"Brasilien hat Symbolkraft in der Region"
Der Favorit der brasilianischen Präsidentschaftswahlen, Bolsonaro, bewundert die Militärdiktatur. Der Gegenkandidat der Arbeiterpartei, Haddad, tritt für den inhaftierten Lula da Silva an. Eine "Schicksalswahl" für das Land, meint Claudia Zilla von der Stiftung Wissenschaft und Politik.
Deutschlandfunk Kultur: Herzlich willkommen! Bei uns zu Gast heute ist Claudia Zilla von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Sie ist dort die Leiterin der Amerika-Abteilung. Mit ihr wollen wir über die morgen anstehenden Präsidentschaftswahlen in Brasilien sprechen. – Guten Tag, Frau Zilla.
Claudia Zilla: Guten Tag.
Deutschlandfunk Kultur: Frau Zilla, Beobachter sprechen von Schicksalswahlen in Brasilien, Wahlen, die für die Zukunft der Demokratie in dem Land von entscheidender Bedeutung sein werden. – Warum, Frau Zilla, sind diese Wahlen so wichtig?
Claudia Zilla: Weil die zwei beliebtesten Kandidaten sehr verschiedene ideologische Ausrichtungen vertreten, einmal ein Kandidat ziemlich weit links, aber auch noch einen anderen Kandidaten gibt es, der deutlich außen rechts steht, die beide unterschiedliche Vorstellungen für das Land haben. Dem muss man hinzufügen, dass auch die Gesellschaft, politisch betrachtet, sehr polarisiert ist.
Deutschlandfunk Kultur: Der Spiegel sprach von Brasilien als einem "Land in Flammen" vor wenigen Wochen. – Ist die Lage so düster?
Claudia Zilla: Wenn man sich andere Fälle in Lateinamerika noch anguckt, dann würde man sagen: Im Vergleich ist die Krise in Brasilien nicht so schlimm. Aber für Brasilien, für die Geschichte der letzten Dekaden ist vielleicht jetzt eine besonders sensible Situation.
"Großes Land und starke Volkswirtschaft"
Deutschlandfunk Kultur: Andererseits ist Brasilien auch für Lateinamerika ein wichtiges Land. Es ist das fünftgrößte Land der Erde, eines der wirtschaftlich wichtigsten Länder der Welt. Wenn das in Unordnung gerät, wenn da Chaos ausbricht, dann wird das auch Auswirkungen haben auf die Region und auch darüber hinaus.
Claudia Zilla: Auf jeden Fall. Zum einen prägt Brasilien als großes Land und starke Volkswirtschaft das Bild Lateinamerikas. Das heißt, viele verbinden die Region mit dem, was in Brasilien passiert, auch wenn das möglicherweise für andere Länder nicht aussagekräftig ist. Das andere ist: Brasilien ist ein Haupthandelspartner vieler anderer Länder in der Region. Und das Dritte ist, Brasilien hat auch eine Symbolkraft in der Region und gilt als politisches Modell in vielerlei Hinsicht. Wenn dort Entwicklungen stattfinden, die vielleicht nicht besonders demokratisch oder nicht besonders stabil sind, hat das natürlich negative Auswirkungen auf die Nachbarländer.
Deutschlandfunk Kultur: Sie haben die zwei Kandidaten, die im Blickpunkt stehen, angesprochen. Aufgemischt hat den Wahlkampf vor allem einer, Jair Bolsonaro. Er ist 63 Jahre alt, ein ehemaliger Fallschirmjäger. Einige sagen, er ist die letzte Hoffnung für Brasilien. Seine Gegner sagen: Er ist ein Faschist, ein Rechtsextremist, eine Gefahr für die Demokratie. – Wofür steht Jair Bolsonaro? Wie würden Sie ihn einschätzen?
