Wer sind die Kandidatinnen und Kandidaten im französischen Präsidentschaftswahlkampf? Unsere Autorin stellt sie im Deutschlandfunk vor.
Klar ist, dass nichts klar ist
24:50 Minuten
Im April sind in Frankreich Präsidentschaftswahlen. Die Außenpolitik spielte im Wahlkampf bisher kaum eine Rolle. Mit dem Krieg in der Ukraine kann sich das aber ändern. Die Chancen der jeweiligen Kandidaten ist unklar. Fest steht nur, die Linke ist zersplittert wie nie.
„Gehen sie in das Krankenhaus hinter mir! Intensivbetten sind geschlossen, weil wir mitten in der Corona-Krise zu wenig Personal haben!“
Mitte Januar steht Christophe Prudhomme vor einem Pariser Krankenhaus. Der Notarzt demonstriert zusammen mit Kolleginnen und Kollegen gegen die Arbeitsbedingungen.
„Wir sind unterbesetzt. Deshalb hören Leute auf zu arbeiten und die Unterbesetzung verschärft sich. Die, die noch arbeiten, denken nur an eines: aufzuhören. Diese Krise ist schlimm. Es wäre gut, wenn sich die Debatte vor der Präsidentschaftswahl darauf konzentrieren würde, was die Franzosen interessiert: die Gesundheit und die Kaufkraft!“
Seit zwei Jahren hat die Pandemie Frankreich im Griff. Präsident Emmanuel Macron erklärt im März 2020:
„Wir sind in einem Gesundheitskrieg. Wir kämpfen weder gegen eine Armee noch gegen eine andere Nation. Aber der Feind ist da und verbreitet sich unsichtbar und ungreifbar.“
Wahlkampfthema Pandemiebekämpfung
Im Kampf gegen das Virus verhängt Frankreichs Präsident angesichts dramatisch überforderter Krankenhäuser im Frühjahr 2020 einen zweimonatigen harten Lockdown. Im Herbst 2021 setzt die Regierung auf Initiative des Präsidenten eine Impfpflicht für Pflegepersonal durch. Auch strikte Impf- und Testvorschriften für Aktivitäten des täglichen Lebens gehören zum Management der Pandemie. Der Verfassungsrechtler Dominique Rousseau kritisiert diesen Kurs von Emmanuel Macron in der Pandemie.
„Der Präsident hat alleine Entscheidungen getroffen und damit die Gewaltenteilung geschwächt. Seine Beschlüsse hat Macron in einem Verteidigungsrat für die Gesundheit gefällt, der keine echte verfassungsrechtliche Basis hat. Danach hat er sie im Fernsehen verkündet und das Parlament gebeten, zu bestätigen, was er alleine entschieden hat oder mit den Gesundheitsexperten im Verteidigungsrat.“
Ein Vorgehen, das auch viele Abgeordneten der Nationalversammlung ablehnen. Sie fühlen sich an den Rand gedrängt. Die Opposition verurteilt das Management der Pandemie durch die Regierung generell. Jean-Luc Mélenchon von der linken Partei „Unbeugsames Frankreich“ wettert zu Beginn des Jahres im Halbrund der Nationalversammlung:
„Wir sind erbost über dieser Unfähigkeit, etwas im Voraus zu organisieren und von dieser Manie, alles im letzten Moment zu machen. Es war klar, dass es eine zweite Welle geben wird und sogar eine dritte, aber Ihnen war das egal! Und jetzt, wo die vierte Welle kommt, sagen Sie, dass wir besser durch die Pandemie gekommen sind als alle anderen. Sie haben ein unbeschreibliches Chaos verbreitet!“
Macron hat an Profil gewonnen
Auf den Straßen entlädt sich der Unmut über Wochen jeden Samstag bei Demonstrationen. Allerdings hält sich der Protest in Grenzen, erreicht niemals das Ausmaß der Gelbwesten-Bewegung, die im Herbst 2018 das ganze Land lahmlegte. Die strikten Vorschriften in der Pandemie haben auch zu einer hohen Impfquote im Land geführt und dazu, dass Frankreich in den letzten Monaten relativ gut durch die Pandemie gekommen ist. Präsident Macron habe während der vergangenen fünf Jahre – und nicht zuletzt in der Corona-Krise – an politischem Kapital gewonnen, analysiert so auch der Politikwissenschaftler und Meinungsforscher Martial Foucault:
„Die Franzosen denken, dass er ein Präsident ist, dem es gelungen ist – trotz einiger Fehlschläge – die COVID-Krise gut zu managen. Deshalb macht Macron auch Wahlkampf mit dieser Herausforderung: Er zeigt, dass er fähig ist, in einer Krise zu handeln.“
Umfragen für den ersten Wahlgang sehen Macron, der sich noch immer nicht zum Kandidaten erklärt hat als klaren Favoriten. Auch in der Stichwahl hat er Meinungsforschern zufolge gute Chancen, wiedergewählt zu werden. Macron nutzt auch die internationale Bühne, um sich zu profilieren. Die Regierung hat seit dem ersten Januar die europäische Ratspräsidentschaft inne.
