mit sich bringen."
Begleitet Chiles nächste Regierung den Verfassungsprozess – oder lehnt sie ihn ab? Wird das neoliberale Musterland zur Wiege einer neuen Linken in Südamerika oder übernimmt ein Rechtspopulist? Die Wahl am kommenden Sonntag wird auch im Rest der Region mit angehaltenem Atem verfolgt.
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