Claudia Zilla: Er ist eine sehr problematische Figur. Einerseits hat er enge Verbindungen zum Militär. Zunächst mal ist er ein Militär und relativiert die Menschenrechtsverletzungen der Militärdiktatur. Er hat jetzt mehrmals klar gemacht, dass er vorhat, die Verfassung zu respektieren und die Gesetze einzuhalten. Aber jedes Mal, wenn er sich auf die vergangene Militärdiktatur bezogen hat, war er sehr sanft in seinen Urteilen. Er hat sogar Sachen gesagt, dass diese Militärdiktatur nicht genug Leute umgebracht hätte. Das sind diese Verbindungen zum Militär, das Martialische in ihm.
Damit verbunden ist auch seine Haltung der harten Hand, der eisernen Hand gegenüber der Kriminalität. Wenn man sich sein Regierungsprogramm anguckt, da gibt es überhaupt keine präventiven Maßnahmen, um der Kriminalität vorzubeugen. Er hat nur eine repressive Agenda, um mit der Kriminalität und den hohen Mordraten umzugehen. Und er ist auch dafür, dass man den privaten Waffenbesitz erleichtert.
Deutschlandfunk Kultur: Bleiben wir mal kurz noch bei seinen Verbindungen zum Militär stehen. Er hat sich ja auch viel mit alten Militärs umgeben. Die sind seine Berater. Der Einfluss militärischer Kräfte nimmt zu. Er hat auch gesagt, 'Ich werde eine Niederlage bei dieser Wahl nicht akzeptieren', was viele so interpretiert haben, dass selbst ein Militärputsch nicht auszuschließen ist.
"Diese Gemengelage ist problematisch"
Claudia Zilla: Das halte ich für wenig wahrscheinlich. Aber ich denke schon, dass solche Aussagen besorgniserregend sind. Es ist besorgniserregend, dass es Kandidaten gibt, die so was von sich geben. Es ist besorgniserregend, dass Kandidaten, die so einen Diskurs haben, so eine große Unterstützung in der Gesellschaft bekommen. Und es ist auch problematisch, dass man vom Militär, von den Streitkräften keine Distanzierung hört. Diese Gemengelage ist problematisch. Ich halte sie aber nicht für kritisch genug, um zu sagen, die Verfassungsmäßigkeit im Lande ist in Gefahr. Das würde ich nicht sehen. Aber trotzdem, das ist nicht die richtige Richtung, was die Entwicklung betrifft.
Deutschlandfunk Kultur: Aber sieht man hier nicht, dass das Militär auch, zumindest Teile des Militärs, die eigene Rolle neu interpretieren, dass sie sich auch auf dem politischen Feld verantwortlich sehen und vielleicht sogar auch politisch intervenieren würden?
Claudia Zilla: Es hat vereinzelte Aussagen aus den Reihen der Streitkräfte gegeben, wo sie gesagt haben zu Zeiten der Krise, als sie noch akuter war am Anfang der Regierung Temer, wo die Militärs, einige Militärs gesagt haben: 'Wir verstehen uns als diejenigen Akteure, die hier für Ordnung und für die Verfassung sogar sorgen sollen.' Obwohl natürlich eine Intervention gegen die Verfassung wäre, aber sie haben sich auf irgendwelche Artikel berufen und eine neue Auslegung angeboten.
Man kann da einen gewissen Tabubruch sehen. Solche Sachen hat man vor zehn Jahren nicht gehört. Und wenn man sie gehört hat, wurden sie entsprechend sozial bestraft. Und jetzt kann man sagen, dass das immer häufiger ist, dass man das hört und dass andere solche Aussagen unterstützen.
Ich würde das jetzt nicht geltend machen wollen für die Mehrheit der Gesellschaft. In dieser Hinsicht sehe ich auch keine Gefahr für einen Zusammenbruch der Demokratie.
Deutschlandfunk Kultur: Aber Bolsonaro führt derzeit in den meisten Meinungsumfragen, hat sogar in den letzten Tagen nochmal zugelegt. Die Institute sehen ihn über dreißig Prozent, damit deutlich vor seinen härtesten Widersachern. Einige sehen in ihm ja auch eine Art Donald Trump Brasiliens, einen Mann, der sich als Anti-Establishment inszeniert, als Gegner eines politisch korrupten Systems. – Warum ist das so erfolgreich?
