Wie das religiöse Europa geformt wurde
Im Mai 1618 lief in Prag eine Schlägerei aus dem Ruder – mit weltpolitischen Konsequenzen. Protestantische Rebellen forderten von den katholischen Herrschern Glaubensfreiheit. Es bricht ein Krieg aus, der die religiöse Landkarte Europas bis heute prägt.
"Fort damit! Reißt den verfluchten Ketzertempel nieder!" In einer riesigen Staubwolke, begleitet von den Zurufen einer johlenden Menge stürzen Mauern, splittern Fenster. Ein Sturm fegt durch geborstene Wände. Bald liegt der "Ketzertempel", die evangelische Kirche im nordwestböhmischen Ort Klostergrab, in Schutt und Asche.
Einige Wochen später berichtet die "Berliner Zeitung" über die Vorkommnisse in Böhmen: "Unlängst hat man der evangelischen Bürgerschaft zu Klostergrab, dem Prager Erzbischof gehörend, ihre neuerbaute Kirche abgesprochen. Es wurde auferlegt, sie bis auf den Grund abzureißen. Das ist hernach durch päpstliche Personen auch geschehen."
Und zwar unter tatkräftiger Anleitung des Prager Erzbischof Johann Lohelius. "Ein unerhörter Frevel! Eine Verletzung der Religionsfreiheit! Ein Rechtsbruch!" Denn schließlich hatte Seine Majestät, der Kaiser Rudolf II., im Jahr 1609 den evangelischen Ständen im Königreich Böhmen die freie Ausübung ihrer Religion mit Brief und Siegel zugesichert. Und so war 1611 in Klostergrab die erste evangelische Kirche in Böhmen errichtet worden, wenn auch sehr zum Unmut des katholischen Bevölkerungsteils.
Nun aber stellt sich heraus, dass der damals verliehene Majestätsbrief für Rudolfs Nachfolger offenbar das Pergament nicht wert ist, auf dem er geschrieben wurde. Der Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten spitzt sich auch hier zu. Der österreichische Historiker Karl Vocelka: "Das war wirklich eine Riesenkatastrophe der europäischen Geschichte. Der Kaiser wollte ganz Europa rekatholisieren."
Und das in einer bereits hochgradig explosiven Situation. Der Historiker Heinz Duchardt: "Im Heiligen Römischen Reich aus der Zentralregion in Europa ist der konfessionelle Gegensatz das alles Überlagernde damals. Hier die Katholiken, dort verschiedene protestantische Gruppierungen, die Lutheraner, die Utraquisten und die Calvinisten. In dem Jahrzehnt vor Ausbruch des Krieges kann man die Stimmung in Europa nur als krisenhaft bezeichnen."
Weil der Kaiser flieht, trifft es seine Stellvertreter
Auf seiner Prager Burg begreift auch der Kaiser, dass sich etwas zusammenbraut. Der konfliktscheue Habsburger verlässt eilig die Stadt. Ein weiser Entschluss, wie sich am 23. Mai 1618 herausstellen wird. Denn in den Morgenstunden dieses Tages reitet ein Tross von rund 200 bewaffneten böhmischen Adligen zur Burg, um über die antiprotestantischen Vorkommnisse in Klostergrab offiziell Klage zu führen. Sie stürmen in die Kanzleiräume der beiden kaiserlichen Statthalter Jaroslav Martinitz und Wilhelm Slavata.
Nach einem hitzigen Wortwechsel ergreifen die Aufständischen Martinitz und Slavata, reißen einen Fensterflügel auf und – werfen die beiden Repräsentanten habsburgischer Macht hinaus: in 17 Meter Tiefe. Ihren um Hilfe rufenden Sekretär, der sich unter einem Tisch versteckt hatte, zerren sie hervor und befördern ihn ebenfalls schwungvoll in die Tiefe. Alle drei überleben den Fall und landen, wenn auch unsanft, im von Unrat und Gestrüpp überwucherten Burggraben.