Wie wichtig ist den Franzosen Außenpolitik?
Statt diese wegen der Präsidentschaftswahl zu verschieben, prescht Macron mit einem ehrgeizigen Programm vor, mit dem er die EU voranbringen will. Und in der sich zuspitzenden Ukraine Krise besucht er als erster westlicher Staatschef den russischen Präsidenten Wladimir Putin und versucht, in etlichen Krisentelefonaten mit internationalen Staats-und Regierungschefs zu vermitteln.
Umsonst – wie sich nun nach Russlands Angriff auf die Ukraine herausstellt. Der Politikwissenschaftler Bruno Cautrès glaubte bisher nicht, dass Macrons diplomatischer Misserfolg ihm im Wahlkampf schaden wird. Internationale Fragen hätten in Frankreich zwei Aspekte, sagt Cautrès.
„Einerseits interessieren sie die Franzosen nicht besonders. Sie wollen einen Präsidenten wählen, der sich um die Franzosen kümmert. Selbst die europäischen Fragen stehen auf ihrer Prioritätenliste ganz unten. Allerdings legen die Franzosen sehr viel Wert auf das Image des Präsidenten und wollen einen mächtigen Präsidenten mit großem internationalem Status, der die Interessen Frankreichs gut vertritt.“
Menschen plagten bisher andere Dinge
Außenpolitik spielte bisher im Wahlkampf also eine untergeordnete Rolle. Ob sich das in den kommenden Wochen ändert, muss sich zeigen. Die Menschen in Frankreich plagten bis jetzt andere Sorgen.
Ende Januar hat die Gewerkschaft CGT zu Demonstrationen in ganz Frankreich aufgerufen. Unter dem Motto: „Stoppt den sozialen Rückschritt in allen Bereichen!“ fordern auch in Paris Demonstranten Lohnerhöhungen.
„Wir kommen nicht mehr über die Runden! Denn die Löhne steigen nicht. Es gab eine kleine Verbesserung, aber nur um ein paar Euro! So können wir nicht weitermachen! Die meisten von uns müssen Lebensmittel von schlechter Qualität kaufen, um zu sparen.“
So beschwert sich Roumana, Schulbegleiterin für Kinder mit Behinderungen. Die Französischlehrerin Christine, die ebenfalls in der Menge mitläuft, meint:
„Die Löhne sind unwürdig! Ich leiste mir keinen Urlaub außer zwei Wochen in den großen Ferien. Meine Kaufkraft ist geringer als die meiner Eltern, die nicht studiert haben. Das ist nicht normal!“
Sorgen um das Haushaltseinkommen
Der Ökonom Eric Chaney sieht Frankreich angesichts steigender Preise allerdings noch in einer günstigeren Lage als viele andere Länder.
„Die letzten Zahlen, die wir vom staatlichen Statistikamt INSEE haben, belegen, dass die Kaufkraft pro Kopf bis zum vergangenen September um 5,6 Prozent gestiegen ist. Das ist besser als in der Zeit unter Francois Hollande, in der die Kaufkraft gesunken ist. Es ist auch besser als unter Nicolas Sarkozy. Man muss bis zum damaligen Präsidenten Jacques Chirac zurückgehen, um eine solche Steigerung zu finden. Aber jetzt ziehen die Preise für Lebensmittel oder Benzin immer weiter an. Die Menschen nehmen das sehr stark wahr, denn sie merken es jeden Tag.“
Wirtschaftswissenschaftler Chaney stellt Präsident Macron insgesamt ein gutes Zeugnis für die letzten fünf Jahre aus. Macron habe Arbeitsmarktreformen, die schon unter seinen Vorgängern initiiert wurden, fortgesetzt, stellt er fest.