Claudia Zilla: Zunächst mal müsste man sagen, er ist genauso erfolgreich wie groß die Ablehnung ist. Also, im Moment liegen die Ablehnungswerte gegen Bolsonaro über vierzig Prozent. Das heißt, wenn man will, wird er stärker abgelehnt als gemocht. Nur in Wahlen fragt man nicht, wer will ihn nicht, sondern in Wahlen fragt man, für wen entscheiden sie sich.
Und vor dem Hintergrund dieser großen Ablehnung wird für möglich gehalten, dass er gegen jeglichen Kandidaten in der Stichwahl verliert.
In der Tat finde ich problematisch, dass es so viele Leute gibt, die sich vorstellen können, ihn zu wählen, als dass es eine Person gibt, die so ein Regierungsprogramm hat und so einen Wahlkampf macht. Es gibt eine verbreitete Enttäuschung in der Gesellschaft mit der ganzen politischen Klasse, verbunden mit den Korruptionsaffären, die wirklich mehr oder weniger keine Partei unbelastet ließ. Jegliche Partei in der brasilianischen Demokratie hat mit Korruption was zu tun gehabt. Das wurde öffentlich.
Es gibt auch das Gefühl, dass sich die Parteien wenig unterscheiden, so dass man sich nun für jemanden entscheiden muss, der zumindest behauptet, ganz anders zu sein, und der auch ganz anders klingt, weil er lauter Sachen sagt, die politisch nicht korrekt sind, die andere nicht von sich geben würden.
"Es gibt eine lange Liste von menschenverachtenden Aussagen"
Deutschlandfunk Kultur: Zum Beispiel äußert er sich abfällig über Frauen, über Schwarze, über Schwule. Er hat schon mal angekündigt, die politischen Gegner am liebsten erschießen lassen zu wollen.
Claudia Zilla: Richtig, das alles. Es gibt eine lange Liste von menschenverachtenden Aussagen. Und es wird nicht bestritten, dass er diese Aussagen gemacht hat. Sie werden vielleicht kontextualisiert und vielleicht wird gesagt, nein, das war zu anderen Zeiten, aber es gibt keine Diskussion darüber, ob er das gesagt hat oder nicht. Und immer noch bietet er solche Beleidigungen an.
Die Leute sind enttäuscht. Das kann man verstehen, weil diese Aufdeckung dieses unglaublichen Ausmaßes an Korruption fast pornographisch ist. Und weil alle irgendwie damit zu tun hatten, bleibt wenig Hoffnung in der Gesellschaft. Das heißt, entweder relativiert man den Wert der Demokratie oder ist man bereit, eine Person zu unterstützen, die vielleicht mit vielen Tabus bricht, aber gleichzeitig glaubhaft machen kann, dass er zu dieser politischen Klasse nicht gehört, was ein bisschen absurd ist, weil er 27 Jahre im Kongress war.
Deutschlandfunk Kultur: Er ist kein Newcomer.
Claudia Zilla: Er ist kein Newcomer. Wenn man zum Militär gehörte, gehörte man zur Elite. Und als Abgeordneter 27 Jahre, also, er kann nicht sagen 'Ich hatte bisher einen Laden in einem Stadtteil und jetzt will ich Politik machen'.
Deutschlandfunk Kultur: Deutschlandfunk Kultur, Sie hören die Sendung Tacheles. Wir sprechen mit Claudia Zilla von der Stiftung Wissenschaft und Politik über die morgigen Präsidentschaftswahlen in Brasilien. Frau Zilla, zur bizarren Situation in Brasilien gehört, dass der schärfste Widersacher von Bolsonaro im Gefängnis sitzt. Es ist der frühere Präsident, die Galionsfigur der Linken, Lula da Silva. Ihm wird Korruption vorgeworfen. Er ist verurteilt worden und er darf nicht an den Wahlen teilnehmen, hätte aber gute Chancen. – Zeigt das, wie sehr das politische System aus den Gleisen ist – auf der einen Seite ein Rechtsextremist, auf der anderen Seite der aussichtsreichste Kandidat sitzt im Gefängnis wegen Korruption? Sie haben das ja auch angesprochen. Das ist ein großes Problem in Brasilien. Trotzdem ist Lula da Silva einer der beliebtesten Politiker.