Dieser Prager Fenstersturz, der als Posse beginnt, wird zur Lunte am Pulverfass Europa. Er löst einen Krieg aus, der drei Jahrzehnte dauern, Millionen Menschenleben fordern und verwüstete, ausgeblutete Landstriche hinterlassen wird. Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler:
"Dieser Krieg hat ganz zweifellos sehr viel mehr als spätere Kriege, vielleicht mit Ausnahme der beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert, tiefe Spuren in Deutschland hinterlassen."
Ort der Handlung: Ganz Europa. Zeit: Zwischen 1618 und 1648 – nur 100 Jahre nach Beginn der Reformation. Die Personen: Kaiser, Könige, Fürsten, Feldherren, Bischöfe, Kardinäle, Diplomaten, Intriganten. Thema des Dramas: Der Glaubenskampf zwischen Katholiken und Protestanten. Wobei beide Konfessionen zündeln und immer wieder als Brandbeschleuniger agieren. Doch eigentlich, so Münkler, sei dieser Krieg eine Art Schichttorte aus drei unterschiedlichen Konflikten: einem Verfassungskonflikt, einem Konfessions- und einem Hegemonialkonflikt:
"Dieser Krieg beginnt mit einem Verfassungskonflikt. Auch innerhalb des Reiches, aber in Böhmen um die Frage, wer dort das Sagen hat. Die Stände und die Städte oder aber Ferdinand von Steiermark, inzwischen böhmischer König mit gewissen absolutistischen Ansprüchen. Und indem es ein Verfassungskonflikt ist, wird es relativ schnell gleichzeitig zu einem Konfessionskrieg, da in Böhmen nun Lutheraner, Utraquisten, aber auch eine Reihe von Reformierten auf der einen Seite sind und auf der anderen Seite man diesem Ferdinand – der ein religiöser Eiferer war und die Gegenreformation auf seine Fahnen geschrieben hat – nachsagt, er wolle den Katholizismus wieder durchsetzen."
Manche Soldaten wechseln mehrfach die Fronten
Der Fenstersturz zu Prag und das anschließende Eingreifen verschiedener europäischer Nationen lösen eine Dynamik aus, die immer neue Kriege heraufbeschwört: den böhmisch-pfälzischen Krieg, den dänisch-niedersächsischen, den schwedisch-französischen Krieg. So verdichten sich die unterschiedlichen europäischen Konflikte zu einem großen Kampf, so dass schon nach wenigen Jahren Deutschland – in den Worten eines Zeitgenossen – einem Leichentuch gleicht, die Verrohung in- und ausländischer Söldnerheere und die Leiden der Menschen zunehmen. In diesem blutigen Geschehen spitzen sich die konfessionellen Konflikte auch innerhalb der Truppen zu. Herfried Münkler:
"Sicherlich ziehen auch ganz viele in den Krieg zunächst einmal auf protestantischer, respektive auf katholischer Seite. In den ersten Jahren des Krieges kann man das ganz schön beobachten an der Frage im Umgang mit Heiligen. Also die Truppen Tillys kämpfen im Zeichen der Mutter Gottes, während die Protestanten gerne, wenn sie auf Heiligenbilder stoßen, den Heiligen die Augen ausstechen. Aber dann wechseln die auch mal wieder die Fronten; dann sind sie mal hier und mal da."
Ganz sicher war dieser Krieg eine europäische Tragödie. Und doch wird am Abend des 24. Oktober 1648 mit der Unterzeichnung des Friedensschlusses von Münster und Osnabrück ein Abkommen geschlossen, wonach die religiösen Differenzen in unterschiedlichen Konfessionen und die Nationen in völkerrechtlicher Souveränität existieren können. Damit etabliert sich der noch ungewohnte Gedanke, dass von nun an eine konfessionelle und politische Vielfalt Europa prägen wird.