„Der Arbeitsmarkt ist flexibler geworden. Arbeitgeber zögern weniger, jemanden anzustellen, weil es einfacher ist, ihn wieder zu entlassen. Dank dieser Reformen gibt es viel mehr Jobs und die Arbeitslosigkeit ist gesunken. Das ist also ein Erfolg. Was nicht gelungen ist, ist die Rentenreform, die nur zum Teil umgesetzt wurde. Sie wurde auf Eis gelegt wegen der Proteste der Gelbwesten-Bewegung.“
Plan zur Reindustrialisierung
Seine künftigen wirtschaftlichen Ambitionen bündelt Macron in einem Plan zur Re-Industrialisierung des Landes mit dem Titel „Frankreich 2030“. Vor Unternehmern und Studierenden verkündet er im Oktober letzten Jahres Milliardeninvestitionen, die sowohl Industriekonzerne als auch Start-ups unterstützen sollen.
„Wenn wir das Land nicht re-industrialisieren, können wir keine große Nation von Innovation und Forschung werden", so Macron.
Das zugesagte Geld soll auch in Technologien fließen, die die ökologische Wende unterstützen. Um klimaneutral zu werden, setzt Macron vor allem auf Atomkraft.
„Um Energie und vor allem Elektrizität herzustellen, haben wir Glück mit unserem historischen Modell: mit unseren Atomkraftwerken.“
Macron spricht von "nuklearer Renaissance"
Sogar eine „nukleare Renaissance“ kündigt Frankreichs Präsident an. Er will zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder neue AKW bauen lassen. Für sechs neue Druckwasserreaktoren sollen 46 Milliarden Euro fließen. Die Laufzeiten der bereits bestehenden Meiler, von denen einige stark veraltet sind, will Macron über 50 Jahre hinaus verlängern.
So lange die Sicherheit es zulässt, fügt er hinzu. Daneben sollen auch die erneuerbaren Energien ausgebaut werden. Frankreichs Staatschef positioniert sich mit diesen Ankündigungen im Wahlkampf als derjenige, der Frankreichs Unabhängigkeit bei der Energieerzeugung garantiert. Der Ökonom Chaney spricht von einer guten Nachricht.
„Die Ankündigung ist eine enorme Investition in die Atomkraft und die erneuerbaren Energien, um die Wirtschaft zu dekarbonisieren. Dafür muss man in die Branchen ohne CO2 investieren. Und das sind die Atomenergie, die Windkraft und die Sonnenenergie. Ich halte das für einen sehr guten Plan, der das Ziel: Null Emissionen im Jahr 2050 glaubwürdig macht – und vor allem das Ziel, bis 2030 die Emissionen um 55 Prozent im Vergleich zu 1990 zu senken.“
Die politische Rechte dominiert den Wahlkampf
Der Großteil der Menschen in Frankreich steht hinter der Atomkraft, obwohl Fragen der Sicherheit und des Atommülls nicht endgültig geklärt sind. Nur wenige Politiker fordern den Ausstieg – allen voran der Präsidentschaftskandidat der Grünen, Yannick Jadot. Im politisch rechten Lager setzen hingegen alle auf Kernenergie. Und die politische Rechte bestimmt den Wahlkampf.
Auf Platz zwei in den Umfragen wechseln sich derzeit die konservative Valérie Pécresse von „Les Républicains“ und die beiden extrem Rechten Marine Le Pen vom Rassemblement National und der Publizist Éric Zemmour mit seiner neugegründeten Partei „Reconquête“ ab. Pécresse werden zwar bessere Chancen ausgerechnet, gegen Macron eine Stichwahl zu gewinnen.