Claudia Zilla: Richtig. Das Bild, das Sie beschreiben, ist richtig und nicht erfreulich. Lula gehört zu einer Zeit, in der es starken Rückenwind gab. Das heißt, Lula wäre heute bestimmt nicht so erfolgreich wie in der Zeit, an die sich die Leute erinnern und mit der sie ihn verbinden.
Deutschlandfunk Kultur: Das war die Zeit von 2003 bis 2011.
Claudia Zilla: Richtig. Lula konnte profitieren von den Reformen, die Cardozo eingeführt hatte. Er hat zwei Amtsperioden gehabt. Es war die Zeit des Commodity-Booms, der hohen Preise der Rohstoffe auf den Weltmärkten. Und in der Zeit wurde jeder Präsident in Lateinamerika wiedergewählt, egal ob von links oder von rechts, weil es den Volkswirtschaften sehr gut ging.
Diese Zeit ist eine Zeit, die zum Teil mit Lula zu tun hat, aber ja nur zum Teil mit Lula zu tun hat. Und es war auch die Zeit, wo es die Korruption gab, aber zu einem Zeitpunkt, als die noch nicht aufgedeckt war. Das heißt, es ist ein bisschen romantisch, Lula als Symbol einer Zeit zu sehen, die es nicht mehr gibt und die es nicht mehr geben kann und die es nicht mehr geben wird. Interessant ist, dass sein Slogan ist: das Volk wieder glücklich. Dieses 'wieder' ist sehr wichtig.
Deutschlandfunk Kultur: Das erinnert an die alten Zeiten. Und viele haben das ja auch in Erinnerung als eine wirtschaftlich erfolgreiche Zeit und als eine Zeit, in der auch die Armut deutlich vermindert wurde in Brasilien dank umfangreicher Sozialprogramme, die wegen der guten Konjunktur damals auch finanzierbar waren. – Also, ein Verdienst von Lula bleibt?
"Es war eine Zeit der Inklusion"
Claudia Zilla: Es gibt zwei Verdienste. Der eine Verdienst bleibt nur Brasilien insofern, als das nicht nachhaltig war. Und der Verdienst war die Bekämpfung der Armut. Die Zahlen der Armut konnten halbiert werden, aber, wie man sieht, nicht auf eine nachhaltige Art und Weise. Also, es war nicht nachhaltig. Deswegen, der Verdienst im Sinne der Absicht und der Priorisierung der Maßnahmen gilt, aber es wurden gleichzeitig nicht die nötigen Reformen, grundlegenden Reformen gemacht, damit diese bekämpfte Armut sozusagen dauerhaft verschwindet.
Der andere Verdienst, und das ist wichtig im Kontrast zu Bolsonaro ist, dass er so wie Dilma Roussef einen sehr inklusiven Diskurs hatten, eine Politik der Inklusion, wo der Pluralismus in der Gesellschaft auch eine zentrale Rolle spielte und Minderheiten eine Stimme bekamen und eine Anerkennung im politischen Diskurs. Es war eine Zeit der Inklusion.
Und jetzt haben wir eigentlich, wenn man will, eine Reaktion darauf. Das ist der Diskurs von Bolsonaro.
Deutschlandfunk Kultur: Er setzt auf Spaltung.
Claudia Zilla: Ja, zunächst mal die Beleidigungen, die er von sich gibt, betreffen in der Regel Minderheiten. Dann, wenn man sich sein Programm anguckt, Minderheiten spielen gar keine Rolle im Sinne von gesellschaftlichem Ausgleich. Dafür gibt es keinen Platz. Und wenn man sich das Programm von Haddad anguckt, der Kandidat von Lula,…
Deutschlandfunk Kultur: Das ist wiederum quasi der Stellvertreter von Lula, der für ihn kandidiert, weil Lula im Gefängnis sitzt.
