Präziser Beobachter der Gegenwart

Von Jürgen König, Hauptstadtstudio-Kulturkorrespondent |
Rainald Goetz ist mit dem Berliner Literaturpreis 2012 der Stiftung Preußische Seehandlung ausgezeichnet worden. Mit dem Preis verbunden ist die Berufung der Freien Universität Berlin auf die "Heiner-Müller-Gastprofessur für deutschsprachige Poetik" an. Der mit 30.000 Euro dotierte Berliner Literaturpreis zeichnet Autoren aus, die mit ihrem literarischen Werk in den Gattungen Erzählende und Dramatische Literatur sowie Lyrik einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur geleistet haben.
Bevor die Preisverleihung mit einem Flötensolo zu Ende gehen sollte, hatte Rainald Goetz aus seinem neuen Roman gelesen, im Juli wird er erscheinen; während des ganzen langen ersten Satzes hustete im Festsaal des Berliner Rathauses niemand.

"Ich lese aus meinem Roman 'Johan Holtrop' und fange am Anfang an. 1. Teil, 1. Als die Winter noch lang und schneereich und die Sommer heiß und trocken waren, da stand der schwarzgläserne Büromonolith sinnlos riesig in der Nacht am Ortsrand von Kröllpa, Kröllpa an der Unstrut; dahinter die Wälder, die Kröllpa nördlich zur Warthe hin abgrenzten, da leuchtete einsam, böse und rot das glutrote Firmenlogo von 'Arrow-PC' oben am Dach über dem düsteren Riesen, aus schwarzem Stahl und schwarzem Glas gemacht, die rote Schrift darüber ein Neubau, so kaputt wie Deutschland in diesen Jahren, so hysterisch kalt und verblödet konzeptioniert wie die meisten Macher, die hier ihre Schreibtische hatten, sich die Welt vorstellten, weil sie selber so waren: gesteuert von Gier, der Gier, sich dauernd irgendeinen Vorteil für sich zu verschaffen, am liebsten natürlich in Form von Geld."
Zuvor hatte Rainald Goetz, nachdem er den Preis aus den Händen des Berliner Staatssekretärs für Wissenschaft, Knut Nevermann, der für den in Indien weilenden Regierenden Bürgermeister Wowereit eingesprungen war, erhalten hatte, nervös, auch gerührt, dem Journalisten und Publizisten Jens Bisky gedankt – für seine Laudatio.

"Ich danke wirklich sehr herzlich Jens Bisky, der die Negativität in einer Weise zum Leuchten gebracht hat, wie ich es einfach unglaublich finde und mich so freue, denn diese Negativität, die die Essenz meiner Arbeit ist, macht es mir auch so schwer, hier zu stehen, und dass diese Dinge so aufgeschienen sind, dafür danke ich Ihnen sehr."

Einfach losloben gehe nicht!, so hatte Jens Bisky begonnen.

Aber: Nicht loben gehe auch nicht – und also hatte es doch Lob gegeben; Jens Bisky hatte Rainald Goetz mit Heiner Müller in Verbindung gebracht, ihn für seine Neugier auf die Gesellschaft der Gegenwart gelobt, für seine Kunst, "dabei zu sein" und den Leser "dabei sein zu lassen": durch eine Sprache "voller Leben" und ohne alles Gekünstelte.

"Kein narrativer Schnickschnack nimmt den Leser an die Hand, lullt ihn ein, der Erzähler bleibt eine Leerstelle. Wer spricht? Mal der, mal jener. Keine Exposition der Figuren und des Schauplatzes, keine halbjournalistisches Spannen der Aufmerksamkeit, keine Geste, die auf Ungeheures, Rätselhaftes hinweist, als fürchte der Erzähler den Leser wieder zu verlieren. Etwas geschieht, und man ist dabei, wie man in einen Club tritt, uneingeladen und willkommen, von zu viel Reizen überfordert und begeistert, denn deswegen ist man ja da. Das klingt dann so: 'Und kam mir in Zeitlupe entgegen. Ich schaute, wollte, ging und dachte. Ich hatte ein angenehmes Gefühl, ich konnte mich ja vielleicht schon entscheiden'."

Zuvor hatte der Vizepräsident der Freien Universität Berlin, Michael Bongardt, Rainald Goetz auf die "Heiner Müller-Gastprofessur für deutschsprachige Poetik" berufen, hatte ihn ebenfalls in eine Traditionslinie mit Heiner Müller gestellt: noch gebrochener, widerständiger, irritierender würde er, Goetz, die Welt und die Gesellschaft sezieren.

"Radikal fragt er nach den Formen und Möglichkeiten eines menschlichen Lebens, das nicht in symbolischen Ordnungen, welcher Art auch immer, aufgehen kann, will und darf. Schmerzhaft deutlich wird im Werk von Goetz dieses prekäre 'Ich', das sich nie auf den Grund kommt, dass sich bei allem Widerstand gegen seine von außen aufgezwungenen und von innen nahelegenden Konstruktionen trotzdem nicht los wird. Dieses 'Ich', dem weder die selbstreflexiven Anthropologien der philosophischen und religiösen Tradition noch die schreibenden Selbstvergewisserungen vergangener Autobiografien eine Hilfe sind, findet im Werk von Goetz einen Ausdruck, dessen Intensität und Irritationskraft ihresgleichen lange suchen müssen."

Vor den Begrüßungsworten von Walter Rasch vom Vorstand der Stiftung Preußische Seehandlung, vor den den Abend eröffnenden Trompeten und Pauken, hatte ein Buchhändler vor dem Eingang zum Festsaal einen Büchertisch aufgebaut; Gäste der Veranstaltung hatten ihm zugesehen und dabei betont, wie sehr sie sich darauf freuen würden, endlich einmal ein Buch von Rainald Goetz zu lesen.