Aber aktuell stagniert sie in den Umfragen bei um die 15 Prozent – auf einem ähnlichen Niveau wie ihre rechtsextremen Konkurrenten. Es ist also längst nicht ausgemacht, dass sie in die zweite Runde kommt. Bei einer ersten großen Wahlkampfveranstaltung versucht Pécresse vor 6000 Anhängerinnen und Anhängern, ihrer Kampagne neuen Schwung zu verleihen.
„Ich bin diese unbezähmbare französische Frau und ich sage heute: Nichts wird mich aufhalten!“
Wer gewinnt den Kampf um rechte Wähler?
Zwar hatte es Pécresse nach einer parteiinternen Wahl zur Kandidatin zunächst geschafft, die Reihen der Republikaner zu schließen. Mittlerweile aber kämpft sie mit scharfer Kritik aus der eigenen politischen Familie und mit Abtrünnigen, die sich Emmanuel Macron anschließen. Der Politikwissenschaftler Jérôme Jaffré bescheinigt Pécresse ein nur mäßiges Talent, Wahlkampf zu führen.
Ihre Stärke liege in der Regierungserfahrung als ehemalige Ministerin unter dem damaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy und als derzeitige Präsidentin der Region Île de France um Paris. Um in die Stichwahl zu kommen, ziele Pécresse auf die rechten Wähler, sagt Jérôme Jaffré, und vor allem die des extrem rechten Éric Zemmour .
„Sie hat die französische Identität zum Thema gemacht. Die hat Zemmour ins Zentrum des Wahlkampfs um die rechte Wählerschaft gestellt. Zemmour warnt, dass Frankreich verschwinde, Pécresse warnt vor Frankreichs Niedergang. Sie will als Präsidentin Frankreich stärken", sagt Jérôme Jaffré.
Dafür beschreibt Pécresse ein – wie sie sagt – neues Frankreich der Ordnung und Eintracht. Sie gibt sich hart bei den Themen Islam und Einwanderung, die sie begrenzen will.
„Ich verteidige die wahre französische Identität. Denn Frankreich ist keine Nostalgie, sondern eine Energie.“
Für die Konservativen, die über Jahrzehnte immer wieder den Präsidenten stellten, steht bei dieser Präsidentschaftswahl viel auf dem Spiel, analysiert der Politologe Jaffré:
„Die Krise der politischen Parteien betrifft auch die Republikaner. Es geht um die Zukunft dieser politischen Familie. Wenn Valérie Pécresse in der ersten Runde rausfliegt, explodiert die Partei. Sie wird zerlegt werden zwischen einer konservativen, identitären Partei, die Zemmour repräsentieren könnte, und denjenigen, die sich Macron anschließen. Das ist eine bedeutende politische Herausforderung.“
Die Krise der politischen Parteien
Frankreich verliert an Macht, ist geschwächt durch die Fehler, die Eitelkeit und den Zynismus von Emmanuel Macron – so schimpft Marine Le Pen in Reims vor 4000 Anhängern. Die Präsidentschaftskandidatin des Rassemblement National sieht in Frankreichs Staatschef ihren Hauptgegner. Mit keinem Wort erwähnt sie ihren derzeit schärfsten Konkurrenten, Éric Zemmour. Der umstrittene Publizist ist die Überraschung dieses Wahlkampfs.
Zemmour, der über Jahre ein gern gesehener, streitbarer Gast in etlichen Talkshows war, gilt als die intellektuellere, aber auch radikalere Variante eines Nationalismus, für den lange Zeit nur Le Pen stand. In Zemmours Wahlkampfrede, die er vor fast 8000 Begeisterten in Lille hält, spricht er über Wirtschaftspolitik und seine Hauptthemen Einwanderung und Islam, die auch Le Pen groß gemacht haben.