Claudia Zilla: Richtig. Und seitdem Lula gesagt hat, das ist mein Kandidat, ist er ständig in den Umfragen gewachsen, während Bolsonaro stagniert und langsamer Stimmen auf sich konzentrieren kann. Das ist ein Programm der Rechten, die Erweiterung von Rechten von Haddad, sage ich jetzt, der Betonung von: Wie wollen wir Minderheiten empowern? Die sind wirklich diametral entgegen, wobei man da ja im Programm nicht sieht, wie er mit der Kriminalität umgehen will.
Deutschlandfunk Kultur: Ein zweites großes Problem, Sie haben das anklingen lassen: Die goldenen Zeiten sind längst vorbei. Brasilien ist in eine tiefe wirtschaftliche Krise gerutscht. 6,5 Millionen Menschen sind arbeitslos geworden in den vergangenen Jahren. Das hat zu großer Enttäuschung geführt. – Was sind die Ursachen für diese Krise gewesen?
Claudia Zilla: Zum Teil, wie gesagt, weil die Reformen nicht nachhaltig waren. Es gab zum Beispiel keine Steuerreform, die notwendig war aus vielerlei Gründen, nicht nur, um die Armen zu entlasten, sondern auch, um die Wirtschaft zu fördern. Die Steuerreform fand nicht statt, auch nicht unter Temer. Das ist ein sehr schwieriges Thema.
Was es gab, war: Man hat versucht, diesen regressiven Effekt auszugleichen mit Sozialprogrammen, Sozialprogramme, die den Konsum gesteigert haben, weil die Leute auf einmal mehr Kaufkraft hatten, und da sie konditioniert waren, war es eine Bedingung, dass die Kinder zum Arzt geschickt werden, in die Schule. Aber diese Schulen, die öffentlichen Schulen, wohin die Armen gehen, sind nicht besser geworden. Das Krankenhaus, wo die Armen hingehen, weil sie keine private Krankenversicherung haben und deswegen nicht eine Klinik besuchen, sondern ein öffentliches Krankenhaus, dieses Krankenhaus ist nicht besser geworden.
Und diese erhöhte Kaufkraft bei einem Markt, wo sie nicht immer die notwendigen ausländischen Investitionen haben und wo die Produktivität nicht gesteigert wurde, das macht aus Brasilien keine kompetitive Wirtschaft.
"Wirtschaft nur in bestimmten Bereichen wettbewerbsfähig"
Deutschlandfunk Kultur: Und daran mangelt es jetzt, an Wettbewerbsfähigkeit?
Claudia Zilla: Ja. Die Produktivität in Brasilien ist nach wie vor sehr niedrig. Die Volkswirtschaft wurde jetzt etwas liberalisiert durch Temer, aber sie ist nur in sehr bestimmten Bereichen wettbewerbsfähig auf der Weltebene. Und in Momenten politischer Instabilität: Weder die einheimischen noch die ausländischen Investoren riskieren da Geld reinzustecken. Das heißt, die politische Instabilität hat auch negative Effekte auf die Wirtschaft gehabt.
Und was man nicht vergessen darf und vielleicht am Anfang hätte nennen sollen, ist die Vergrößerung des Staates. Der Staat ist nicht effizienter geworden, aber immer größer und größer geworden. Am Ende lagen die Ausgaben weit über den Einnahmen des Staates.
Deutschlandfunk Kultur: Deutschlandfunk Kultur, Sie hören die Sendung Tacheles, zu Gast heute Claudia Zilla von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Zilla, wir sprechen über die politische und wirtschaftliche Situation in Brasilien vor entscheidenden Wahlen am morgigen Sonntag. Frau Zilla, Sie haben das angedeutet, ein zentrales Thema ist die Kriminalität im Land. Da sind die Leute enttäuscht, dass da wenig passiert ist. Und da bietet Bolsonaro einfache Antworten, nämlich drastische Polizeigewalt, hartes Durchgreifen. – Ist das Rhetorik oder sind das überzeugende Konzepte, die er hat?