„Man findet bei uns nicht mehr viele Fabriken, aber viele Moscheen. Man sucht Frankreich, aber man findet es nicht mehr. In den 60er-Jahren hatten weniger als ein Prozent der Neugeborenen einen muslimischen Vornamen. Heute sind es 22 Prozent. Wie viele werden es morgen sein? Stellen Sie sich das Ausmaß dieses nie da gewesenen kulturellen und demografischen Wandels vor, den wir durchmachen!“
Eine Frage des politischen Stils
Zemmours offene Radikalität zieht ehemalige Anhänger von Marine Le Pen an. Sogar Le Pens Nichte, die ehemalige Abgeordnete Marion Maréchal, überlegt öffentlich, sich Zemmour anzuschließen. Dass Le Pen trotz hoher Umfragewerte geschwächt ist, begründet der Politikwissenschaftler Martial Foucault so:
„Für Marine Le Pen ist das der dritte Präsidentschaftswahlkampf. Ein Teil ihre Wähler sagt sich: Sie wird die Präsidentschaftswahl niemals gewinnen! Setzen wir also auf einen neuen Kandidaten, der alles auf den Kopf stellt. Und der ein bisschen so auftritt wie Marine Le Pen früher: extrem gewalttätig in seinen Reden. Marine Le Pen hat heute eine Tendenz, sich zu normalisieren. Den Wählern der extrem Rechten geht es aber nicht nur um die Themen, sondern auch um den Stil.“
Dass Zemmour bereits dreimal wegen Aufstachelung zu Hass und Gewalt gerichtlich verurteilt wurde, schreckt seine Anhänger nicht ab. Seit Jahrzehnten bieten die Themen Einwanderung und Integration in Frankreich politischen Sprengstoff. Die Probleme zeigen sich vor allem in den Vorstädten des Landes, den Banlieues. Unter Macrons Amtszeit wurden einige zu sogenannten „Vierteln der republikanischen Rückeroberung“ erklärt.
Das Programm sieht mehr Polizisten und Sozialarbeiter für die problematischen Bezirke vor. Argenteuil im Nordwesten von Paris mit mehr als 100.000 Einwohnern und einem hohen Anteil an Einwanderern ist eine dieser Gemeinden. Im Stadtzentrum reihen sich Blocks von Hochhäusern aneinander, soweit man sehen kann. An einem riesigen, zubetonierten, tristen Platz liegt die „Mission locale“. Die staatlich finanzierte Einrichtung hilft jungen Leuten zwischen 16 und 25 Jahren, wenn sie in Schwierigkeiten sind, erklärt Aldjia Bitam, die stellvertretende Direktorin:
„Sie haben psychische Probleme. Deshalb haben wir einen Psychologen an zwei Tagen der Woche hier. Einige junge Leute haben ein kompliziertes Leben. Es gibt Suchtprobleme, Prostitution und kaputte Familien, die den Kindern keine Orientierung bieten. Vor der Pandemie war es einfacher, sie zu mobilisieren, wenn man ihnen Möglichkeiten bietet. Es gibt Gruppenzwang bei Jugendlichen. Manche sind wütend, werden aggressiv und bilden Banden.“
Wunsch nach Kontinuität in den Sozialprogrammen
Politisch will sich Aldjia Bitam nicht äußern. Aber sie wünscht sich, dass die Sozialprogramme weiterlaufen – wer auch immer die Präsidentschaftswahl gewinnt. An die 3000 junge Menschen begleitet die „Mission locale“ im Moment. Zwei Drittel derer, die Hilfe suchen, könne ihr Team aus der Misere ziehen, sagt Bitam. Vor allem passiert dies durch Ausbildungsprogramme und Arbeitsangebote. Denn auch wer einen guten Schulabschluss hat, tut sich oft schwer, einen Job zu finden, wenn er aus Argenteuil kommt.
„Viertel wie diese hier werden stigmatisiert. Nicht nur die Politiker verbreiten ein schlechtes Image über die schwierigen Bezirke. Die Medien tragen auch dazu bei. Aber hier leben Menschen, die raus wollen und Unterstützung brauchen. Einem Teil unserer Bewohner muss geholfen werden, um Lösungen für ihre Probleme zu finden.“
Während Frankreichs rechte Parteien wieder einmal versuchen, mit den Themen Sicherheit, Einwanderung und Islam auf Wählerfang zu gehen, übt die Linke Kritik an einem zu harten Vorgehen der Polizei, verspricht eine bessere Schulbildung in vernachlässigten Vierteln oder den Kampf gegen Diskriminierung. Keiner der linken Präsidentschaftskandidaten hat laut Umfragen derzeit allerdings eine Chance, in die Stichwahl zu kommen.
Zu viele unterschiedliche Parteien zersplittern Frankreichs linkes politisches Spektrum. Eine Bürgerinitiative wollte die Parteien dazu bringen, eine gemeinsame Kandidatin oder einen gemeinsamen Kandidaten zu wählen. Im Zentrum von Paris sitzen Ende Februar in der oberen Etage eines Hochhauses junge Frauen und Männer an langen Tischen hinter aufgeklappten Laptops oder telefonieren mit ihren Handys. Eine der jungen Aktivistinnen erklärt, wie sie für eine linke Urwahl werben.
„Wir sind draußen präsent oder verschicken Mails. Und wir telefonieren sehr viel, um zu schauen, ob wir Leute überzeugen können, sich für diese Urwahl zu registrieren und abzustimmen.“
Einigungsversuche der Linken
Auf der Dachterrasse nebenan steht Mathilde Imer. Die Klima-Aktivistin hat die Online-Abstimmung mit organisiert.
„Wir haben diese Initiative gestartet, weil wir uns um unsere Zukunft sorgen – um ökologische, soziale und demokratische Fragen. Wenn die Bürger diese Präsidentschaftswahl nicht in die Hand nehmen, wird sich nichts bewegen und wir riskieren, wieder Macron zu bekommen, der bei diesen Themen nicht viel bewegt. Oder es kommt die Rechte beziehungsweise die extrem Rechte an die Macht.“
Knapp 400.000 Menschen stimmen schließlich im Netz zwischen mehr oder weniger bekannten Kandidatinnen und Kandidaten der linken Parteien und aus der Zivilgesellschaft ab. Die ehemalige Justizministerin, Christiane Taubira, gewinnt die Wahl – wenig überraschend. Taubira von der winzigen Parti radical de gauche, gilt als Ikone der Linken.
„Wir werden diese Union zusammen aufbauen!“ – ruft Christiane Taubira unter dem Jubel ihrer Anhängerinnen und Anhänger und verspricht:
„Wir werden den Französinnen und Franzosen wieder Gründe zum Glauben, Träumen und Hoffen geben – einen solidarischen Umweltschutz, soziale Gerechtigkeit, die Emanzipation der Jugend, den Kampf gegen jegliche Diskriminierung.“
Jeder und jede kämpft für sich allein
Aber die anderen Präsidentschaftskandidaten, Yannick Jadot von den Grünen, Anne Hidalgo von der Sozialistischen Partei und Jean-Luc Mélenchon vom „Unbeugsamen Frankreich“ waren von Beginn an gegen die Bürgerinitiative. Niemand will seine Kandidatur zugunsten eines anderen zurückziehen. Anne Hidalgo, die auch und Bürgermeisterin von Paris ist, resümiert Christiane Taubiras Sieg so.
„Das ist jetzt noch eine weitere linke Präsidentschaftskandidatur. Wie ich es auch schon vorher gesagt habe, werde ich meinem Wahlkampf so weiterführen wie bisher.“
Ebenso Yannick Jadot von den Grünen: „Das war eine Urwahl für Christiane Taubira und die hat sie gewonnen. Das ist jetzt eine zusätzliche Präsidentschaftskandidatur und genau das Gegenteil von dem, was die Initiative der linken Urwahl eigentlich wollte.“
Der Politikwissenschaftler Martial Foucault sieht zudem unvereinbare Unterschiede in den politischen Positionen von Frankreichs linken Parteien und urteilt:
„Die Linke bringt sich um. Ihr Unvermögen, eine gemeinsame Kandidatur zu finden, hält die linken Parteien davon ab, die erste Rolle in diesem Wahlkampf zu spielen. Die Linke ist heute immer noch dabei, die Präsidentschaft von Francois Hollande zu verdauen. Der sozialistischen Partei ist es nicht gelungen, die Arbeit zu erledigen, die alle Parteien machen, wenn sie nach einer Amtszeit die Wahl verlieren: eine programmatische, ideologische Arbeit.“
Nach der Präsidentschaftswahl im April wird so aller Voraussicht nach erneut Amtsinhaber Macron in den Elysée einziehen. Oder jemand der politisch Rechten.