Claudia Zilla: Es sind auf jeden Fall einseitige Konzepte. Bolsonaro sagt: mehr Waffen für Bürgerinnen und Bürger, das Alter für Strafmündigkeit sei zu senken. Er hat sogar gesagt: Ein Polizist, der nicht tötet, ist kein Polizist. Also, ein bisschen freiere Hand für die Polizei. Aber sozusagen mit den Ursachen der Kriminalität, der organisierten Kriminalität oder der Gewalt beschäftigt er sich nicht, weder schriftlich, noch mündlich.
Also, was passiert? Ungleichheit ist normalerweise eine wichtige Quelle oder ein Motor für Gewalt, weniger Armut als Ungleichheit, weil die Ungleichheit, die soziale Ungleichheit als eine sehr ungerechte Situation erlebt wird und zu Frustration führt, aber auch, weil es Leute gibt, die was anderes nicht kennen oder nicht kennengelernt haben.
Es gibt keine präventive Dimension oder keinen Aspekt in seinem Plan, der die Ursachen in den Blick nimmt.
Deutschlandfunk Kultur: Aber trotzdem bekommt er große Unterstützung gerade in diesem Punkt, was vielleicht insofern verständlich ist, wenn man sieht, dass pro Jahr über 60.000 Menschen in Brasilien ermordet werden, mehr als in jedem anderen Land der Welt. Das Gefühl der Sicherheit fehlt den Menschen offenbar.
Claudia Zilla: Offensichtlich. Das sagen die Statistiken, dass die Lage dramatisch ist. Und auch die gefühlte Unsicherheit geht damit einher. Es ist nicht ein erfundenes Gefühl. Das Gefühl ist da und hat eine empirische Grundlage. Das heißt aber nicht, dass das, was er vorschlägt, ein Lösungsansatz ist. Also, heutzutage sind die Gefängnisse schon überfüllt. Wenn das Alter für Strafmündigkeit gesenkt wird, dann dürfen wir mehr Leute im Gefängnis erwarten. Und dann müsste er zumindest noch sagen, wie viele Gefängnisse er bauen will.
Deutschlandfunk Kultur: Der wirtschaftspolitische Star in der Mannschaft von Bolsonaro ist ein ehemaliger Investmentbanker, Paolo Guedes, mit einem ultraliberalen Programm. Er sagt: Staatsbetriebe privatisieren, Steuern senken, dem Markt alle Freiheiten lassen. – Wie kommt das an?
"Für die Leute ist es entscheidend, wie viel Geld sie monatlich haben werden"
Claudia Zilla: Er ist ein Chicago-Boy. Genauer gesagt: Er hat an der Universität von Chicago Master und Doktor gemacht. Er ist extrem liberal. Das ist ambivalent, wie kommt es an? Ich habe zwei Indikatoren, einmal die brasilianische Börse. Der Wert ist gestiegen, seitdem man weiß, klar weiß, dass Bolsonaro vorne liegt. Andererseits, die Ratingagentur Standard & Poor's hat sich ausgesprochen und gesagt: Haddad ist der bessere Kandidat für die brasilianische Wirtschaft, und das damit begründet, dass Bolsonaro wenig Ahnung von Politik und von Wirtschaft hat, dass er ein Outsider ist und dass er kaum ein Team hinter sich hat und dass das das größere Risiko für die brasilianische Wirtschaft ist.
Also, wenn man sich die Wirtschaftsakteure anguckt, da gibt es so ambivalente oder unterschiedliche Reaktionen. Und die Leute, also die Gesellschaft insgesamt, eigentlich hat Brasilien eine sehr protektionistische Tradition, weil Brasilien einen großen eigenen Markt hat, auch dass Brasilien weniger die Welt braucht. Aber trotzdem, ich glaube, für die Leute ist es entscheidend, wie viel Geld sie monatlich haben werden. Wie sieht es mit der Kaufkraft aus und mit den sonstigen Sozialprogrammen? Aber weniger, ob das eine angebots- oder nachfrageorientierte Politik sein wird.
Deutschlandfunk Kultur: Wer unterstützt Bolsonaro? Wo findet er die stärkste Unterstützung? Thema Kriminalität hatten wir, Wirtschaft haben wir jetzt, die Unterstützung von Unternehmensseite. Wo hat er seine treuesten, seine stärksten Anhänger?
Claudia Zilla: Es gibt differenzierte Untersuchungen. Diese zeigen, dass Bolsonaro stark unterstützt wird in den besseren Gesellschaftssektoren, auch dann in den reicheren Regionen Brasiliens, und unter den Leuten, die gebildeter sind. Genau das Gegenteil Haddad: Ärmere Menschen, ärmere Regionen und mit schlechterer Bildung sind mehrheitlich die Unterstützer von Haddad. Und dann ist interessant, dass die Jugend, wenn man sich die Kohorten anguckt, die Jugend unterstützt überdurchschnittlich Bolsonaro.
Ich habe mich gefragt, und das ist nur eine Hypothese, ob die fehlende Erfahrung mit der Militärdiktatur und diese ganze Dimension Menschenrechtsverletzungen, ob das eine Rolle bei der Jugend spielt, dass sie weniger Hemmung haben, so einen Kandidaten zu unterstützen. – Aber es ist nur eine Hypothese.
Deutschlandfunk Kultur: Morgen stehen viele Kandidaten zur Auswahl. Vermutlich wird es noch keine Entscheidung geben, sondern eine Stichwahl, die dann Ende Oktober stattfinden wird. Wahrscheinliche Kandidaten Haddad und Bolsonaro?
Claudia Zilla: Richtig. Ich glaube, dass sie es zum zweiten Wahlgang schaffen, dass keiner von beiden die absolute Mehrheit erreicht und dass es entsprechend eine Stichwahl zwischen den beiden geben wird.
Deutschlandfunk Kultur: Und wer hat dann die besseren Chancen?
Claudia Zilla: Sagen wir mal so: Im zweiten Wahlgang, was ausschlaggebender ist, sind Ablehnungswerte. Die Ablehnungswerte bei Bolsonaro sind höher als bei Haddad, so dass möglicherweise eine Mehrheit sich für das kleinere Übel entscheidet und Haddad unterstützt. Laut Umfragen, wenn man sich diese Werte anguckt, hat jeglicher andere Kandidat in der Stichwahl bessere Chancen als Bolsonaro.
Deutschlandfunk Kultur: Wenn Haddad in der Stichwahl gewinnen würde, heißt das nicht, dass er über eine regierungsfähige Mehrheit im Parlament verfügen würde. Wenn wir jetzt auf die Aussichten schauen, heißt das Stillstand weiter über Jahre hinaus, weil, wir haben einen Präsidenten ohne Mehrheit?
Claudia Zilla: Wir haben immer in Brasilien einen Präsidenten ohne Mehrheit. Deswegen haben wir Koalitionsregierungen. Deswegen die Präsidentschaftskandidaten holen sich oft als Vizekandidat auf dem Ticket jemanden, der einer anderen Partei angehört. Deswegen muss man, heutzutage gibt es 25 Parteien im Kongress. Die Partei von Temer hat sehr wenige Mandate.
Deutschlandfunk Kultur: Das ist der aktuelle Präsident.
Claudia Zilla: Richtig, von Michael Temer, Nachfolger von Dilma Rousseff. Das heißt, es ist üblich, dass a) die Partei des Präsidenten und b) auch die Parteien der Regierungskoalition noch keine Mehrheit haben. Das ist schon eine Tür für Korruption, weil eine Art und Weise Parteidisziplin zu erreichen oder eine größere Zustimmung für die eigenen Gesetze gegen Bezahlungen.
Aber ich sehe, dass es mehr Parteien gibt, die bereit sind, eine Präsidentschaft von Haddal zu unterstützen, als Parteien, die sich offen zeigen für eine Präsidentschaft von Bolsonaro. Aber alle sind sehr vorsichtig, weil, jeder will mit regieren. Und brasilianische Parteien haben eine besondere Flexibilität vor allem in ideologischer Hinsicht, so dass niemand sich deutlich ausspricht für den einen oder anderen Präsidenten dieser Parteien. Aber Schätzungen zufolge gäbe es größere Möglichkeiten, dass Haddal eine größere Mehrheit im Parlament für seine Gesetze erreicht als Bolsonaro.
Deutschlandfunk Kultur: Wir haben mehrfach über die Zerrissenheit der politischen Landschaft in Brasilien gesprochen. Der Ex-Präsident Lula sitzt im Gefängnis wegen Korruptionsvorwürfen. Vor zwei Jahren wurde seine Nachfolgerin Dilma Rousseff abgesetzt. Aus Sicht der Anhänger von Lula und Rousseff handelt es sich hier um eine große politische Intrige, ein politisches Komplott. Es war aus deren Sicht der Versuch, die Arbeiterpartei aus der Regierung wieder zu entfernen. – Ist da was dran? War das der politische Komplott, der jetzt auch für so eine vergiftete Stimmung sorgt im Land?
"Partei von Lula hat kein mea culpa gemacht"
Claudia Zilla: Ich würde das so formulieren: Die Regierung von Rousseff hat diese Unterstützung verloren. Das passiert hin und wieder in der Politik. Man kann das Komplott nennen. Aber wenn man sich den Prozess anguckt, das ist kein Putsch oder keine Verletzung der Verfassung. Nur die Motivation war politisch.
Die andere Sache ist: Das, wofür man sie schuldig erklärt hat, haben viele gemacht. Das heißt, das war kein großes Verbrechen. Das ist nicht legal, diese Beschönigung der Darstellung des Haushalts, der Buchführung des Haushalts. Das war eine sozusagen technische Beschönigung. Das haben viele gemacht. Das darf man nicht. Es ist nicht legal, aber bei ihr hat man das als Grundlage für dieses Verfahren, für die Absetzung genommen.
Deutschlandfunk Kultur: Nun steht die Wahl an. Was muss geschehen, dass das Land wieder zueinander findet, dass diese Gespaltenheit überwunden wird? Oder gibt es dafür keine Anzeichen?
Claudia Zilla: Ich finde problematisch, dass die PT, die Partei von Lula, der Haddad als Kandidat angehört, kein mea culpa gemacht hat, Korruption. Also, ich habe keine Neuerung in dieser Partei, die stark verwickelt war in diese Korruptionsaffäre. Ich sehe das auch nicht in großen Maßen in der politischen Klasse. Ich habe gesagt, das war nicht nur die PT. Andere Parteien haben auch ordentlich mitgemacht. Und da gibt es kein mea culpa, sondern wir haben nur eine Justiz, die ermittelt und bestraft, aber ich sehe nicht die politische Klasse in einem Prozess der Reflektion und der Erneuerung, oder sich selbst in den Spiegel gucken.
Deutschlandfunk Kultur: Also, unter dem Strich, was bleibt da an Hoffnungszeichen? Wer kann Brasilien wieder aus dieser verfahrenen Situation herausbringen?
Claudia Zilla: Ich erwarte keinen Wandel in dem Sinne, vielleicht progressive Verbesserung, was die Justiz macht mit allen Defiziten und Fehlern und mit einigen Aspekten der Politisierung ist nicht schlecht. Ich wünsche mir eine neue Bewegung junger Leute. Die sehe ich in der Form nicht. Wir sehen Leute vielleicht, die demonstrieren oder jetzt wie die Frauen auf die Straße gegangen sind oder eine große Kampagne in den sozialen Medien gegen Bolsonaro. Aber es ist einfacher, Leute gegen etwas zu mobilisieren als für etwas. Und es ist noch schwieriger, diese Leute zu organisieren. Und es noch schwieriger, an die Macht zu kommen in einem politischen System, das nach nicht so guten Regeln funktioniert.
Deutschlandfunk Kultur: Frau Zilla, haben Sie vielen Dank für das Gespräch.
Claudia Zilla: Ich bedanke mich für die Einladung.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.